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Hans Biereigel
Schweigen ist Gold - Reden Oranienburg

Zur Geschichte des ersten Konzentrationslagers der Nazis in Preußen

Im be.bra verlag berlin.brandenburg erschien im Frühjahr dieses Jahres in der Reihe Märkische Landschaften der Bildband ORANIENBURG. Ein Kapitel dieses Buches trägt die Überschrift » Einer der übelsten Orte der Welt «.1) Eine Einschätzung, die aus der Feder des großen deutschen Humanisten Heinrich Mann, stammt. Der aus Hitlerdeutschland emigrierte deutsche Schriftsteller Heinrich Mann war es, welcher das Geleitwort zu dem in der Verlagsanstalt Graphia, Karlsbad, erschienenen authentischen Bericht eines aus dem Konzentrationslager Geflüchteten, verfasste. Es waren die Erlebnisse des gewählten Abgeordneten des Deutschen Reichstags der V., VI., VII. und VIII. Wahlperiode, des deutschen Sozialdemokraten Gerhart Seger. Ihm gelang nach sechs Monaten KZ-Haft in Oranienburg die Flucht aus diesem Lager. Im Auftrage des nach Prag emigrierten Parteivorstandes der SPD begann Gerhart Seger unmittelbar nach seiner wiedererlangten Freiheit mit der Niederschrift seiner Erlebnisse und Erfahrungen in Nazideutschland.

Heinrich Mann kam der Bitte der deutschen Sozialdemokraten nach und schrieb das Geleitwort. Es ist schon erstaunlich, dass fast 70 Jahre später viele seiner Worte nichts an Bedeutung verloren haben. Ein Nachdenken lohnt sich auch nach 70 Jahren, wenn Heinrich Mann schrieb:
     »Sie haben im Konzentrationslager Oranienburg körperlich und seelisch gelitten, und alles wurde Ihnen zugefügt von Wesen mit Menschengesicht, denen Sie nichts Böses getan hatten, denen Sie vielmehr, nach Ihrer Gesinnung und Ihren Kräften, ein besseres Leben hatten bereiten wollen.
     Vielleicht noch trauriger war es, als Sie sogar unter Ihren Leidensgefährten, den Opfern derselben Peiniger, noch Feinden, ja Verrätern begegneten.
     Das müssen beschämende, erdrückende Erfahrungen gewesen sein für jemand, der, wie Sie, ein gewisses Maß von Vertrauen gesetzt hatte in die Gattung Mensch, in die Gesellschaft der Deutschen.
     Es wäre schon furchtbar genug, wenn in einem Lande, das wir für das unsere hielten, feindliche Orte wie der von Ihnen verlassene bestehen, wenn sie von den Regierungen aufrechterhalten und von der Nation geduldet werden. Ein ganzes Volk wird in Schrecken gehalten, es wird durch Schrecken entsittlicht und verbraucht. Die Unsittlichkeit derer, die es beherrschen, liegt offen zutage: das sind Schwindler, Lügner, Mörder an Leibern und Seelen, es sind stumpfe oder freche Verächter der Menschennatur, auch ihrer eigenen.
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Indessen ist es schließlich genauso erniedrigend, Unrecht zu dulden wie Unrecht zu tun.« 2)
     Es gibt nur wenige Städte in unserem Lande, die eine solche blutbefleckte jüngere Vergangenheit aufweisen, wie Oranienburg.
     Ein Ort, auf den die Deutschen eigentlich stolz sein müssten. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sahen viele der damals Herrschenden in Oranienburg eine der Wiegen des späteren Preußen, denn Oranienburg war nicht nur eine der Residenzstädte von Kurfürst Friedrich Wilhelm und seiner Gemahlin Luise Henriette geworden, sondern auch

