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Brief an die Redaktion
Erheblich längerer Abschied

Otto Braun vor und nach dem »Preußenschlag«. Eine Präzisierung

In Heft 6/2000 der »Berlinischen Monatsschrift« berichtet Kurt Wernicke recht anschaulich über den Hindenburg/ Papenschen »Preußenschlag« vom 20. Juli 1932 und dessen tiefgreifende Bedeutung für das Ende der Weimarer Republik. In einer Hinsicht wird darin (S. 28) jedoch unverdient verkürzt: der Sache nach stimmt es schon, daß der preußische Ministerpräsident Otto Braun (1872-1955) - nach dem seit dem 1. November 1995 immerhin eine Berliner Magistrale benannt ist - am 19. Mai von der Regierung des Freistaates Preußen zurückgetreten sei und sich in die Schweiz begeben habe; nur - beide Vorgänge liegen keineswegs zeitlich so eng beisammen, wie es des Autors verknappter Satz vermuten läßt! Zwischen dem Rücktritt und Brauns Reise in die Schweiz liegen ca. vier Monate, und bis zu Brauns endgültiger Übersiedlung in die Schweiz sogar mehr als ein Dreivierteljahr.

Die aus SPD, Zentrum und DDP (die seit 1930 DSP, d. h. Deutsche Staatspartei, hieß)

