93   Geschichte und Geschichten Berlin vor 100 Jahren  Nächstes Blatt
Horst Wagner:
Berlin vor 100 Jahren
Neuer Hausherr im Palais Radziwill

»Das Deutsche Reich erlebt zur Zeit ein politisches Ereignis von größter Wichtigkeit«, schrieb der »Berliner Lokal- Anzeiger« an der Spitze seiner Abendausgabe vom 18. Oktober 1900. Seine Majestät, der Kaiser und König, habe »Allergnädigst geruht«, dem Reichskanzler zu Hohenlohe- Schillingsfürst »die nachgesuchte Entlassung aus seinen Ämtern unter Verleihung des hohen Ordens vom Schwarzen Adler mit Brillanten zu ertheilen und den Staats- Minister und Staatssecretär des Auswärtigen Amtes Grafen von Bülow zum Reichskanzler, Präsidenten des Staatsministeriums und Minister der auswärtigen Angelegenheiten zu ernennen«. Bülow war damit nach Bismarck, Caprivi und dem aus Altersgründen zurückgetretenen Hohenlohe- Schillingsfürst der vierte Kanzler des Deutschen Reiches. Er habe, so hieß es im »Lokal- Anzeiger« weiter, durch seine Amtsführung als Außenminister alle Zweifel an seiner Befähigung für dieses hohe Amt widerlegt und sich vor allem als »glänzender Parlamentsredner« erwiesen, »der seine Darstellungen gern durch geistreiche Bilder belebt, der aber auch ... durch seine sachlichen Darlegungen zu wirken vermag«.

Ein paar Tage später nahm der »Lokal- Anzeiger« den Kanzlerwechsel zum Anlass, das Palais Radziwill in der Wilhelmstraße, seit 1878 Amtssitz des Reichskanzlers, seinen neuen Hausherren und nicht zuletzt dessen Gattin, die in Neapel geborene Pianistin Prinzipessa Camporeale, etwas näher vorzustellen. »Eine Künstlerin bezieht das Haus des deutschen Reichskanzlers«, und das sei vielleicht nicht ganz unwichtig. Schließlich sei auch der Kanzler ein kunstliebender Mensch, hieß es da im sentimental- verklärenden Ton. Es wurde an den ersten Hausherren, den »in der deutschen Kunstgeschichte wohlangeschriebenen Fürsten Radziwill«, erinnert, der »vor allem durch das Wagnis einer ersten Aufführung von Goethes >Faust< sich hervorgethan hat«. Unter den früheren Besitzern des Palais fände man »eine Dame, die sogar das Herz Friedrichs des Großen zu rühren imstande gewesen, die Tänzerin Barbarina, späterhin die Frau eines preußischen Geheimrathes«.

»Liebesgaben« für China

Ansonsten wurden die ersten Seiten der großen Berliner Zeitungen auch im Oktober von den Frontberichten aus China dominiert, wo seit Juli deutsche Truppen im Rahmen eines europäischen Expeditionskorps unter Oberbefehl des preußischen Generalfeldmarschalls von Waldersee »wie die Hunnen« (so der Kampfauftrag Wilhelm II.) an der Niederschlagung des »Boxeraufstandes« beteiligt waren.

BlattanfangNächstes Blatt

   94   Geschichte und Geschichten Berlin vor 100 Jahren  Voriges BlattNächstes Blatt
Dabei gab es auch Meldungen wie die vom 23. Oktober über »Liebesgaben für China«, die zu spenden der »Berliner Verein vom Rothen Kreuz und der hiesige Zweigverein des Vaterländischen Frauenvereins« aufgerufen hatten. Als Weihnachtsgaben erwünscht waren »wollenes Unterzeug, Pulswärmer, Portemonnais, Kämme, Bürsten, Uhrketten und Cigarren«. Sie sollten zusammen mit 270 Kisten Pfefferkuchen und einem Doppelwaggon Nüssen am 30. Oktober mit dem Schiff »Irene« von Bremerhaven zu den »jungen Kriegern im Fernen Osten« geschickt werden.

Blitzschnell bei der Polizei

Gleich zu Beginn des Monats stellte die Berliner Kripo ihr neues Foto-Atelier vor. Bisher, so der »Lokal Anzeiger« in seinem zweiteiligen Bericht, sei »die Momentaufnahme der Verbrecher« mittels Blitzlicht in einem kleinen dunklen Raum im Erdgeschoss des Polizeipräsidiums erfolgt. Nun würden »die Kunden des Ateliers« unter sicherer Bewachung mit einem Fahrstuhl in die auf dem Dach des Gebäudes befindlichen Atelierräume gebracht, wo nur bei Tageslicht und »blitzschnell« gearbeitet werde. »Ehe der Aufzunehmende sich niedersetzt ist sein Bild schon auf der Platte.« Die neue Einrichtung erlaube auch die Anfertigung vieler Kopien, die oft an Hunderte von Polizeibehörden versandt werden müssten.

