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Hubert Olbrich
»Wie gern wäre ich ihren Tod mitgestorben«

Der Ingenieur Kurt Gerstein (1905-1945)

Die Begegnung mit dem SS- Offizier Kurt Gerstein, dem sechsten von sieben Kindern des nationalkonservativen Landgerichtspräsidenten Ludwig Gerstein (1868-1954), sprengt den gewohnten Rahmen der Erfahrungen und Vorstellungen im Gesamtspektrum des deutschen Widerstandes während der NS-Zeit.
     Die Tübinger Spruchkammer hatte in Fehlinterpretationen 1950 den SS- Obersturmführer Gerstein posthum als »Belasteten« eingestuft. Im Gnadenakt erfolgte 1965 die Korrektur zum »Entlasteten«. Inzwischen geht es weltweit um Rehabilitierung. Diese gipfelt im Antrag, Kurt Gerstein in den Kreis der »Gerechten unter den Völkern« aufzunehmen, den die israelische Instanz (Yad Vashem) in Jerusalem im Zusammenhang mit der Judenvernichtung als Ehrung nach einem Verfahren verleiht, in dem Ankläger und Verteidiger wie vor einem Gerichtshof auftreten. Zur »Sache Gerstein« ist der Vorsitzende ernannt, das bereits eröffnete Verfahren ruhte aber, nachdem der bestellte Ankläger um Entbindung von der Aufgabe bat. Den ernannten Nachfolger lähmen


Kurt Gerstein

anscheinend gewisse Schwierigkeiten. Diese beruhen in der Unaufklärbarkeit von nicht belegbaren, aber als möglich gedachten Verstrickungen, die für den erfolgreichen Widerstand im Inneren einer Zwangsherrschaft als unvermeidlich gelten dürften.
     Zur Tatsache, dass Gerstein seine dienstliche Funktion in der Mordmaschinerie als leitender Entseuchungsoffizier beim Hygienechef der Waffen-SS (Dr. Joachim Mrugowsky) behielt, nachdem er Tatzeuge der Verbrechen geworden war, sind Antworten nicht möglich, da es für Fragen nach der tatsächlichen Verstrickung seiner Person irgendwelche Anhaltspunkte nicht gibt.

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Als einsamer Widerstandskämpfer in SS- Uniform scheiterte er im In- und Ausland mit den wiederholten Bemühungen, auf die ungeheuerlichen Verbrechen aufmerksam zu machen, da niemand die Alarmrufe damals glauben wollte.
     Berichte und mündliche Darstellungen gegenüber der schwedischen Botschaft in Berlin, dem Evangelischen General- Superintendenten von Berlin, Otto Dibelius (1880-1967), und gegenüber anderen Kontaktpersonen der Kirchen blieben ohne Resonanz. Das Unfassbare schien unbegreiflich und die Wahrheit unglaublich.
     Ein Versuch, dem pästlichen Nuntius in Berlin persönlich die ihm zugänglichen Informationen über den Holocaust zu übermitteln, scheiterte an dessen ablehnender Haltung.

Erster Bericht über den Holocaust

Nach Kriegsende lieferte Gerstein im Mai 1945 einen genauen Bericht über den Holocaust, den ersten aus der Feder eines Augenzeugen überhaupt. »Wie gern wäre ich ihren Tod mitgestorben«, heißt es darin. Vieles, was man später von Überlebenden oder in Prozessen erfuhr, bestätigte die präzise Authentizität der erschütternden Angaben des Gerstein- Berichtes.

Unter bisher nicht exakt geklärten Umständen kam Kurt Gerstein am 25. Juli 1945 in französischer Gefangenschaft ums Leben.
     Gersteins Vater, der als preußischer konservativer Beamter noch 1944 beim Sohn den unbedingten Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten angemahnt hatte, musste 1946 zugeben, dass sein Filius im Recht war, als er konsequent sich verbrecherischen Befehlen verweigerte und auf sein Gewissen berief.
     Berlin, der mehrjährige Studien- und Aufenthaltsort von Kurt Gerstein - (Abschluss 1931: Dipl.-Ing. der Technischen Hochschule; Sitz der SS- Dienststelle Knesebeckstr. 43/44) - und die westfälische Stadt Hagen sind Schlüsselorte im Leben des Kurt Gerstein.
     In Münster am 11. August 1905 in eine renommierte preußische Beamtenfamilie hineingeboren, durchlebte Kurt Gerstein eine komplizierte Kindheit und Jugend. Zu den psychologischen Schwierigkeiten im Elternhaus, resultierend aus der mangelnden emotionalen Zuwendung der Mutter und der abschreckenden Dominanz des Vaters, kamen Anpassungsschwierigkeiten in der Schule und im Freundeskreis, verursacht vor allem durch den ausgeprägten Hang zur Selbstdarstellung.
     Eine erste und bleibende Stütze des suchenden Jünglings war die Kirche. In den Bibelkreisen fand Gerstein ab 1925 ein ideales Betätigungsfeld.
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Kurt Gerstein leitete Schülerbibelkreise (bis 1934) und hatte eine starke Faszination. Man nannte ihn »Vati« und begeisterte sich auch an seinem Kasperlespiel.
Mitglied der Bekennenden Kirche und der NSDAP