bestehende preußische Regierungskoalition hatte allerdings nach den Landtagswahlen vom 24. April 1932 deutlich keine Mehrheit mehr im Parlament des Freistaats - aber für Otto Brauns schlechten Gesundheitszustand bedurfte es des Wahldebakels nicht: seine ohnehin angegriffene Gesundheit, er musste sich mit Rheuma, Gallen- und Kreislaufbeschwerden abplagen, hatte nach den Anstrengungen des Wahlkampfes schon in der Nacht vom 22. zum 23. April gestreikt und Braun mit einem allgemeinen körperlichen Zusammenbruch aufs Krankenlager gestreckt. Vom Krankenbett aus beriet er mit seinen Regierungskollegen die nach der Wahl einzuschlagende Richtung und sah, dass tastende Gespräche über eine mögliche Regierungsbildung aus NSDAP, Zentrum und Deutschnationalen an der Intransigenz der Nazis schon im Ansatz steckenblieben. Darauf war die mit Datum vom 19. Mai dem Landtagspräsidenten (dem des alten Landtags, der ja noch bis zur Konstituierung des am 24. April gewählten amtierte) am 21. Mai zugeleitete Rücktrittserklärung der gesamten Regierung nun nicht ohne Überlegung zugeschnitten: Wenn nach ihrem Rücktritt der neu konstituierte Landtag keine neue Regierung zu wählen im Stande war, dann blieb nur die Lösung übrig, die in etlichen anderen Ländern des Deutschen Reichs bereits angewandt wurde - die Beibehaltung der alten Landesregierung als »amtierendes« Gremium.
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Und so kam es dann auch, als der am 24. April gewählte Landtag genau einen Monat später in seinem Domizil in der Prinz-Albrecht- Str. (heute Niederkirchnerstraße) 5 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentrat: Die Regierungsbank blieb leer, die Minister - allesamt auch Abgeordnete - nahmen inmitten ihrer Fraktionen Platz. Auf einen neuen Landtagspräsidenten konnte man sich gerade noch verständigen - so weit reichte die verinnerlichte parlamentarische Tradition immerhin, dass der stärksten Fraktion dieser Posten zustand. Da die stärkste Fraktion nun einmal die NSDAP war, wurde ihr Kandidat Hanns Kerrl (1887-1941) Parlamentsvorsitzender. An die Neuwahl einer Regierung war angesichts der vielfältigen Blockierungsinteressen der im Landtag vertretenen Parteien allerdings nicht zu denken - die Regierung Braun blieb also »geschäftsführend« im Amt. Und aus dieser verabschiedete sich Braun zunächst einmal - wohl keineswegs unberechtigt - am Abend des 6. Juni zum Antritt eines Krankenurlaubs, wobei er die Amtsgeschäfte des Ministerpräsidenten an den Minister für Volkswohlfahrt Heinrich Hirtsiefer (1876-1941) abgab, der dem Zentrum angehörte und als dienstältester Minister im preußischen Kabinett fungierte.
     Braun verließ Deutschland aber nicht - ja, er verließ nicht einmal Berlin, sondern blieb zum Auskurieren seiner mannigfachen Leiden in seinem Häuschen in Berlin- Zehlendorf, Dessauer Str. 3.
Dorthin brachte am Vormittag des 20. Juli ein Ministerialbeamter das von Reichskanzler Franz von Papen (1879-1969) unterzeichnete, in knappsten Worten gehaltene Entlassungsschreiben, das Braun unter Berufung auf Hindenburgs Notverordnung von seinem Amt als Ministerpräsident des größten deutschen Einzellandes entband. Empört rief der Abgesetzte in seinem Dienstgebäude - dem Preußischen Staatsministerium, Wilhelmstr. 63/64 - an und verlangte seinen Dienstwagen, um trotz seiner Krankschreibung dorthin zurückzukehren und sich dort notfalls an seinem Schreibtisch verhaften zu lassen. Aber dieser Mannesmut vor der Willkür des rechten Gespanns Hindenburg- Papen scheiterte an dem nicht zur Verfügung stehenden Dienstwagen, der angeblich (was wohl kaum stimmte ...) von den Vollstreckern des Usurpators Papen schon beschlagnahmt worden war. So blieb Braun am Tage des »Preußenschlags« zu Hause, brachte aber im Einklang mit allen Mitgliedern der abgesetzten Regierung am nächsten Tag die Klage vor dem Staatsgerichtshof des Reichsgerichts gegen Hindenburgs und Papens Willkürmaßnahme auf den Weg (es war die Preußen- Regierung, nicht - wie /a. a. O., S. 31 / Wernicke schreibt - die SPD, wenngleich diese ihre Anhänger beredt mit der »entschlossenen« Klage vor dem Staatsgerichtshof über ihre Untätigkeit hinwegtröstete!).
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Das so angerufene Gericht signalisierte aber mit seiner Verweigerung einer einstweiligen Verfügung am 25. Juli, dass es sich Zeit ließe. Da die Verhandlung nicht vor Oktober stattfinden würde, trat Otto Braun Mitte August eine schon vor dem 20. Juli gebuchte Kur im österreichischen Bad Gastein an, an die er Mitte September einen Erholungsurlaub am Lago Maggiore im schweizerischen Ascona anschloss. Aber in der zweiten Oktoberhälfte weilte er wieder in Berlin, um das Ergebnis der am 10. Oktober begonnenen Verhandlung der Klage seiner Regierung vor dem Staatsgerichtshof des Reichsgerichts aus nächster Nähe erfahren und kommentieren zu können. Das am 25. Oktober verkündete Urteil ließ dem Reichskommissar Papen und den von ihm eingesetzten Administratoren das Recht, die von ihnen für gerechtfertigt gehaltenen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit durchzuführen (auf deren angebliche Abwesenheit hatte sich ja Hindenburgs Notverordnung vom 20. Juli bezogen) - aber die Regierung Braun behalte ihre staatsrechtliche Stellung gegenüber Landtag (was Gesetzesvorlagen, insbesondere die Budgetvorlage, einschloss), Reichstag, Reichsrat und Reichsregierung.
     Prompt trat daraufhin nur einen Tag später die so auf staatsrechtlicher Grundlage rehabilitierte, aber ihrer realen Macht beraubte Braun- Regierung wieder zu einer ersten Sitzung unter dem Vorsitz ihres »geschäftsführenden«

Das Entlassungsschreiben

 
Ministerpräsidenten zusammen: Als sich das abgesetzte, aber als bestehend anerkannte Gremium am 26. Oktober im Gebäude des Preußischen Ministeriums für Volkswohlfahrt, Leipziger Str. 3 (wo heute der Bundesrat seinen Sitz hat), versammelte, standen hunderte von Menschen ringsumher auf den Fahr- und Gehwegen und applaudierten heftig.

