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Andreas Pretzel/ Gabriele Roßbach
Wegen der zu erwartenden hohen Strafe.

Homosexuellenverfolgung in Berlin 1933-1945

Kulturring in Berlin e.V., Hrg. Verlag rosa Winkel, Berlin 2000

Ein bedrückendes Thema, dem sich Gabriele Roßbach und Andreas Pretzel in mühevoller Kleinarbeit und mit großem menschlichem Engagement mehrere Jahre stellten: die Verfolgung der Berliner Homosexuellen durch den nationalsozialistischen Terrorapparat von 1933 bis zum Mai 1945. 2 046 Strafakten des Landgerichts Berlin gegen 3 040 Beschuldigte wurden systematisch ausgewertet und über 17 000 Ermittlungsfällen der Staatsanwaltschaften nachgegangen. Mit dieser Publikation wird erstmals eine Regionalstudie vorgelegt, die auch die Verfolgung während der Kriegsjahre einschließt.
     Herausgeber und Autoren bemühten sich, die Ergebnisse der historischen Studien in den Kontext nicht nur der Geschichte der NS-Zeit einzubetten, sie stellten dem Buch ein Geleitwort des bekannten Historikers und Publizisten Günter Grau voran, in dem die unterschiedlichen Haltungen zur und Herangehensweisen an die Homosexualität und an das Thema der NS- Verfolgung der Homosexuellen in der DDR und der alten Bundesrepublik knapp dargestellt wird. Wenn auch in der DDR schon 1950 die verschärfte Rechtsprechung der Nazis zum § 175 aufgehoben wurde, damit 19 Jahre früher als in der BRD, so blieb aber die Aufarbeitung des Gegenstands der NS- Verfolgung der Homosexuellen und die gleichberechtigte öffentliche Anerkennung jener Opfergruppe bis 1989 ein gesellschaftliches und politisches Tabu.

In der Bundesrepublik konnte die Diskussion zu diesem Thema zwar öffentlich geführt werden, ein schrittweiser Abbau der breiten gesellschaftlichen Blockadehaltung zu diesem Thema war erst Ende der siebziger Jahre möglich.
     Publikationen, Ausstellungen, Theateraufführungen haben in den letzten beiden Jahrzehnten zur erhöhten Sensibilisierung der Gesellschaft beigetragen, vor allem haben sie Geschichtswerkstätten und Einzelpersonen zu Studien und Archivrecherchen ermutigt, den Einzelschicksalen homosexueller Frauen und Männer und ihrer kollektiven Verfolgung in der NS-Zeit nachzugehen.
     Günter Grau hebt das besondere Verdienst der Publikation auch unter methodologischem Aspekt hervor: Die sozialgeschichtliche Analyse der Praktiken aller an den Verfahren beteiligten Personen, also der Ermittler, der Anklagevertreter, der Zeugen, der Beschuldigten, der Gutachter und der Richter; wie Grau schreibt - die »Dekodierung« zeitgeschichtlicher Zusammenhänge.
     Die Veröffentlichung besteht aus drei Hauptteilen. Die sechs Abschnitte des Teils »Strafverfolgung« analysieren minutiös die Aktenlage von der Anzeige und Denunziation bis zur Strafverbüßung im Konzentrationslager über die Details der polizeilichen Ermittlungen, der Verhöre bei Gestapo und Kriminalpolizei und der Prozesse vor den Berliner Gerichten. Den Teil beschließt ein Aufsatz zur Statistik der Strafverfolgung.
     Erschreckend und bedrückend in diesem ersten Teil der Studie das Alltägliche der Verfolgung, das Ausmaß der Denunziationen und der geschäftsmäßigen Routine der Behörden und vor allem die menschenverachtende Sprache, die in den Wortprotokollen nachlesbar gemacht wurde.
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Im zweiten Teil werden 17 Einzelschicksale vorgestellt. Hervorzuheben die Auswahl aus der Gesamtheit des Materials - vom SS- Gruppenführer über den Gerichtsassessor, der sich rechtzeitig ins Ausland absetzen konnte, den Gymnasiallehrer bis zu denjenigen Männern, die noch in den Nachkriegsjahren um ihre Rehabilitation kämpften oder gar nur um »Gnade« bei den zuständigen Bundesbehörden baten.
     Die Einzelschicksale konnten durch die Verfasser aus den Aussagen der Beschuldigten und Zeugen, aber auch aus persönlichen Dokumenten, Fotos, Briefen rekonstruiert werden, die sich als »Beweismaterial« in einem Teil der Akten fanden.
     Gerade für die in diesen Abschnitten des Buches nötige aufwendige Arbeit und für die deutlich sichtbare Sympathie mit den Opfern der gnadenlosen Verfolgung verdienen Herausgeber und Bearbeiter Dank und Anerkennung.
     Schließlich im Teil III die Treffpunkte der »Szene«, von Carola Gerlach, herausgearbeitet aus den polizeilichen Unterlagen und den Gerichtsdokumenten. Die Tabellen »Notierungen homosexueller Verkehrslokale« in herausgezogenen Stadtbezirken, Stadtvierteln und Ausflugsgebieten (ab Seite 312) lassen den Umfang für ganz Berlin ahnen. Bemerkenswert die spezifische Darstellung im Abschnitt zum Viertel »nördlich des Alex«, zum »wilden Norden«, darin eingeschlossen das sogenannte »Scheunenviertel«.
     Von hohem Wert für den Leser ist der umfängliche Anhang - der wissenschaftliche Apparat, die Gesetzestexte, Begriffserklärungen, eine ausführliche Chronologie der NS- Strafverfolgung, eine Literaturempfehlung und das Personenregister.
     Dieter Weigert
Klaus Wilczynski
Auf einmal sollst du ein Fremder sein

