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Hans-Joachim Vogel
Nie wieder eine mörderische Diktatur

Rede zum 67. Jahrestag der Köpenicker Blutwoche

Am 21. Juni 1933 haben hier in unmittelbarer Nähe die furchtbaren Ereignisse begonnen, die als Köpenicker Blutwoche nicht nur in die Geschichte dieses Stadtbezirks und damit in die Geschichte Berlins, sondern darüber hinaus in die Geschichte unseres Landes eingegangen sind. Der Einladung, aus diesem Anlass zu Ihnen zu kommen und das Wort zu nehmen, habe ich aus mehreren Gründen gerne Folge geleistet. Einmal liegt mir das Thema gerade in meiner Eigenschaft als Vorsitzender der Vereinigungen »Gegen Vergessen - Für Demokratie« in besonderer Weise am Herzen. Zum anderen beeindruckt mich das Engagement, mit dem sich politische und gesellschaftliche Kräfte in Köpenick darum bemühen, die Erinnerung an die seinerzeitigen Mordtaten und ihre Opfer und überhaupt an die Gewaltherrschaft wach zu halten. Dabei denke ich vor allem an die Ausstellung, die ich soeben gesehen habe, aber auch an die Bemühungen, den örtlichen Widerstand gegen das NS- Gewaltregime ganz allgemein vor dem Vergessen zu bewahren.

Und schließlich fühle ich mich Berlin noch immer verbunden, obwohl meine Zeit als Regierender Bürgermeister nun schon bald 20 Jahre, und auch meine Zeit als Berliner Abgeordneter bereits mehrere Jahre zurück liegt.
     Wir haben uns versammelt, um derer zu gedenken, die zwischen dem 21. und dem 26. Juni 1933 in mehreren Köpenicker SA-Lokalen und im Köpenicker Amtsgerichtsgefängnis - dort übrigens ausgerechnet im Betsaal des Gefängnisses - von einer großen Zahl von SA-Leuten in barbarischer Weise gefoltert und grausam ermordet worden sind. Fast alle Opfer waren Arbeiter, viele von ihnen arbeitslos, einer ein Angestellter; der Jüngste, ein Lehrling, war 18 Jahre alt, der Älteste, ein Geschäftsführer einer Köpenicker Firma, 65 Jahre alt. Einige starben erst später an den Folgen der Mißhandlungen. Unter den Gefolterten war auch eine Frau, Katharina Schmaus, die nur mit Mühe überlebte. Alle wohnten in Köpenick und wurden im Laufe des 21. Juni im Zuge einer Aktion der örtlichen SA- Standarte aus ihren Wohnungen verschleppt und in die vorher festgelegten Lokale verbracht. Dort hatten die Folterungen schon begonnen, als sich einer der später Ermordeten - es war Anton Schmaus - seiner Verschleppung mit einer Pistole widersetzte und in Notwehr drei SA-Leute niederschoß. Das versetzte die Schergen der SA geradezu in einen Blutrausch.
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Ihrer politischen Zugehörigkeit nach waren die meisten der 24 Ermordeten Sozialdemokraten oder Kommunisten. Zu den sozialdemokratischen Opfern zählten auch Richard Aßmann, Kreisleiter des Reichsbanners, und Johannes Stelling, der von 1921 bis 1924 Ministerpräsident von Mecklenburg- Schwerin war und der als Reichstagsabgeordneter noch am 23. März 1933 - mit seiner Fraktion - gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt hatte. Seine Leiche wurde einige Tage nach der Blutwoche in der Dahme entdeckt.
     Von den Kommunisten nenne ich stellvertretend für die anderen Opfer Paul und Josef Spitzer, die sich in ihrer Partei schon länger engagiert hatten.
     Das alles vollzog sich nicht im Geheimen. In Köpenick und darüber hinaus verbreitete sich die Kunde vom Geschehen wie ein Lauffeuer. Einzelne - darunter zwei Ärzte und ein Pfarrer - versuchten auch zu helfen. Sogar bei der noch nicht völlig gleichgeschalteten Polizei regte sich einzelner Widerspruch. Dennoch geschah nichts, um die Verantwortlichen nach den damals ja noch gültigen Strafbestimmungen zur Rechenschaft zu ziehen. Zwei Ermittlungsverfahren, die zunächst auf Grund von Anzeigen von Angehörigen in Gang gekommen waren, wurden niedergeschlagen. Erst nach 1945 kam es zu einer Anzahl von Verurteilungen, darunter auch zu Todesurteilen, von denen mehrere vollstreckt wurden.