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Noch am selben Tag und am selben Ort gab Otto Braun eine recht beachtete Pressekonferenz, in der er - natürlich - das Urteil des Staatsgerichtshofs als Sieg der der Demokratie verpflichteten Kräfte feierte. Die Regierung, der er vorstand, nannte man seither die preußische »Hoheitsregierung«.
     Die reale Macht lag aber bei den Vertretern der »Reichsexekution« gegen Preußen, und die hatten, wie Wernicke (a. a. O., S. 31) richtig schreibt, ohne Abwarten der Verhandlung vor dem Staatsgerichtshof mit der massenhaften Absetzung von hohen Funktionsträgern aus der Zeit vor dem 20. Juli gravierende Tatsachen geschaffen. Braun war sicher nicht so naiv, in Reichspräsident Hindenburg (1847-1934), der ja die Notverordnung vom 20. Juli erlassen hatte, einen Unparteiischen zu sehen - aber er verlangte bei ihm eine Aussprache mit Papen über die Abgrenzung der Kompetenzen bei Regierungshandlungen im Freistaat zwischen der kommissarischen und der »Hoheitsregierung«. Die fand am 29. Oktober statt und führte zu - nichts! Die Presse spöttelte unter Bezugnahme auf die Namensähnlichkeit des Vertreters der Braun- Regierung im Prozeß vor dem Staatsgerichtshof, Ministerialdirektor Arnold Brecht (1884-1977), mit dem kommissarischen preußischen Innenminister Franz Bracht (1877-1933): »Brecht hat Recht - Bracht die Macht!« Und so war es in der Tat: Otto Brauns Tätigkeit als Chef des machtlosen Machtorgans
des größten deutschen Einzelstaats beschränkte sich in den folgenden Monaten im wesentlichen auf das Präsidieren über die »Hoheitsregierung«, die wöchentlich in der Leipziger Str. 3 in einem ihr gnädig überlassenen Raum zu Kabinettsitzungen zusammentraf, und auf das Schreiben von Briefen an Papen und Hindenburg, in denen er vehement Klage über die Zwangspensionierungen und Zwangsbeurlaubungen hoher preußischer Funktionsträger führte, deren Rücknahme er verlangte. Auch ein nochmaliges Treffen mit Papen am 11. November brachte - absehbar - nichts ein. Die Weimarer Republik präsentierte sich damit auch im Hinblick auf ihren Charakter als demokratischer Rechtsstaat als Auslaufmodell; denn die nur von einer winzigen Reichstagsminderheit getragene Reichsregierung (ganze 42 Abgeordnete hatten am 12. September für das Kabinett Papen gestimmt!) demonstrierte so ungeniert, dass ihr selbst Entscheidungen des Reichsgerichts nichts bedeuteten, wenn sie ihr nicht voll und ganz in den Kram passten.
     Nach dem Sturz des Kabinetts Papen und der Installierung der Reichsregierung des Generals Kurt von Schleicher (1882-1934) am 3. Dezember wechselte die Funktion des Reichskommissars für Preußen zu dem neuen Reichskanzler, und die »Hoheitsregierung« rechnete sich eine Entkrampfung aus.
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Braun schrieb also an Schleicher wegen der aus seiner Sicht endlich fälligen Aufhebung der Notverordnung vom 20. Juli. Ein offizielles Gespräch Schleicher- Braun fand in diesem Sinne am 6. Januar 1933 statt, aber Schleicher stellte nichts dem Entsprechendes in Aussicht, und zwar aus gutem Grund: Er wollte ohnehin für längere Zeit sogar die noch vorhandene leere Hülle des parlamentarischen Systems abstreifen, plante beim Wieder- Zusammentritt des am 6. November neu gewählten Reichstages nach der Weihnachtspause - zum 31. Januar angesetzt - dessen sofortige Auflösung und visierte danach Reichskommissare für alle deutschen Einzelstaaten an. Zutiefst deprimiert resümierte Braun nach dem Gespräch für sich, dass wohl Preußens Rolle als ein Schutzschild der Demokratie in Deutschland ausgespielt sei. Mit Recht charakterisiert Wernicke (S. 31) Preußen nach dem 20. Juli 1932 als »kaum noch eine Schanze für Rückzugsgefechte«: Wie soll man es denn anders bewerten, wenn Otto Braun am 28. Januar 1933 angesichts des ganz offen von Presse und Politikern diskutierten baldigen Verzichts auf den Reichstag zu dem nun wahrlich entschlossenen Mittel griff, an Reichskanzler Schleicher einen Brief zu schreiben, in