verlag am park, 1998

Da kommt einer nach zehn Jahren zurück in seine Stadt. Man schreibt das Jahr 1947, und er findet diese Stadt so vor, wie es Brecht sarkastisch in seinem Arbeitsjournal notierte: Berlin, ein Trümmerhaufen bei Potsdam. Es ist die Stadt seiner Kindheit, aus der er sich, Sohn eines jüdischen Zahnarztes, auf einem Schiff nach England gerettet hat.
     Klaus Wilczynski, Jahrgang 1920, nennt sein Buch eine Berliner Familiengeschichte. Er erzählt sie so humorvoll und spannend, dass man unversehens auf der letzten Seite angekommen ist. Kindheit und Jugend werden beschrieben, nur 17 Jahre, aber es entsteht ein so eindrucksvolles Bild der 20er und 30er Jahre in Berlin, wie es in keinem Geschichtsbuch zu finden ist. Deshalb wünscht man dem Buch viele - vor allem auch junge - Leser.
     Wie erlebt ein echter Berliner Bengel aus jüdischem Elternhaus den heraufziehenden Faschismus? Zunächst gar nicht. Er albert mit seinem Vater herum, den er Ali nennt. Dieser lustige und lebensfrohe Ernst Wilczynski, der mit einem Knacks aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekommen ist, erzählt schon dem knapp Dreijährigen von den Schrecken dieses Krieges. Aber der vielbeschäftigte Zahnarzt, der in Inflationszeiten trotzdem wenig Geld für die Familie verdienen kann, unternimmt mit dem Sohn auch all die Streifzüge in die Stadt, die Männer- und Jungenherzem höher schlagen lassen. »Wir erkletterten die Siegessäule, trabten stundenlang durch das Verkehrsmuseum mit seinen blitzenden Maschinen, bestaunten die Schiffe im Museum für Meereskunde, streichelten die Saurier im Naturkundemuseum und standen ehrfurchtsvoll vor den ägyptischen Mumien auf der Museumsinsel.

