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Wolfgang W. Timmler
Zweihundert Liter pro Sekunde

Das Abwasserpumpwerk Seestraße

Unweit der Endhaltestelle der Straßenbahnlinien 23 und 24, wo die Schienen durch den Hain am Eckernförder Platz führen und eine Schleife bilden, steht das neue Abwasserpumpwerk Seestraße. Errichtet wurde der blechverkleidete Betonbau, der mit seiner eigenwilligen Architektur an ein gekentertes Schiff erinnert, zwischen 1995 und 1997 nach den Plänen von Stefan Schroth, der auch an den Entwürfen für das Abwasserpumpwerk Tiergarten in der Gotzkowskystraße beteiligt war.
     Moderne Abwasserpumpwerke werden in die Tiefe gebaut. Nur ein kleiner Teil der Anlage ist von außen sichtbar. Beim Abwasserpumpwerk Seestraße befindet sich der Maschinenraum zwei Stockwerke tief unter der Erde, und der Saugraum ist so angeordnet, dass das Abwasser direkt den Pumpen zufließt. Die Maschinen werden vom Hauptabwasserpumpwerk Charlottenburg gesteuert und überwacht. Die Anlage läuft vollautomatisch, ohne Personal.

Der Neubau befindet sich auf dem Gelände des alten Abwasserpumpwerks, das 1886 in Betrieb ging. Das Abwasser wurde früher zu den nördlichen Rieselgütern Schenkendorf, Müllersfelde, Lindenhof und Schönerlinde gepumpt, heute wird es zum Klärwerk Ruhleben gefördert. Von den Gebäuden des alten Abwasserpumpwerks ist allein noch das Beamtenwohnhaus erhalten. Die alten Maschinenhallen wurden bei der Modernisierung der Maschinen- und Fördertechnik, das heißt bei der Umstellung von dampfbetriebenen Kolbenpumpen auf diesel- und elektrobetriebene Kreiselpumpen, in der Vergangenheit mehrfach umgebaut. Heute stehen die alten Hallen leer und werden demnächst abgerissen.
     Das Abwasserpumpwerk Seestraße ist eines von insgesamt einhundertsiebzig Pumpwerken in der Stadt. Sie alle sind Eigentum der Berliner Wasser Betriebe (BWB) und werden von ihnen direkt betreut.