     Es ist also eine Orgie von Gewalt, an die wir uns erinnern.
Eine Anhäufung von Mordtaten, die so in den Monaten unmittelbar nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler selbst bei den Nationalsozialisten, bei denen Brutalitäten durchaus an der Tagesordnung waren, noch eine Ausnahme darstellten. Wir erinnern uns, um den Opfern Ehre zu erweisen und ihre Namen und ihr Schicksal nicht dem Vergessen anheim fallen zu lassen.
     Wir erinnern uns aber zugleich auch an das, was dann in den zwölf Jahren der NS- Gewaltherrschaft folgte. Denn die Köpenicker Blutwoche war ja erst ein Anfang des Terrors. Ihr folgten Verbrechen von ungeheuerlichem Ausmaße. Zuerst die Verfolgung der politischen Gegner, dann die Verfolgung der Juden, die sich bis zum Holocaust steigerte, und schließlich ein Angriffs- und Vernichtungskrieg, der - so hat es der Bundestag im Mai 1997 in einem mit großer Mehrheit angenommenen Beschluss formuliert - ein vom nationalsozialistischen Deutschland ausgehendes Verbrechen war. Ein Verbrechen, das am Ende schrecklich auf unser eigenes Volk zurück schlug. Das muss ebenso im Gedächtnis bleiben wie die Opfer und die Täter, wie der Widerstand gegen das Gewaltregime und die Ursachen, die zu all dem führten. Nicht, um Schuldkomplexe zu konservieren. Denn Schuld ist ein individueller Vorwurf, der die damals noch gar nicht Geborenen - und das sind inzwischen über 70 % unseres Volkes - schon deshalb gar nicht treffen kann. Aber auch nicht, um hin und wieder ein Betroffenheitsritual zu zelebrieren.
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Sondern um den nachwachsenden Generationen vor Augen zu führen, wessen Menschen in ihrer Verblendung, in ihrem Fanatismus und in ihrer Mordlust fähig waren und von neuem fähig sein könnten, wenn die Menschenwürde und die Verbindlichkeit wertbezogener Grundprinzipien geleugnet wird, wenn Minderheiten verteufelt werden und wenn hingenommen, ja bejubelt wird, dass sich so genannte Führer mit der Parole, der Zweck heilige jedes Mittel, in gotteslästerlicher und menschenverachtender Weise für allmächtig erklären. Denn - und das ist meine Überzeugung - Menschen, die sich dessen bewusst sind, werden Warnzeichen, die auf neue Gefahren hindeuten, früher erkennen und sich Fehlentwicklungen entschiedener entgegen stellen als diejenigen, die von der Katastrophe ihrer Vorfahren nichts mehr wissen.
     Und an solchen Warnzeichen fehlt es ja nicht. Ausbrüche von Antisemitismus und Ausländerhaß sind, verbunden mit gewalttätigen Exzessen, nach wie vor an der Tagesordnung. Wir brauchen nur an den kürzlichen Anschlag auf die Erfurter Synagoge zu denken. Oder an die Auftritte militanter Rechtsextremisten - und das eben nicht nur in Brandenburg, wo offenbar extremistische Gruppen in Gestalt so genannter Kameradschaften an manchen Orten bereits eine Art soziale Kontrolle übernommen haben - sondern auch hier in Berlin.
Da braucht man sich lediglich an das Attentat auf das Grab von Heinz Galinski oder an die Schändung des jüdischen Friedhofs in Weißensee oder an die Angriffe zu erinnern, denen ein Steinmetz ausgesetzt war, der die beschädigten Grabplatten wieder in Stand setzte. Auch das Bild von den Neonazis, die mit ihren Fahnen und Transparenten durch das Brandenburger Tor ziehen, war tief beunruhigend. Nicht übersehen dürfen wir auch, wie stark sich die Rechtsextremisten des Internets bemächtigen. Zugleich entwickelt sich am rechten Rande des politischen und kulturellen Spektrums ein Geflecht, das sich selbst als »neue Rechte« bezeichnet und in mehr oder weniger konservativer Verkleidung bedenkliche Gedankengänge verbreitet. Bemerkenswert erscheint übrigens dabei, dass sich Personen, die früher linke bis linksextreme Positionen vertreten haben, sich nun auf der äußersten rechten Seite des Spektrums vernehmen lassen. Hinzu kommen immer wieder bei einzelnen Landtagswahlen erschreckende, wenn auch in der Regel vorübergehende Erfolge rechtsextremistischer Parteien wie etwa der DVU.