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Für alles und jedes hatte Ali eine Geschichte, etwas Lustiges, eine eingängige Erklärung bereit. Auch ins Zeughaus führte er mich, um dort im Angesicht von Preußens Gloria, altertümlichen Kanonen und monarchistischer Reliquien die Aufmerksamkeit seines Sohnes auf die Kehrseite der Medaille zu lenken.« In vielen Details wird das Berlin der 20er und 30er Jahre lebendig, der Potsdamer Platz mit seinen vielen Straßenbahnen, das besondere Pflaster der Schlossbrücke, die ersten Motorrad- Taxis, das durchs Kraftwerk Klingenberg beheizte Freibad, die Leuchtreklamen auf dem Kurfürstendamm.
     Der Bengel Klaus mag die Schule nicht, was nicht nur daran liegt, dass im Jahr seiner Einschulung, 1927, noch kräftig der Rohrstock geschwungen wird. Es sind die lustlosen Pauker, die ihm die Lust an der Schule verderben. Schon nach drei Wochen fasst er den Entschluss, die 7. Volksschule in der Joachimsthaler Straße zu verlassen, hält dann aber doch vier Jahre aus, um dann in das Kaiser-Friedrich- Reform- Realgymnasium umgeschult zu werden. Zahnarzt wie der Vater soll er werden. Zu dieser Zeit demonstrieren vor »Rollenhagen« am Tauentzien die Arbeiter mit Schildern »Wir haben Hunger«, Mutter Lucy tritt der Roten Hilfe bei und fortan isst täglich ein Mädchen bei ihnen zu Mittag. Aus dem Bengel wird ein aufmerksam die Umwelt registrierender Junge. »Vor dem Ufa-Palast, am Bahnhof Zoo, standen die Zeitungsverkäufer... Und mittendrin die Verkäufer der >Roten Fahne< und des >Angriff< von Joseph Goebbels. Standen sich gegenüber, der Kommunist und der Nazi, brüllten die Neuigkeiten ihrer Blätter hinaus. Mit gesenkten Köpfen wie zwei kampfwütige Stiere rückten sie immer näher aufeinander zu. Schon flogen die Fäuste.« Kaum halbwüchsig ist er so politisiert »wie alles um mich herum. Wie Berlin, wie die Schule, wie meine Mitschüler, wie die ganze Familie.« Als die Mutter sich einem Kreis intellektueller Sympathisanten der Kommunisten anschließt, ist nur einer aus der Familie dagegen, Vater Ali. Von den Flugblättern, die sie mit ihren »Teegästen« verfasst und dann verteilt, weiß er nichts.
Klaus W. bekommt ein Fahrrad, wird sportlich und Mitglied des Sportclubs Charlottenburg. Hier fühlt er sich aufgehoben und trainiert begeistert. Wie ein Keulenschlag trifft es ihn, als ihm nach dem 1. April 1933, dem Tag des »Judenboykotts«, bedeutet wird, für ihn, den Judensohn, sei in einem deutschen Klub kein Platz. Es ist seine erste Erfahrung, ausgegrenzt zu sein. Ziemlich schnell wachsen dann die unsichtbaren Mauern um ihn auf dem Gymnasium, auf dem er - im Gegensatz zu vielen anderen jüdischen Mitschülern - nur bleiben darf, weil sein Vater Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg war. Keiner der Schüler beleidigt ihn, dennoch gehört er nicht mehr dazu.
     1936 stirbt der Vater. »Nun war ich allein mit meiner Mutter, und es war einsam, und wir mussten sehen, wie wir zurechtkamen, und Mutter muß es geahnt haben, daß viele, die da noch lebten, bald tot sein würden. >Du mußt Deutschland verlassen<, sagte sie. >Schnell. Einer muß überleben.< «
     Mit dem Tag, an dem er auf der »Europa« den Bremer Hafen in Richtung England verlässt, beendet Klaus Wilczynski sein Buch nicht. Im letzten Kapitel zitiert er aus Briefen seiner Mutter: »Bericht an Cousine Käthe Rosenberg nach Cochabamba - Bolivien - aus der Nazizeit von 1939-45 (Krieg, Judenvernichtung).« Ein Bericht über die Toten und Ermordeten der Familie.
     Klaus Wilczynski erzählt seine Familiengeschichte ohne künstliche dramatische Effekte. Die kleinen Begebenheiten sind es, die sich zu einem großen Thema fügen. Schülerstreiche und Familienfehden, Verlust des Freundes, dessen Familie auswandert, Wünsche und Vorstellungen eines Heranwachsenden, der sein Ausgegrenztsein schmerzhaft zur Kenntnis nimmt und dann begreift, dass es um sein und das Leben vieler Menschen geht. Unaufgeregt und heiter berichtet Wilzcynski, gerade dadurch nimmt er den Leser gefangen.
     Jutta Arnold
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Hermann Simon
Das Berliner Jüdische Museum in der Oranienburger Straße