dem er feststellte, ein solcher Schritt werde dann aber doch die Verfassung verletzen - was den Tatbestand des Hochverrats erfülle; und dagegen möge die Reichsregierung doch bitte einschreiten? Und so stolperte auch die aller Machtmittel beraubte preußische »Hoheitsregierung« unter ihrem Ministerpräsidenten Braun ebenso in das Hitler- Papen- Hugenberg- Reichskabinett, wie alle anderen politischen Kräfte Deutschlands. Letztmals trat Braun am 4. Februar 1933 politisch in Erscheinung, als ein NSDAP- Antrag im Preußischen Landtag zur Selbstauflösung desselben knapp gescheitert war und der misslungene Nazi- Anschlag auf das preußische Parlament im Nachhinein mit dem Art. 14 (1) der preußischen Landesverfassung durchgesetzt werden sollte; der sah als Ersatz für einen Staatspräsidenten ein Gremium vor, das mit der Kompetenz zur Auflösung des Landtages ausgestattet war: das »Drei- Männer- Kollegium« aus dem Ministerpräsidenten, dem Präsidenten des Preußischen Staatsrates und dem Landtagspräsidenten. Da trafen sich auf Einladung von Kerrl Otto Braun und Konrad Adenauer (1876-1967) mit ersterem im Gebäude des Landtages, dem einstigen Preußischen (und jetzigen Berliner) Abgeordnetenhaus, aber voraussehbar lehnten Adenauer und Braun Kerrls Ansinnen ab - für Braun das letzte, für Adenauer eines der letzten Aufbäumen gegen eine diktatorische Nazi- Politik; denn mit der Vereidigung des Reichskanzlers Hitler (1889-1945) am 30. Januar war zugleich der Vizekanzler Papen wieder Reichskommissar für Preußen geworden, und der hatte sofort den Hitler- Intimus Hermann Göring (1893-1946) zum Innenminister seiner Reichskommissar- Regierung gemacht.
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Göring ging gleich in Nazi- Manier vor - wenngleich noch unter Ausnutzung der Weimarer Verfassung: Über Papen luchste er Hindenburg (der die sozialdemokratischen »vaterlandslosen Gesellen«, die nach seiner öffentlich bekundeten Sicht der Dinge 1918 das deutsche Feldheer »von hinten erdolcht« hätten, ohnehin nicht mochte) am 6. Februar eine erneute Notverordnung ab, mit der das Staatsgerichtshofurteil vom 25. Oktober weggewischt und die »Hoheitsregierung« selbst ihres Schattendaseins enthoben wurde. Da lieferte die schattenhafte Braun- Regierung noch ein allerletztes Schattenboxen: Am 7. Februar reichte sie erneut Klage beim Staatsgerichtshof ein - nun gegen die Notverordnung vom Vortage. Und sie traf - obgleich nun auch aus den kargen Arbeitszimmern in der Leipziger Str. 3 verdrängt - unverdrossen wöchentlich zu einer Kabinettsitzung zusammen (zuletzt in einem Weinlokal in der Potsdamer Straße ...).
     Aber die auch von ihm beobachteten Vorgänge seit der Nacht des Reichstagsbrandes und die Schreie, die seither Nacht für Nacht aus einem SA- «Sturmlokal« gegenüber seinem Häuschen in der Dessauer Straße drangen, verstärkt durch eine anonyme Warnung aus der Kanzlei des Reichspräsidenten, dass auch er auf den Proskriptionslisten der Nazis stehe, veranlassten Braun am 2. März mit seiner Frau zur Flucht aus Berlin, die nach zweitägiger Autofahrt quer durch Deutschland an der Schweizer Grenze endete.
Nach deren Überschreiten begab er sich dann allerdings auf direktem Wege in das milde Klima von Ascona, wo er ständigen Wohnsitz nahm. Nach Deutschland kam Otto Braun auch nach 1945 nur gelegentlich zurück, um als Gast an Parteitagen der SPD teilzunehmen.
Günther Schubert

Quellen:
- Vossische Zeitung, 20.-25. 5. 1932
- Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie, Frankfurt- Wien- Berlin 1977
- Schultheß' Europäischer Geschichtskalender 1932 und 1933
- Akten der Reichskanzlei 1918-1933, hrsgg. vom Bundesarchiv
Kabinett Papen, T. II, Boppard 1989
Kabinett Schleicher, Boppard 1986

Illustrationsnachweis:
Die Weimarer Republik. Ihre Geschichte in Texten, Bildern und Dokumenten. hrsgg. von F. A. Krummacher und Albert Wucher, München 1965, S. 363

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 10/2000
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