Abwasserpumpwerk Seestraße 3

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Die Entwässerungswerke nahmen 1878 ihren Betrieb auf. Als städtische Kanalisationswerke waren sie dem Magistrat unterstellt. Erst 1962 wurden sie mit den Wasserwerken organisatorisch verflochten und 1967 in die besondere Rechtsform eines Eigenbetriebes der Stadt überführt. Die Wasserbetriebe erhielten 1994 den Status einer Anstalt des öffentlichen Rechts. 1999 stimmte das Abgeordnetenhaus einer Teilprivatisierung zu. Noch im selben Jahr wurden 49,9 Prozent der Landesanteile für 3,1 Milliarden Mark an ein deutsch- französisches Konsortium verkauft. Berlin trat damit als erste deutsche Großstadt das Wasser- und Abwassergeschäft an drei international tätige Konzerne ab, die auf hohe Gewinne im Handel mit dem Rohstoff Wasser hoffen. Laut einer UN-Studie wird Trinkwasser in fünfzig Jahren wertvoller sein als Gold und strategisch bedeutender als Erdöl.
     »In Berlin bezahlen Sie für einen Kubikmeter Wasser neun Mark, Ver- und Entsorgung wohlgemerkt. Neun Mark ist ein ganz guter Preis«, erklärt der dicke Maschinenschlosser, während er eine Besuchergruppe in den Pumpenraum führt. »Lassen Sie sich von den Zeitungen nicht irritieren. Wir liegen im mittleren Bereich. Für neun Mark kriegen Sie tausend Liter frisches köstliches Wasser. Ich trinke es sehr gerne. Das bekommt mir. Allerdings bin ich nicht davon so dick geworden.«
Berlin erstreckt sich nahezu waagerecht in einer sandigen Ebene, die von niedrigen Anhöhen gesäumt ist. Um ein Abfließen des Abwassers zum Stadtrand hin zu erreichen, muss es künstlich gehoben werden. Aufgrund der besonderen topographischen Lage lässt sich das Stadtgebiet jedoch in unabhängige Entwässerungsgebiete einteilen, von denen jedes über ein eigenes Abwasserpumpwerk verfügt. In Berlin gelangt das Abwasser über das Kanalsystem in freiem Gefälle zum Tiefpunkt eines Entwässerungsgebietes, in diesem Fall zum Saugraum des Abwasserpumpwerks, und wird von dort mittels Maschinentechnik über radiale Druckrohrleitungen zum Stadtrand befördert. Unter der Bezeichnung »Radialsystem« hat James Hobrecht (1825-1902) dieses Entwässerungssystem für Berlin entwickelt. (BM 1/1993) Sein schon seit 1861 fertiger Entwurf wurde wegen politischer Querelen erst ein Jahrzehnt später dem Magistrat vorgelegt, nachdem er am 19. Mai 1869 zum Chefingenieur der Berliner Kanalisation ernannt worden war. In der Zwischenzeit baute er das allererste Radialsystem in Stettin.
     Hobrecht teilte Berlin in zwölf Entwässerungsgebiete ein und schlug vor, die ungeklärten Abwässer auf Rieselfelder am Stadtrand zu pumpen, wo sie landwirtschaftlich verwertet und durch den Boden gefiltert und geklärt dem Grundwasser zugeführt werden sollten.
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Das Regenwasser sowie die gesamten häuslichen und gewerblichen Abwässer einschließlich der Fäkalien sollten in freiem Gefälle zu den Pumpstationen fließen, welche an den tiefsten Punkten der Radialsysteme, möglichst in der Nähe eines Flusses oder Kanals zu errichten waren, um bei starken Regenfällen das Abwasser über Notauslässe in die Wasserläufe leiten zu können.
     Der Hobrechtplan wurde zwischen 1873 und 1907 schrittweise verwirklicht. Im Wedding nahm das Radialsystem X mit dem Hauptabwasserpumpwerk Bellermannstraße 1883 den Betrieb auf. 1886 folgte das Radialsystem IX mit dem Abwasserpumpwerk Seestraße. 1884 wurde Hobrecht zum Stadtbaurat für Straßen- und Brückenbau gewählt. Nach zwölfjähriger Amtszeit stellte er sich aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr zur Wiederwahl und trat 1897 in den Ruhestand. Ihm zu Ehren erhielt 1908 das westlich von Zepernick errichtete Rieselgut den Namen Hobrechtsfelde, worüber die Familie des Stadtbaurates nicht gerade begeistert gewesen sein dürfte. Das Gut umfasste rund tausend Hektar und setzte sich aus Flächen des Rittergutes Buch und Bauernland zusammen. Gemäß dem Hobrechtplan dienten die Rieselfelder dem Gemüseanbau. Ihre Gesamtfläche belief sich auf sechzehntausend Hektar. Die ersten Rieselfelder wurden auf den Rittergütern Osdorf und Friederikenhof im Süden Berlins angelegt.
     Die zunehmende Belastung der Rieselfelder mit Abwässern führte schließlich dazu, dass auf biologische Abwasserreinigung in Klärwerken umgestellt wurde.

Schalttafel im Abwasserpumpwerk Seestraße 3

1931 nahm die Kläranlage Stahnsdorf den Betrieb auf, ihr folgte 1935 die Kläranlage Waßmannsdorf. Während des Zweites Weltkrieges ruhte der Klärwerksbau. 1963 ging das Klärwerk Ruhleben in Betrieb, 1968 folgte das Klärwerk Falkenberg, 1974 das Klärwerk Marienfelde und 1976 das Klärwerk Münchehofe.
     Wenn man sein Geschäft verrichtet hat und die Spülung betätigt, dann ist es weg, sagt der dicke Maschinenschlosser. Hier kommt es an, zur Zeit mit zweihundert Litern pro Sekunde. Eine Badewanne fasst ungefähr hundertfünfzig Liter, das heißt, pro Minute geben wir etwa sechzig bis siebzig Badewannen ins Klärwerk Ruhleben, nur um mal zu veranschaulichen, wie viel Abwasser dem Pumpwerk hier zuläuft.

Bildquelle: Archiv Autor

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 10/2000
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