Verlag Hentrich & Hentrich, Teetz 2000

Nur knapp fünf Jahre existierte das Berliner Jüdische Museum in der Oranienburger Straße, neben der Neuen Synagoge gelegen. Unmittelbar vor der Errichtung der NS- Diktatur, am 24. Januar 1933, nach langwierigen Vorbereitungen eröffnet, besaß die bereits im Ersten Weltkrieg von Moritz Stern aufgebaute und danach systematisch durch Vermächtnisse, Schenkungen und Ankäufe erweiterte Kunstsammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin zahlreiche Kultgegenstände, Gemälde, Grafiken, Plastiken, Münzen und Medaillen sowie Dokumente aller Art. Während des Novemberpogroms 1938, als die Neue Synagoge dank des beherzten Eingreifens des Polizeioffiziers Wilhelm Krützfeld der Vernichtung entging, wurde das Museum geplündert. Was aus den Sammlungen geworden ist und ob Stücke auf dem internationalen Kunstmarkt verkauft wurden, wie bereits während des Zweiten Weltkriegs behauptet wurde, ist angesichts fehlender Unterlagen nicht zu klären.
     Mit dem Überfall und der Plünderung erlitt die Sammlung ein jähes Ende, wie Hermann Simon, der Direktor der Stiftung »Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum« schreibt.
     1979 war der Verfasser in der Berliner Stadtbibliothek auf ein unvollständiges Exemplar des zur Eröffnung der Sammlung erschienenen »Führers durch das Jüdische Museum« gestoßen, daraufhin sammelte er systematisch alle erreichbaren Nachrichten über dieses und fasste 1983 erste Ergebnisse in einen Aufsatz zusammen.