Schutzhaftbefehl für Erich Cohn
geistiges Zentrum eines modern orientierten Staats- und Wirtschaftswesens. Die Namenspatronin Luise Henriette von Oranien, Tochter des Statthalters der Niederlande, galt als Wiederbegründerin der Stadt und im weitesten Sinne der gesamten Mark Brandenburg. Mit der Kurfürstin Luise Henriette wurde die später berühmt gewordene preußische Toleranz zur anerkannten Lebensweise im Lande.
     Es vergingen fast drei Jahrhunderte,
ehe die Toleranzpolitik bei den Regierenden und bei den Menschen langsam wieder versucht Fuß zu fassen.
     Dazwischen liegen die Jahre, die Heinrich Mann in seinem bereits erwähnten Geleitwort wie folgt charakterisierte: »Was vorgeht, ist der Versuch einer erniedrigten Nation, sich für erhoben auszugeben, und erwacht will sie scheinen, während soeben tiefe Nacht über sie hereingebrochen ist.«3)
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Die NSDAP organisierte sich in Oranienburg nicht über Nacht. Hitlers Helfer schwärmten schon Mitte der zwanziger Jahre von Oranienburg als einer Stadt, in der es günstige Einflussmöglichkeiten gab.
     So war es nicht verwunderlich, dass im Frühjahr 1925 in Oranienburg, als erste Stadt im Kreis Niederbarnim, eine Ortsgruppe der NSDAP gegründet wurde. Der NSDAP- Bezirk Oranienburg erstreckte sich von der Nordgrenze Berlins bis nach Zehdenick, von Nauen und Fehrbellin bis nach Bernau und Biesenthal. In diesem Bezirk, genauer gesagt in Lehnitz, hatte auch der »Kampfverlag der NSDAP«, welcher unter Leitung von Dr. Otto Strasser stand, seinen Sitz.4) Führende Politiker der NSDAP nahmen ihren Wohnsitz im Kreis Niederbarnim.
     Schon 1926 kam es zu den ersten blutigen Auseinandersetzungen. Feinde waren die Organisationen der KPD und SPD, des Reichsbanners und des Roten Frontkämpferbundes.
     Als die NSDAP im Jahre 1927 in Berlin verboten wurde, tauchte die Mehrzahl ihrer Mitglieder unter und organisierte sich in den einzelnen Ortsgruppen des Kreises Niederbarnim neu. Die Stadt Oranienburg war im Herbst 1927 der Gastgeber des »Berliner Gautages der NSDAP«, Hauptredner war Joseph Goebbels. Das am Abend des Tages organisierte Konzert im Schlosspark sah unter anderen auch Tausende Oranienburger als Besucher.
Die Oranienburger Nazis und SA-Leute waren in ganz Deutschland als Schläger bekannt. Zu einer Zuspitzung der brutalen Gewalt kam es, nachdem im Frühjahr 1931 die Kreisgeschäftsstelle der NSDAP Niederbarnim ihre Tätigkeit aufnahm. Von hier aus führten die Fäden in fast alle Ortschaften des Kreises. Höhepunkt blutiger Auseinandersetzungen war der Überfall der Nazis auf ein bekanntes Arbeiterlokal am 24. September 1931 in Oranienburg.
     In der Nacht zum 24. September 1931 überfielen 55 Nazianhänger eine Versammlung der KPD Ortsgruppe Oranienburg. Schüsse fielen und es gab Verletzte. Gegen die Rädelsführer und die Schlägertruppe wurde Anklage erhoben. Es kam zu einem großen Landfriedensbruch- Prozess, der in seiner Bedeutung weit über die Grenzen von Oranienburg hinausging. Großmäulig erklärten die Angeklagten in der Hauptverhandlung am 3. Oktober 1931 im Gebäude des Amtsgerichts Oranienburg, dass man mit dem Überfall »den Einfluss der Kommunisten brechen und ein Zeichen für Deutschland setzen wollte«.
     Von 55 Angeklagten wurden 33 zu einer Gesamtgefängnisstrafe von 13 Jahren verurteilt. Zugleich erging ein Verbot für die Tätigkeit der NSDAP für eine kurze Zeit.5)
     Doch es schien, als wenn die Wähler von Oranienburg dieses Verhalten nachträglich honorierten. Ausdruck dafür war die Verdreifachung der Stimmergebnisse für die NSDAP zwischen den Jahren 1930 und 1932.
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Die SA- Standarte 208, zu der auch der Oranienburger SA-Sturm gehörte, zählte als Formation zu den Einsatztruppen der SA in Berlin. Für ihre »Einsätze« erhielt sie mehrfach schon vor 1933 Anerkennung durch führende Naziführer in Deutschland.
     Die Übertragung der Einrichtung und des Aufbaus eines größeren Konzentrationslagers nach der Errichtung der Diktatur am 30. Januar 1933 in Oranienburg war deshalb für die Führung der SA- Standarte 208 eine Auszeichnung. Wie die Unterlagen belegen, war die Einrichtung des KZ in Oranienburg keine Blitzaktion nach dem Reichstagsbrand vom 28. Februar 1933, sondern die Verwirklichung lange vorher beschlossener Maßnahmen.
     In seiner Ausgabe vom 11. August 1932 berichtete der »Völkische Beobachter« u. a. über das Programm für den Tag der Machtübernahme durch die NSDAP. Einer der Programmpunkte lautete: »Unterbringung Verdächtiger und intellektueller Anstifter in Konzentrationslagern.«