     Das sind die Gründe, warum wir, anders als das im vorigen Jahr in der Frankfurter Paulskirche zu hören war, nicht wegschauen und auch nicht weghören dürfen.
     So viel zum Warum des Erinnerns. Woran aber soll nun erinnert werden?
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Ich habe schon gesagt, wir müssen uns an die Verbrechen, die Täter und die Opfer der NS- Gewaltherrschaft, an den Widerstand, der dieser Gewaltherrschaft geleistet wurde, und an die Ursachen erinnern, die zur Katastrophe geführt haben. Erinnern müssen wir uns allerdings - ohne Unterschiedliches gleichzusetzen - auch an die zweite Diktatur auf deutschem Boden. Aber sie ist heute nicht unser Thema.
     Das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen brauche ich hier nicht im Einzelnen zu schildern. Allein dem Holocaust, also der planmäßigen Ausrottung der Juden im deutschen Machtbereich, sind rund 6 Millionen Menschen zum Opfer gefallen. Die Zahl der getöteten Polen wird auf 6 Millionen, die der Sinti und Roma auf 250 000 bis 400 000 geschätzt. In den KZs sind zwischen 700 000 und 800 000 Menschen umgekommen. Von den sowjetischen Kriegsgefangenen haben annähernd 3,3 Millionen die Gefangenschaft nicht überlebt, ein großer Teil deshalb, weil er bewusst dem Tod überantwortet wurde.
     Hierher gehört aber auch, dass die Hälfte aller gefallenen deutschen Soldaten erst nach dem 20. Juli 1944 ums Leben gekommen ist und geopfert wurde, um das ruchlose Leben Hitlers zuerst um Monate, dann um Wochen und schließlich nur noch um Tage zu verlängern. Insgesamt wird die Zahl der Menschen, die im Verlauf und als Folge des Zweiten Weltkrieges ihr Leben verloren haben, auf rund 55 Millionen veranschlagt.
     Was die Opfer und ihre furchtbaren Leiden angeht, ist an eindringlichen Schilderungen und tief anrührenden Selbstzeugnissen wahrlich kein Mangel.
Wie sehr übrigens auch Menschen, die schließlich überlebten, in unserer Mitte gequält wurden, haben uns die Tagebücher Victor Klemperers in bedrückender Weise vor Augen geführt. Und in letzter Zeit sind auch die Leiden der nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen wieder etwas deutlicher ins Bewusstsein getreten.
     Die Täter blieben - von Hitler und seiner engsten Umgebung abgesehen - lange merkwürdig gesichtslos. Zuerst war nur von Organisationen, etwa der Gestapo, den Einsatzgruppen und der Waffen-SS die Rede. Erst allmählich sprach man auch von konkreten Verbrechen konkreter Personen. Und dazu trug bei, dass die Justiz in den Nachkriegsjahren Einzelpersonen nur zögernd und aus manchen Bereichen - etwa dem der Gerichtsbarkeit des Dritten Reiches - überhaupt nicht zur Rechenschaft gezogen hat. Dass an den Verbrechen in beachtlicher Zahl auch »ganz normale« Deutsche beteiligt gewesen sind, die der NSDAP oder ihren Gliederungen gar nicht angehörten und auch keine Nationalsozialisten waren, ist erst in letzter Zeit breiter wahrgenommen worden.
     Der deutsche Widerstand hat das Unheil nicht abwenden und unser Volk und Europa nicht von der Gewaltherrschaft befreien können. Das ist erst den Alliierten mit einem gewaltigen Aufgebot militärischer Macht und großen Blutopfern gelungen. Dennoch haben wir allen Anlass, uns derer zu erinnern, die sich unter Einsatz ihres Lebens gegen die Gewaltherrschaft erhoben haben, und uns mit ihren Lebenswegen und ihren Motivationen vertraut zu machen.