Als evangelischer Jugendführer, Mitglied der Bekennenden Kirche, Mitarbeiter und Mentor von Schüler- Bibelkreisen kam er, der seit Mai 1933 aus beruflichen Rücksichten, aber auch auf Drängen der Familie Mitglied der NSDAP war, bald in Konflikte mit dem braunen Regime. Öffentlich protestierte er scharf gegen die Auflösung der evangelischen Jugendbünde durch die Nationalsozialisten und wurde wegen regimefeindlicher Agitation auch wiederholt in Schutzhaft genommen (1936 Gefängnis und Zuchthaus Saarbrücken; 1938 KZ Welzheim bei Stuttgart).

Den ursprünglich kleinen Bauernkotten in Berchum am Stadtrand von Hagen auf dem Höhenrücken zwischen Ruhr und Lenne, den der Bibel-Kreis 1923 erworben hatten, hatte Gerstein unter Aufbringung der Kosten aus eigenem Vermögen durch einen Anbau erweitern lassen und als Freizeitheim für die von ihm verantwortete Schulung von Jungen aus dem Hagener Raum genutzt. Aus der NSDAP war er am 16. Oktober 1936 wegen staatsfeindlicher Betätigung ausgestoßen und am 9. Februar 1937 als Beamter aus dem Staatsdienst entlassen worden. Damit war seine berufliche Karriere als Bergassessor (seit 1935) zu Ende. Zusätzlich verhängte die Gestapo 1937 Redeverbot für das gesamte Reichsgebiet. Widerwillig wandte er sich auf Drängen des Vaters an das Oberste Parteigericht in München; sein Parteiausschluß wurde 1939 »im Namen des Führers« umgewandelt in »Entlassung«.
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Das 1936 am Deutschen Institut für Ärztliche Mission in Tübingen aufgenommene Studium, mit dem er in der Zukunft den Unterhalt der eigenen Familie (drei Kinder) sichern wollte, trug wesentlich zur späteren Verwendungsweise beim Hygieneinstitut der Waffen-SS bei. Der Diplomingenieur mit medizinischen Kenntnissen sollte dort rasch Karriere machen.
     Am 10. März 1941 wurde Kurt Gerstein zur Waffen-SS einberufen. Er hatte sich am 26. Juli 1940 als Kriegsfreiwilliger gemeldet, geleitet von der Überzeugung, der harten Ausbildung und politischen Indoktrination der SS gewachsen zu

Hochzeitsfoto, November 1937; rechts hinten Otto Dibelius
sein, aber Einfluss zu gewinnen, den verhassten Gegner im Kern seiner Verbrechen zu stellen. Den Anstoß gab die Mordserie im Euthanasieprogramm, dem seine Tante in Hadamar bei Limburg zum Opfer gefallen war. Nun wollte er den Blick hinter die Kulissen erzwingen und wissen, an welcher Stelle und durch wen diese Mordbefehle gegeben werden.

Beteiligt an der Beschaffung von Zyklon B

Der militärischen Ausbildung in Hamburg, Arnheim und Oranienburg folgte am 1. Juni 1941 die Kommandierung zum Hygieneinstitut der Waffen-SS.