     Einflussreiche Gönner und finanzkräftige Bankiers stellten der SA- Standarte 208 für die Ausbildung von SA-Leuten das Gelände und die Räumlichkeiten der ehemaligen Kindl- Brauerei in Oranienburg, Berliner Straße 20/21, unentgeltlich zur Verfügung. Eingetragener Eigentümer dieses Grundstücks war die Münchener Kindl- Brauerei, Niederlassung Berlin.
Als Miteigentümer fungierten ferner das Berliner Bankhaus Hardy & Co. GmbH Berlin sowie die Hermes- Kreditversicherungs- AG Berlin.
     Die ersten Verhaftungen von Hitlergegnern erfolgten nach dem Reichstagsbrand am 28. Februar 1933. Im Gegensatz zu der in Berlin und anderswo üblichen Praxis, in den Sturmlokalen der SA sogenannte wilde KZ zu bilden, erfolgte dieses in Oranienburg nicht. Die Verhafteten wurden in das Amtsgerichtsgefängnis in der Berliner Straße eingeliefert. Dieses befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Straße, in der am 21. März 1933 das KZ Oranienburg eröffnet wurde. Die politischen Gefangenen des Gerichtsgefängnisses gehörten zu den ersten Häftlingen im KZ Oranienburg.
     Die Inbetriebnahme des Konzentrationslagers geschah in aller Öffentlichkeit und mit entsprechendem Medienrummel.
     Der 21. März 1933 ist als »Tag von Potsdam« in die Geschichte eingegangen. An diesem Tag wurde die Eröffnung des am 5. März 1933 gewählten Reichstages mit einem Staatsakt in der Potsdamer Garnisonskirche eingeleitet. Für den Abend dieses Tages war für Oranienburg ein großer Fackelzug für die SA und die Anhänger der NSDAP befohlen worden. Unter starker Anteilnahme der Oranienburger Bevölkerung wurde die Machtübernahme gefeiert.
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Als die Fackeln langsam verlöschten, fuhren mehrere offene Lastautos vor, auf denen sich die ersten 40 Konzentrationäre von Oranienburg und Umgebung befanden. Sie waren am Nachmittag des gleichen Tages gefangengenommen wurden. Sie sollten die Kulisse und den Abschluss dieses Abends bilden. Auch diese Inszenierung der neuen Machthaber war ein Teil des Planes, die Bevölkerung an Konzentrationslager zu gewöhnen, um diese schließlich als Normalität in Deutschland zu betrachten. Im Volksbrockhaus - dem Sachwörterbuch für jedermann - konnte jeder nachlesen, was unter Konzentrationslager zu verstehen ist: »1.) während eines Krieges ein Lager für die Festhaltung von Zivilgefangenen; 2.) im Deutschen Reich seit 1933: Polizeilich bewachtes Unterkunftslager für Volksschädlinge aller Art, die hier zu nutzbringender Arbeit angehalten werden.«6)
     Je größer der zeitliche Abstand, umso klarer zeigt sich die Konzeption zur Errichtung der Konzentrationslager in Nazideutschland.
     Das Konzentrationslager Oranienburg spielte dabei die Rolle eines »Muster - und Vorzeigelagers«. Alles das, was im KZ Oranienburg durch die SA- Führung und Bewacher praktiziert wurde, war bis dahin einmalig und erstmalig für Preußen. Die Praktiken spiegelten sich in weit größerem Maßstab wieder, als ab 1936 größere zentrale Konzentrationslager unter Führung der SS entstanden.
     Es gab eine Ausnahme.
Während das KZ Oranienburg durch die Nazipropaganda und die unterschiedlichsten Berichte ausländischer Beobachter (oftmals nazifreundlich gestimmt) eine breite Öffentlichkeit erreichte, deckte sich über die ab 1936 errichteten KZ ein Mantel des Schweigens.
     Der Name der Stadt Oranienburg wurde ab März 1933 zum Synonym für Konzentrationslager in Deutschland. Es war in den Jahren 1933/34 der meistgehasste Ort im Lande (und er sollte es ab 1936 im zweiten KZ Oranienburg - in Sachsenhausen - hunderttausendfach und weltweit bis 1945 bleiben). In der dritten Märzdekade des Jahres 1933 kursierten überall in Berlin Flugblätter, welche die Zustände im KZ Oranienburg anprangerten.
     Im Flüsterton wurde gefragt: »Kennen Sie das neueste Berliner Sprichwort? Es lautet: Schweigen ist Gold - Reden Oranienburg«.7)
     So reagierten die in die Illegalität gegangenen und die noch in Freiheit gebliebenen Gegner und Kritiker des Naziregimes auf das KZ in der »alten Brauerei« inmitten der Stadt Oranienburg.
     Goebbels schrieb am 18. Mai 1933 im »Angriff«, dem Organ der NSDAP für Berlin- Brandenburg: »Kritik war nur noch denen erlaubt, die sich nicht fürchteten, ins Konzentrationslager zu kommen«.
     Der SA- Lagerkommandant von Oranienburg, SA- Sturmbannführer Werner Schäfer, war übrigens vor 1933 Mitarbeiter der Zeitung »Angriff«.
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Für die Entwicklung des KZ Oranienburg lassen sich folgende Etappen nachzeichnen:

Februar 1933 bis Juli 1933

Das Lager wurde durch die SA- Führung und staatliche Polizeistellen vorbereitet, sowie notdürftig eingerichtet und zur Aufnahme größerer Häftlingsgruppen ausgebaut. Als maximale Belegungszahl sollte eine Kapazität von 2 000 Personen erreicht werden. Kleinere KZ im Kreis Niederbarnim und Osthavelland wurden aufgelöst und deren


Postkarte an den Inhaftierten Erich Cohn
Insassen kamen nach Oranienburg.
     Am 29. März 1933 begannen Nazizeitungen und andere gleichgeschaltete Blätter mit einer ausführlichen Berichterstattung über das KZ Oranienburg.
     Den Reigen eröffnete der »Angriff«. Die Errichtung der KZ werden verteidigt und die öffentliche Meinung sollte die Existenz der Lager gutheißen, denn »es ist ja alles nicht so schlimm, es sind ja Terroristen, die inhaftiert worden sind«.8)
     In die Berichterstattung über das Lager Oranienburg schalteten sich aktiv der Rundfunk und die Wochenschau ein.
So lief in allen 5 000 Kinos in Deutschland ein dreiminütiger Beitrag über das KZ Oranienburg. Ausländischen Journalisten, ja selbst offiziellen Regierungsdelegationen aus anderen Ländern, pries man die Besichtigung des Lagers Oranienburg an. So besuchte beispielsweise bereits am 31. März 1933 eine chinesische Delegation das KZ Oranienburg.
     Die innere Lagerstruktur lies eine gut organisierte militärische Ordnung erkennen. Die Gefangenen waren in Kompanien und als Unterformation in Züge eingeteilt. Jede Kompanie hatte ihren festen menschenunwürdigen »Schlafsaal«.
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Als Besonderheit gab es eine spezielle Judenkompanie. Die »Dienstordnung« legte fest, dass das Wecken um 05.30 Uhr erfolgte und der »Zapfenstreich« um 21.00 Uhr durchgeführt wurde. Dazwischen sah der Dienstplan »Arbeitsdienst, Sport und Exerzierausbildung« vor.
     Die Höchstzahl der Belegung betrug im Juli 1933 insgesamt 949 Personen.