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Denn sie haben den Beweis geliefert, dass auch ein scheinbar perfektes und allumfassendes Unrechtssystem das Verlangen nach Freiheit und Gerechtigkeit nicht auslöschen kann. Dass selbst ein schier grenzenloser Allmachtswahn eben doch an Grenzen stößt.
     Wir sollten übrigens keine Richtung und Gruppierung derer, die Widerstand geleistet haben, von vornherein aus unserer Erinnerung ausschließen. Mit bestimmten Motivationen und Zielen mag, ja muss man sich kritisch auseinander setzen. Auch damit, dass einzelne später selbst andere Diktaturen unterstützten und ihnen gedient haben. Aber totschweigen darf man sie nicht. Denn auch sie haben ihr Leben aufs Spiel gesetzt, als andere dem Gewaltherrscher noch zujubelten oder ihm noch Gefolgschaft leisteten. Außerdem weiß niemand, welche Folgerungen die Hingerichteten im Falle ihres Überlebens aus den Erfahrungen gezogen hätten, die sie mit dem Kommunismus gemacht haben. Herbert Wehner war vielleicht der prominenteste, aber bei weitem nicht der einzige ehemalige Kommunist, der unter dem Eindruck dieser Erfahrungen - so formulierte er es selber - »mit dem Gott brach, der keiner war« und sich große Verdienste um den Aufbau der Demokratie erwarb.
Ich halte es für einigermaßen wahrscheinlich, dass eine ganze Anzahl derer, die das Ende der NS- Gewaltherrschaft zum Teil auch deshalb nicht mehr erlebten, weil sie den Stalinschen Säuberungen zum Opfer fielen, ähnlich gehandelt hätten wie Herbert Wehner.
     Bleibt die Erinnerung an die, besser noch die beständige Auseinandersetzung mit der Frage nach den Ursachen, die Schritt für Schritt ins Verderben führten. - Und das nicht erst, als Hitler schon an der Macht war. Denn wer wollte im Ernst bestreiten, was Richard von Weizsäcker 1985 in seiner historischen Rede ausgeführt hat, dass nämlich dem 8. Mai 1945 der 30. Januar 1933 vorausging. Und dass Wurzeln der Gewaltherrschaft bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen.
     Warum also ist die Weimarer Republik gescheitert? Warum ist Hitler an die Macht gelangt? Warum stimmten im März 1933 nur 94 Abgeordnete des Deutschen Reichstags gegen das Ermächtigungsgesetz? (Wobei man fairerweise anmerken muß, dass 81 kommunistischen Abgeordneten ihr Mandat bereits geraubt worden war.) Wie kam es im zeitlichen Ablauf der 12 Jahre des so genannten Tausendjährigen Reiches zunächst zur Unterdrückung und Verfolgung der innenpolitischen Gegner, zur Ausgrenzung und Vernichtung der Juden, der Sinti und Roma erst in Deutschland, dann im gesamten deutschen Herrschaftsbereich?
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Wie zur Vernichtung des »lebensunwerten Lebens« unter dem euphemistischen Tarnwort der »Euthanasie«? Und wie zur Entfesselung des Angriffskrieges in Europa? Es hat ja an frühen Warnungen nicht gefehlt. Das Wahlplakat mit der im Nachhinein fast prophetisch erscheinenden Warnung »Wer Hitler wählt, wählt Krieg!« hing ja 1932 im damaligen Deutschen Reich an vielen Litfaßsäulen. Auch die Gewalt, die in der Reichspogromnacht gegen die Juden und ihre Gotteshäuser verübt wurde, vollzog sich doch in allen deutschen Städten und in zahllosen anderen Orten vor aller Augen und unter Mißachtung selbst der damals geltenden Gesetze. Jeder Erwachsene konnte sehen, dass der Staat und seine Organe nicht etwa die Opfer schützten, sondern denen halfen, die das - auch damals geltende - Recht brachen. Und dass dennoch kein einziges Strafverfahren gegen einen der Beteiligten eingeleitet wurde - das wussten auch viele - oder sie konnten es wissen.