Am Sonntag, dem 7. Oktober, fand im Berliner Landesausstellungspark am Lehrter Bahnhof eine »große gemeinschaftliche Sanitätsübung der Unfallstationen mit den verschiedenen Vereinen der Freiwilligen Krankenhilfe im Felde« statt, die, offenbar der vom Kaiser angeheizten Stimmung entsprechend, recht kriegerisch begann. Es wurde nämlich zuerst in Anwesenheit des Polizeipräsidenten und mehrerer Generalärzte »das Aufsuchen der Verwundeten im Gebüsch und auf dem Schlachtfeld, das Anlegen von Nothverbänden, die Lagerung und der Transport der Verwundeten« geübt. Erst der zweite Teil der Übung diente der »Hilfstätigkeit im Frieden«, u. a. bei einer Kesselexplosion. »Die Zuschauer«, so der »Lokal- Anzeiger« am Schluss seines Berichtes, »folgten den nahezu zweistündigen Vorstellungen mit lebhafter Theilnahme.«

Hochbahn und Ladenschluss

Zu einem Höhepunkt im Berliner Lokalgeschehen dieses Monats wurde der 17. Oktober. An diesem Tag wurde die Überführung der künftigen elektrischen Hochbahn am Halleschen Tor geschlossen. »Es galt, einen der verkehrsreichsten Punkte Berlins zu überbrücken, ohne den Verkehr auch nur für eine Stunde zu unterbrechen.«

BlattanfangNächstes Blatt

   95   Geschichte und Geschichten Berlin vor 100 Jahren  Voriges BlattNächstes Blatt
Eine besondere Schwierigkeit habe sich dabei aus der geringen Höhe der Überführung über dem Straßenniveau ergeben, was den Bau eines Gerüstes über der Straße unmöglich machte. So konnten nur für die den Verkehr nicht behindernden Seitenträger Gerüste aufgeführt werden. Zwischen diesen wurde einer mit seinen Enden über die Fahrbahn reichenden Mittelträger aufgehängt. Ein wichtiger Abschnitt der ersten Berliner Hoch- und U-Bahn- Strecke zwischen Stralauer Tor und Zoologischem Garten (sie ging bekanntlich am 15. Februar 1902 in Betrieb) konnte so fertig gestellt werden.
     Von den Berlinern damals vielleicht noch mehr beachtet die am gleichen Tag, einem Mittwoch, von der Städtischen Gewerbe-Deputation behandelte »Gesetzlich vorgesehene Ausnahmebedingung für den Neunuhr- Ladenschluss«, wozu die Deputation vom Magistrat beauftragt worden war, die letzte Entscheidung aber beim Polizeipräsidenten lag. Jedenfalls ging es um die Festlegung der Tage, »an denen das Offenhalten der Verkaufsstellen bis 10 Uhr abends gestattet werden kann«. Man einigte sich schnell darauf, sich dem Ältesten- Kollegium der Berliner Kaufmannschaft anzuschließen und das vom Gesetz gewährte Maximum - die Freigabe von 40 Tagen - zu fordern. Als Termine für den 22-Uhr- Ladenschluss wurden u. a. empfohlen:
Vier Sonnabende im März, der Tag vor Karfreitag sowie zwei andere Tage vor Ostern, der Tag vor Himmelfahrt, die fünf Tage vor Pfingsten, drei Sonnabende im Oktober, der Sonnabend vor dem Totensonntag, zwölf Wochentage und außerdem fünf Sonnabende vor Weihnachten, der Tag vor Silvester und Silvester selbst.
     Am 9. November fand im Schiller- Theater die Premiere von Hermann Sudermanns Schauspiel »Das Glück im Winkel« statt. Der Rezensent des »Lokal- Anzeigers« lobte u. a. Albert Patry in der Rolle des Freiherrn von Röcknitz. »Die in seinem Inneren lodernde, lange zurückgehaltene Leidenschaft brachte er kraftvoll zum Ausdruck.«
     Am nächsten Tag eröffnete Fräulein Johanna Wellmann ein Töchterpensionat in der Grollmannstraße 33, »dessen sehr zweckentsprechende Räume einen überaus freundlichen Eindruck machen«. Zunächst sollten sieben Pensionärinnen Aufnahme finden sowie »verschiedene junge Mädchen aus Berlin, die an Fortbildungskursen theilnehmen«. Am 15. Oktober wurde in der Brüderstraße 10 die erste Berliner Krankenküche in Betrieb genommen, die über einen »mächtigen, durch Gas geheizten Wärmeschrank« verfügte, »der in langen Eisenfächern zahlreiche Speisebehälter birgt, in denen man auf dem Transport die verschiedenen Gerichte fünf bis sechs Stunden warm halten kann ...
BlattanfangNächstes Blatt

   96   Geschichte und Geschichten Berlin vor 100 Jahren  Voriges BlattArtikelanfang
Der Versand geschieht zunächst durch Dreiradfahrer.« Am 29. Oktober hielt der Kinderarzt Dr. H. Neumann vor der Deutschen Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege einen Vortrag über »Das Schicksal außerehelicher Kinder«, in dem er auf die hohe Sterblichkeitsrate unter ihnen aufmerksam machte und u. a. ein Unterkunftsheim für ledige Wöchnerinnen forderte.
     Schließlich erfuhren die Berliner Zeitungsleser zum Monatsende auch noch, dass in der Armee zurzeit eine Umrüstung erfolgt.
Nachdem die Berliner Gardetruppen auf der Festung Spandau schon das neue Gewehr »Modell 98« erhalten hatten, wurden von verschiedenen anderen Armeekorps fünfzehn Generäle und 45 Regimentskommandeure zu einem Informationskurs über das neue Gewehr an die Infanterie- Schießschule in Ruhleben kommandiert, der Ende Oktober abgeschlossen werde, »und es beginnt dann«, wie der »Lokal- Anzeiger« vermerkte, »die successive Abgabe der neuen Gewehre an die Regimenter«.
BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 10/2000
www.berlinische-monatsschrift.de