August bis Dezember 1933

Kennzeichen dieser Etappe waren der weitere Ausbau des Lagers. Die Zwangsarbeit wurde zum beherrschenden Element: Neben der Schaffung bestimmter Handwerkerkommandos, wie Tischlerei und Schneiderei, die insbesondere die Extrawünsche der SA- Führer nach exklusiven Möbeln und Herrenzimmern oder maßgeschneiderten Anzügen und Uniformen befriedigen mussten, war die Mehrzahl der Häftlinge im Rahmen der »Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen« (ABM) damit beschäftigt, die Schulden der SA- Lagerleitung, die diese bei der Stadtsparkasse Oranienburg hatte, zu tilgen. Eine der frühesten Formen der Zwangsarbeit, denn die Häftlinge erhielten für diese Arbeit keinerlei Lohn und Zuschläge.
     Der Ausbau und die Aufrechterhaltung des Konzentrationslagers Oranienburg waren nur möglich, weil die Stadtväter und die verantwortlichen Mitarbeiter der Stadtverwaltung von Oranienburg der SA- Lagerleitung und der NSDAP wohlgesonnen waren.

Einmalig und erstmalig war es, dass zwischen einer Kommune und der Leitung eines KZ ein Arbeitsbeschaffungsprogramm geplant und verwirklicht wurde. Städtische Beamte wurden als kontrollierende Aufsichtspersonen für die einzelnen Arbeitskolonnen eingesetzt und entschieden so manches Mal über ein Häftlingsschicksal. Für das 2. Halbjahr 1933 wurde eine Leistung von 800 Tagewerken je Werktag festgelegt. Die Stadt Oranienburg sowie andere staatliche Behörden des Kreises vergüteten den Wocheneinsatz mit 6,RM.9)
     Dieses Geld erhielt die SA- Lagerführung. Die Gefangenen erhielten nichts. Nach bisherigen vorläufigen Recherchen kann davon ausgegangen werden, dass die KZ Häftlinge von Oranienburg mindestens 700 000 Arbeitsstunden ohne Bezahlung geleistet haben. Arbeitssklaven waren nicht nur die deutschen Inhaftierten, sondern Menschen aus zehn verschiedenen Ländern. Solcherart Unterstützung und Hilfe trug mit dazu bei, dass das KZ Oranienburg fast eineinhalb Jahre existieren konnte, ohne größere finanzielle Hilfe durch den Staat in Anspruch zu nehmen. Diese Form der Zwangsarbeit war die Vorstufe dessen, was ab 1941 in den großen KZ zur täglichen Praxis wurde, Häftlinge an Unternehmen, Konzerne und den Staat zu vermieten. Eine historische Schuld von Oranienburgs Stadtvätern, die ihresgleichen sucht.
     Im August 1933 erreichte das KZ eine Höchstbelegung mit 1 000 Personen. Unter ihnen waren besonders viele SPD- Mitglieder aus Berlin und Umgebung.
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Einer von ihnen war der damalige Vorsitzende des Ortsvereins Sachsenhausen, Erich Cohn. In einem Erinnerungsbericht beschrieb er seine Verhaftung und Einlieferung in das KZ Oranienburg wie folgt: »Es war in der Nacht vom 1. zum 2. August 1933, als kurz nach Mitternacht SA-Leute mich aus dem Bett holten und in das KZ Kindl- Brauerei Oranienburg verschleppten. Mit mir wurde der Lehrer und Kantor Walter Jacob, Dirigent des Arbeiter- Sänger- Bundes in Sachsenhausen, ein aktives Mitglied der SPD und enger Freund der Familie, verhaftet. Wir mussten uns entlang der großen Fabrikmauer aufstellen und wurden durch große Scheinwerfer angestrahlt.