     Aber warum schwiegen damals auch die Kirchen, obwohl sie doch - zumindest die katholische - zuvor ihre Stimme gegen die rassistischen Irrlehren des Nationalsozialismus erhoben hatten? Und warum schwieg die Generalität? Oder auch die Hochschullehrerschaft, die ja nicht nur aus überzeugten Nationalsozialisten bestand? Warum schwieg die Generalität - von wenigen Ausnahmen abgesehen - auch später? Etwa, als Hitler in Osteuropa einen Krieg begann, als dessen Ziel er vor der Generalität schon im März 1941 ganz unverhüllt die Vernichtung des so genannten bolschewistischen Untermenschentums und der Juden bezeichnete?
Ja, warum schwieg sie nicht nur, sondern beteiligte sich - von Ausnahmen abgesehen - mittelbar oder auch unmittelbar an diesen Verbrechen? Und welche Rolle spielte bei all dem die Justiz, konkreter noch gefragt, die Richter und Staatsanwälte, die ja zum größten Teil nicht erst nach 1933 ins Amt kamen, sondern ihre Tätigkeit schon vor 1933 ausübten? Mit einem einzigen Satz haben die Geschwister Scholl das alles schon 1942 in ihrem zweiten Flugblatt auf den Punkt gebracht, nämlich mit der Frage: »Warum verhält sich das deutsche Volk angesichts all dieser scheußlichsten, menschenunwürdigsten Verbrechen so apathisch?«
     Ja - wie konnte das alles geschehen? Im Lande Goethes und Schillers, Kants und Lessings - aber auch eines August Bebel, eines Ludwig Windhorst und eines Friedrich Naumann? In einem Land, zu dessen geistiger, wirtschaftlicher und auch politischer Entwicklung Deutsche jüdischen Glaubens einen so wesentlichen Beitrag geleistet haben und das nicht müde wurde, sich seiner christlichen Tradition zu rühmen? Warum folgten Hitler so viele, selbst noch in den späten Kriegsjahren, in denen noch Millionen aus keinem anderen Grund einen sinnlosen Tod starben als dem, das nichtswürdige Leben des Diktators und seiner Komplizen um eine kurze Frist zu verlängern? Und warum wirkten nicht wenige an den Verbrechen der Gewaltherrschaft auch da mit, wo sie sich dem ohne eigene Lebensgefahr hätten entziehen können?
     Warum auch schwiegen so viele, als sie hätten reden sollen? Es sind Fragen, die wir nicht unterdrücken dürfen.
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Einigen genügt als Antwort der Hinweis auf den Versailler Vertrag, auf die Weltwirtschaftskrise und die Massenarbeitslosigkeit sowie der Vorwurf, dass die westlichen Demokratien Hitler zu spät entgegengetreten seien und ihm zu lange freie Hand gelassen hätten. Jeder dieser Punkte mag für den Aufstieg Hitlers eine gewisse Rolle gespielt haben. Für die Erklärung des Ganzen, vor allem dessen, was nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler geschah, reichen sie keinesfalls. Im Gegenteil: Sie führen, für sich allein genommen, in die Irre, weil sie das Spezifische der Entwicklung außer Acht lassen.
     Andere - und damit meine ich die offizielle kommunistische Lesart - werteten die NS- Gewaltherrschaft als eine zwingende Folge des imperialistischen Kapitalismus und somit als dessen verwerflichste Ausprägung. Alles andere trat für die Anhänger dieser ideologisch geprägten Einschätzung dahinter zurück. Auch diese Erklärung führt in ihrer verzerrenden Einseitigkeit in die Irre.
     Es würde den Rahmen dieser Veranstaltung sprengen, wenn ich auf die Gesamtheit der Antworten, die im Laufe der Zeit auf diese Fragen erarbeitet worden sind, umfassend und im einzelnen eingehen wollte. Ich beschränke mich deshalb auf die Frage nach den Wurzeln, die weiter zurückreichen, und nenne insoweit die Verherrlichung des Krieges als eine Bedingung, ja als eine Notwendigkeit »existenzieller Menschheitsverwirklichung«, wie sie beileibe nicht erst nach 1933 von nicht wenigen renommierten Philosophen und Erziehungswissenschaftlern propagiert wurde.