Das Thema fand auch im Westteil der Stadt Interesse, und so kam es, dass nach Überwindung bürokratischer Hürden auf beiden Seiten der geteilten Stadt, wie Simon betont, ein Historiker aus Ostberlin die Festschrift für eine Veranstaltung in Westberlin schrieb. Übrigens einer jener Fälle, wo es noch vor der Öffnung der Mauer auf »fachlicher Ebene« wie etwa im Museumswesen oder der Denkmalpflege zu deutsch- deutscher Zusammenarbeit kam.
     Als Buch erschienen Simons Untersuchungen 1988 im Union Verlag, doch damit hatte es der Verfasser, bis zu seiner Berufung in die Stiftung »Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum« wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Münzkabinett, nicht bewenden lassen, sondern weiter geforscht, so dass er jetzt weiteres Material über das Schicksal des Museums und einzelner seiner Sammlungsstücke mitteilen kann, dessen Bestände auf eine von dem Dresdner Juwelier Albert Wolf (1841-1907) der Jüdischen Gemeinde Berlin testamentarisch vermachte Kunstsammlung zurück gehen. Generell stellt Simon fest, die Geschichte der Berliner Jüdischen Gemeinde, die zu den bedeutendsten in Europa gehörte, sei bisher noch nicht geschrieben worden, sie werde gewiss noch lange ein Desideratum bleiben, da die Aufgabe die Möglichkeiten eines einzelnen übersteigt. Überdies sei viel Material verloren gegangen, der Rest sei über die ganze Welt verstreut. Die vorliegende Museumsgeschichte sei ein kleiner Beitrag zur Erforschung der jüdischen Einrichtungen in der Stadt.
     Dass Zeugnisse jüdischer Kultur und Kunst systematisch gesammelt wurden, ist eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts, an dessen Ende in verschiedenen Städten des In- und Auslands schon erste Ausstellungen veranstaltet wurden.
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   215   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattArtikelanfang
Bei all diesen Aktivitäten spielte stets die Frage eine Rolle, was unter jüdischer Kunst zu verstehen sei. Den Begriff nennt Simon schillernd, um dann zu fragen: »Sollen darunter nur jüdische Sakralbauten, Kultgegenstände oder bildkünstlerische Darstellungen jüdischer Sujets verstanden werden, gleichgültig, ob ihre Schöpfer Juden oder Nichtjuden waren? Oder begreift man als jüdische Kunst die wie immer gearteten Werke jüdischer Künstler, ohne zu berücksichtigen, ob thematisch ein Bezug auf das Judentum vorliegt, so daß beispielsweise eine von einem Juden gemalte dänische Landschaft in den Kontext der jüdischen Kunst gehörte?« Leider enthält sich Simon einer Antwort, weil er die »Unschärfe des Begriffs« nicht durch eine eigene Definition beheben, »sondern ihn im weitesten Umfang, der möglich ist, verstanden wissen (will), da dies der Konzeption des Jüdischen Museums adäquat ist«.
     Nach einer Schilderung der nicht eben glänzenden Anfangsjahre der unter dem Namen »Wolfsche Stiftung« firmierenden Kunstsammlung der jüdischen Gemeinde erfährt der Leser von Mühen, mit Hilfe bekannter Persönlichkeiten wie Max Liebermann oder Arnold Zweig ein regelrechtes Museum zu gründen und in ihm auch neue jüdische Kunst zu sammeln. Raumnot und Geldmangel behinderten längere Zeit ein Erblühen der Sammlung, doch haben die Verantwortlichen sich davon nicht entmutigen lassen und gingen gegen »herrschende Interesselosigkeit« an, wie Simon schreibt. Die Gründerväter des Jüdischen Museums waren überzeugt, dass die Sammlung für den Zusammenhalt »unserer eigenen Menschen« von unschätzbarem Wert ist. »Es müsste aber gleichzeitig die Einstellung der Nichtjuden zu Juden und Judentum ganz wesentlich beeinflussen können, da ja die mangelnde Kenntnis jüdischen Lebens eines der stärksten Motive der antijüdischen Haltung immer war und noch ist«, heißt es in einem Aufsatz von 1928 über die Notwendigkeit, den Untergang alter jüdischer Kulturgüter aufzuhalten.
Nach der Errichtung der NS- Diktatur existierte das Jüdische Museum zwar weiter und war im Berliner Kulturleben durch Ausstellungen und andere Aktivitäten präsent, wie die von Simon ausgewerteten zeitgenössischen Berichte und auch Zahlen über Besucher belegen. Doch waren seine Entfaltungsmöglichkeiten und seine kulturelle Ausstrahlung stark eingeschränkt. Hinzu kam, daß politisch missliebige Künstler als entartet und jüdisch eingestuft wurden, was dazu führte, sich hilfesuchend auch an das Museum zu wenden. Allerdings grenzte sich die Museumsleitung von »Strebern und Nichtskönnern« ab, die unter Berufung auf ihre Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft Berücksichtigung verlangten, die sie niemals früher zu beanspruchen gewagt hätten. Soziale Künstlerfürsorge und sinnvolle Kunstpflege seien zwei grundverschiedene Angelegenheiten, sobald man sie verwechselt oder durcheinander mengt, werde Unfug gestiftet, schrieb der Kunstkritiker Max Osborn, einer der Mitbegründer des Museums, im Jahr 1935.
     Die zwangsweise Schließung des Museums drei Jahre später war nicht sein unwiderrufliches Ende gewesen, vielmehr werden die von ihm ausgehenden Impulse in der heutigen Stiftung Centrum Judaicum und vom Jüdischen Museum im Berliner Libeskindbau aufgegriffen und weitergeführt, lautet Simons hoffnungsfrohes Facit auf ein Weiterleben der traditionsreichen Sammlung. Ob Stücke, die als verloren gelten, irgendwann wieder auftauchen, wird sich zeigen. Das Buch nennt Beispiele für solche Überraschungen, und vielleicht hilft sein Erscheinen, das eine oder andere Kunstwerk oder Kulturgut als in die Oranienburger Straße gehörig zu identifizieren.
     Helmut Caspar
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 9/2000
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