So sahen die menschenunwürdigen Schlafsäle aus
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Erst in den Morgenstunden des 2. August trieben uns die SA-Leute in die provisorischen Unterkünfte. Nach der Aufnahme und Vernehmung durch Berliner Polizeibeamte wurde ich in die >Judenkompanie< eingewiesen. Ich erhielt die Häftlingsnummer 1117 und war dem 1. Zug der V. Kompanie zugeordnet. Meine Hauptbeschäftigung in den ersten Tagen bestand darin, dass ich täglich bis zu 10 Stunden die Latrinen der SA- Wachmannschaften reinigen musste.«10)
     In diesem Zeitraum kam es zu verschiedenen Fluchten aus dem Lager. Im Dezember 1933 gelang dem früheren Reichstagsabgeordneten der SPD, Gerhart Seger, die Flucht von einem Außenarbeitskommando. Im Zeitraum März bis Dezember 1933 waren laut Angaben der SA- Führung etwa 5 500 Häftlinge inhaftiert. Die Haftdauer war unterschiedlich.

Januar bis Anfang Juli 1934

In diesem Zeitabschnitt endete die Periode der von der SA- Führung und der Polizei geleiteten KZs. Die Mehrzahl der Häftlinge kam nicht mehr aus Berlin und dem Land Brandenburg, sondern aus anderen Teilen Deutschlands. Ein Schwerpunkt war das Rhein- Main- Gebiet.
     Im Frühjahr 1934 wurden die Erlebnisse des Geflüchteten Gerhart Seger vom Prager Exilvorstand der SPD

der Weltöffentlichkeit übergeben. Die Gegenpropaganda der Nazis lief auf Hochtouren. Lagerkommandant Schäfer und seine Schreiberlinge versuchten eine Gegendarstellung mit dem Ziel, die Haftbedingungen zu verharmlosen und zu rechtfertigen. Als sogenanntes »Antibraunbuch über das erste deutsche Konzentrationslager« setzte eine bis dahin nicht gekannte Gegenpropaganda ein. Die Nazis veröffentlichten und verbreiteten dieses Buch nicht nur in Deutschland, sondern es erschien auch in Norwegen, Großbritannien, den Niederlanden und Frankreich. Es sollte dazu beitragen, die im Ausland verbreiteten »Gräuelmärchen« über Oranienburg zu widerlegen. Mit der Verbreitung dieses Antibraunbuches und dem millionenhaften Fortsetzungsdruck in der Tagespresse Hitlerdeutschlands wurde eine der frühen Versionen der späteren »Auschwitzlüge« geboren.
     Am 1. April 1934 vollzog sich ein Wechsel in der Funktion des Lagerkommandanten. Schäfer wurde in »Anerkennung der Verdienste« zum SA- Obersturmführer befördert. Es erfolgte seine Übernahme in den Justizdienst als Leiter des Strafgefangenenlagers in Papenburg mit der Beförderung zum Oberregierungsrat. Neuer Lagerkommandant wurde SA- Sturmführer Hörnig.
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»Sportausbildung« im KZ Oranienburg
KZ Sachsenhausen

Wenige Tage nach den Ereignissen vom 30. Juni 1934, als »Röhm- Affäre« bekanntgeworden, vollzog sich am 6. Juli 1934 die Übernahme des KZs Oranienburg von der SAzur SS- Führung. Leiter dieser als »Verstaatlichungsaktion« bezeichneten

Übernahme war der SS- Gruppenführer Eicke. (Er wurde wenig später der Leiter der Inspektion der Konzentrationslager in Deutschland.)
     Im Zusammenhang mit dieser Aktion kam es am 9. Juli 1934 zur Ermordung des jüdischen deutschen Schriftstellers Erich Mühsam durch SS-Leute des KZ Oranienburg.
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   46   Probleme/Projekte/Prozesse KZ Oranienburg  Voriges BlattNächstes Blatt