Ebenso nenne ich den gerade auch auf christlichen Traditionen beruhenden, teils latenten, teils ganz offenen Antisemitismus, den es schon im späteren 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab und der in bestimmten Gebieten und in bestimmten Schichten lange vor den Anfängen des Nationalsozialismus wirksam wurde; ein Antisemitismus, den Hitler selbst übrigens aus dem Wien der Jahrhundertwende mitbrachte, die ablehnende Haltung gegenüber der Demokratie und der Republik von Weimar, vor allem im Lager der deutschen Rechten. Eine Ablehnung, die bald in offene Feindseligkeit überging und sich gegenüber der Republik und der sie vor allem tragenden Sozialdemokratie auch in der bezeichnenden Schmähung als »Judenrepublik« und als »verjudete Partei der Novemberverbrecher« äußerte, die Spaltung der Arbeiterbewegung und die intransigente, demokratiefeindliche Haltung der Kommunisten, die auf Stalins Geheiß Anfang der dreißiger Jahre nicht den Nationalsozialismus, sondern die Sozialdemokratie als Hauptfeind bekämpften. Eine Haltung, für die die deutschen Kommunisten danach zwischen 1933 und 1945 im Widerstand, aber auch - soweit sie in die Sowjetunion geflüchtet waren - als Opfer der Stalinschen Säuberungen einen hohen Blutzoll entrichteten. Ich nenne außerdem die obrigkeitsstaatliche Tradition aus der Zeit des Kaiserreichs, der Gehorsam als eine absolute Tugend und Zivilcourage eher als etwas Undeutsches erschien.
     Noch etwas hat den Nationalsozialismus befördert.
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Kurt Schumacher hat das in einer großen Rede im Deutschen Reichstag im Februar 1932, in dem die Nationalsozialisten seit der Reichstagswahl des Jahres 1930 bereits mit 107 Abgeordneten vertreten waren, angesprochen, als er die NS-Politik als einen dauernden Appell an den inneren Schweinehund im Menschen charakterisierte. Darunter verstand er die in der menschlichen Natur angelegte Versuchung, für alles Übel Sündenböcke verantwortlich zu machen und das Gefühl eigener Überlegenheit dadurch hervorzurufen und zu steigern, dass man auf Minderheiten, auf schon Gebrandmarkte, auf solche, die schon am Boden liegen, erst verbal und dann auch mit physischer Gewalt einschlägt und sich an ihren Leiden berauscht. Diese menschliche Gefährdung und Schwäche hat der Nationalsozialismus in teuflischer Weise instrumentalisiert. Wir sollten übrigens nicht so sicher sein, dass diese Gefährdung nicht auch heute noch eine Rolle spielt und zu politischem Missbrauch einlädt.
     Was ist die Quintessenz aus all dem? Was sollte sie jedenfalls sein? Ich meine, auf eine knappe Formel gebracht, lautet sie »Nie wieder!«. Ja, nie wieder soll unser Volk einer menschenverachtenden, mörderischen Diktatur anheim fallen. Nie wieder sollen Mörder über ihre Opfer triumphieren. Und nie wieder sollen die Menschenwürde und die Menschenrechte mit Füßen getreten werden.
Nie wieder auch darf Gleichgültigkeit Kräften, die unsere demokratische Ordnung untergraben wollen, Vorschub leisten.
     Das ist auch das Vermächtnis der Opfer, derer wir hier gedenken. Sie mahnen uns: Es genügt nicht, andere aufzufordern, etwas zu tun. Natürlich ist der Staat, sind die Parteien, die Kirchen, die Gewerkschaften und andere Organisationen gefordert. Aber das ist nicht genug. Selber etwas zu tun ist mindestens ebenso wichtig. Und sie rufen uns zu: Seht nicht weg, wenn der Ungeist von neuem sein Haupt erhebt. Zuckt nicht mit den Achseln, wenn Mitmenschen beleidigt, bedroht und geschlagen werden. Verschließt nicht eure Ohren, wenn am Arbeitsplatz, am Stammtisch oder sonst wo schlimme Sprüche gedroschen werden. Sondern widersteht, widersprecht und bringt euch ein, um neuem Unheil vorzubeugen.
     Von dem jüdischen Philosophen Hillel, der vor zweitausend Jahren lebte, stammt die Frage: »Wer, wenn nicht Du? Wann, wenn nicht jetzt?« Unsere Antwort auf diese Frage muss lauten: »Ja, - ich und jetzt.« Und das nicht nur am heutigen Abend und bei feierlichen Gelegenheiten, sondern an allen Tagen des Jahres. Das erwarten die Toten.
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 9/2000
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