Werbe-Anzeige für das »Anti- Braunbuch«
Im Verlaufe des Juli 1934 erfolgten die Verlegungen der Häftlinge nach dem KZ Lichtenburg oder nach den Moorlagern in Esterwegen. Ein Teil der Gefangenen wurde entlassen.
     Im Herbst 1934 wurde durch Reichsführer SS Heinrich Himmler entschieden, dass die Räumlichkeiten des KZ Oranienburg als Reservelager weiter bestehen bleiben sollten. Im Juli 1936 wurden hier Teile der SS- Totenkopfstandarte »Brandenburg« stationiert. Erst nach der Fertigstellung der neuen SS- Kasernen für das neue KZ Sachsenhausen am Ostrand von Oranienburg wurde das Objekt von der SS geräumt. Nach der Übernahme durch die Stadtverwaltung erfolgte der Umbau zu einem Polizeigewahrsam. Im Frühjahr 1943 wurden in deren Räumlichkeiten jüdische Bürger zusammengetrieben, um kurze Zeit später den Weg in die Gaskammern von Auschwitz und Maidanek anzutreten. Der größte Teil der alten Fabrikgebäude wurde während eines Bombenangriffs am 6. März 1944 zerstört.
     Im Konzentrationslager Oranienburg gab es 1933/34 noch keine Gaskammern und keine Genickschussanlage, wie Jahre später im KZ Sachsenhausen.
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Doch das, was in Oranienburg geschah, die nackte brutale Gewalt der Fäuste, das willkürliche Verprügeln von Kindern und Männern, die sich nicht wehren konnten, die Dunkelhaft in den Steinsärgen der alten Brauerei und die Schikanen eines unmenschlichen »Sports«, sowie die schikanöse Zwangsarbeit ohne Bezahlung - das war schon ein Teil der Hölle und sollte niemals vergessen werden.
     Im September 1945 fand auf dem Gelände des ersten KZ Oranienburg ein Treffen von Oranienburger Antifaschisten statt. Drei Jahre später wurde an gleicher Stelle ein Gedenkstein für den ermordeten Dichter Erich Mühsam enthüllt.
     Doch dann wurde es ruhig um die Erforschung der Geschichte des KZ Oranienburg. Gerhart Segers Bericht über seine Erlebnisse im KZ Oranienburg war in der DDR verpönt und durfte nicht verlegt werden. Seine kritische Sicht auf das Verhalten einzelner Häftlingsgruppen - z. B. auf die Kommunisten - während der Lagerzeit hätte das verordnete Bild von Vorbild und Führungsrolle der KPD getrübt.
     Erst Anfang der 80er Jahre begann eine differenzierte Aufarbeitung der Lagergeschichte von Oranienburg.
     Zwei Generationen später, im Frühjahr 1993, versammelten sich anlässlich des 60. Jahrestages der Errichtung des KZ Oranienburg mehr als einhundert Bürger im gepflasterten Teil der ehemaligen Kindl- Brauerei.
Proteste wurden laut, als bekannt wurde, dass die Reichelt- Handelskette eine Filiale auf diesem blutgetränkten Boden errichten wolle.
     Nach monatelangen Kontroversen über die Rolle des KZ Oranienburg und seinen Standort hatten die Proteste Erfolg. Der Supermarkt wurde nicht an dieser Stelle eröffnet. Seitdem ist wieder Ruhe eingekehrt. Wie es scheint, nur eine Ruhe auf Zeit.

Bildquelle: Archiv Autor

Quellen und Anmerkungen:
1 Bildband Oranienburg, be.bra verlag 2000, S. 35
2 Hans Biereigel, Mit der S-Bahn in die Hölle, ATB Verlag 1994, S. 28/30
3 Ebenda, S. 31
4 Adressenbuch für Oranienburg und Umgebung 1931/1932
5 Hans Biereigel, a. a. O., S. 12
6 Volksbrockhaus A-Z 10. Auflage 1943, S. 372
7 Rote Witze aus der »AIZ«, Dietz Verlag Berlin, 1985, S. 114
8 »Der Angriff« 29. März 1933
9 Stadtarchiv Oranienburg (Pr. Br. Rep. 8 Orbg.)
10Hans Biereigel, Ich kenne keinen Hass, Verlag Euro. Bibliothek 2000

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 9/2000
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