Dort avancierte er bereits im Januar 1942 zum Chef der Abteilung Gesundheitstechnik, zuständig für den technischen Desinfektionsdienst und somit beteiligt an der Beschaffung von Zyklon B. Das aus Melassedickschlempe (Vinasse; eingedickter Destillationsrückstand von Melassebrennereien) durch Pyrolyse des Rübenbestandteils Betain (in Dessau seit 1924, in Kolin bei Prag seit 1935) hergestellte Blausäuregas Zyklon B wurde damals in ganz wesentlichen Maße zur erfolgreichen Bekämpfung von Ungeziefer verwandt. Im Großeinsatz bewahrte es die Frontgebiete vor Typhus- Epidemien.
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Durch systematische Entwesungsmaßnahmen bekam man die Läusefleckfieber- Gefahr mittels »Zyklon B mit Warnstoff« in den Griff und wendete katastrophale Massenverluste der Truppe ab. Der organisierte Missbrauch des Blausäuregases zum Völkermord setzte nach der Wannsee- Konferenz (20. Januar 1942) ein. Davor gab es eine Erprobung in Auschwitz. Zu der gerade damals für Gerstein höchstbedrohlichen Situation hat später der Hagener Superindendent Kurt Rehling, der zu Gerstein seit 1928 in engem Kontakt stand, berichtet:
     »Um Weihnachten 1941 war das Gericht, das Gerstein aus der Partei ausgeschlossen hatte, dahinter gekommen, dass der ehemalige KZ- Häftling sich mit einem Sonderauftrag in der SS befand, und wollte ihn liquidieren. Aber das war leichter gedacht als getan. Inzwischen hatte Gerstein moderne Sanitätszüge gebaut, Fleckfieberepidemien überwunden, in der Trinkwasserversorgung der Truppe wesentliche Verbesserungen geschaffen, so dass seine Dienststelle sich vor ihn stellte«.
     In Ausführung des Marschbefehls vom 8. Juni 1942, den Transport von 100 kg Zyklon B von Kolin bei Prag an einen Ort zu begleiten, der nur dem LKW-Fahrer bekannt ist, kam Gerstein ins Generalgouvernement und wurde im August 1942 Augenzeuge der Zustände und Vorgänge in den Vernichtungslagern Belzec und Treblinka. Wie schon erwähnt, scheiterten seine Versuche, über Diplomaten und geistliche Würdenträger
die Welt zu informieren. Zur Verstrickung in das Mordsystem führten in Juni 1943 scharfe Anweisungen, unter Umgehung der offiziellen Beschaffungswege große Mengen Zyklon B ohne Warnstoff aufzubringen. Für die monatlichen Sonderlieferungen (vom 30. Juni 1943 bis 31. Mai 1944 insgesamt 3 790 kg aus Dessau) ließ Gerstein die Rechnungen (nie bezahlt!) auf seinen Namen ausstellen, um Kontrollen zu umgehen und das Gift verschwinden lassen zu können. Befehlsverweigerung war tödlich, aufgedeckte Sabotage hätte Tod nach Folterverhören bedeutet. Darum bleibt ungesichert, ob es Gerstein gelungen ist, das Giftgas jeweils vollständig dem Tötungszweck zu entziehen.

Bekannt seit »Der Stellvertreter« von Rolf Hochhuth

Gersteins Leben, Wirken und Schicksal hat zuerst und in besonderem Maße jüdische Autoren (Saul Friedländer, Pierre Joffrey) beschäftigt. Kein Zufall. Sie suchten in seinem Schicksal Antworten auf die Frage, warum das Gewissen schwieg, als das Unheil zum Himmel schrie. Sie wollten wissen, wie das möglich war und warum höhere Rücksichten, abgeklärte Unverbindlichkeit, abgeschirmtes Unbeteiligtsein, Verschweigen oder geduldetes Zulassen dem organisierten Inferno des Bösen aus dem Weg gegangen sind.

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Die breitere Öffentlichkeit erfuhr von Gersteins Alarmrufen und Schicksal seit Rolf Hochhuths Uraufführung »Der Stellvertreter« in Berlin (Freie Volksbühne 20. März 1963).
     Die aufbegehrende Gewissensfrage hat 1948 der Verfasser als Werkstudent im Dessauer Unternehmen gestellt. 1943/44 betrug die Tageskapazität rund 1 000 kg Blausäure; Betriebspausen erzwangen Bombenschäden vom 28. Mai 1944, 16. Januar und 7. März 1945. In Gesprächen mit dem Stammpersonal lautete die Antwort: Aus Gründen des Arbeitsschutzes war die Abteilung Schlempevergasung schon immer vollständig abgeschirmt gewesen und nur unmittelbar Beschäftigten zugänglich. Das für den technischen Betriebsablauf eingesetzte Stammpersonal bestand aus ganz wenigen Personen, da Kriegsgefangene zur Arbeit eingesetzt waren, wie das überall in Kriegszeiten und in zahlreichen Industrien allgemein zu geschehen pflegt. Unter diesen Umständen bestand (selbst) für Mitarbeiter der Schlempevergasung ganz sicher weder Zeit noch Gelegenheit, Informationen über Geschehnisse außerhalb des Werkes zu erhalten. (H. Olbrich: »Pyrolyse von Melasseschlempe«, in: Geschichte der Melasse. Berlin 1970, S. 452-463).
     Der Nachwelt fehlt letztlich die Begreifbarkeit der einzigartigen Widerstandsfähigkeit, die es nur dem religiös geprägten Außenseiter Gerstein möglich machte, als SS- Offizier kriegswichtige Arbeit zu tun, aber gleichzeitig Befehle zu sabotieren, um unfassbaren Verbrechen entgegenzuwirken.
Eine abgründig verwirrende, zwiespältige, ja unheimliche Persönlichkeit, die in ständiger Konfliktgefährdung zwischen Anpassung und Widerstand sich als »Spion Gottes« verpflichtet sah, über den Holocaust Zeugnis abzulegen. Kurt Gerstein war ein Mann mit einem lauteren, edlen, aber gequälten Gewissen, dessen Andenken zu bewahren der Nachwelt zur Ehrenpflicht wird.

Literatur:
- Kurt Gerstein (1905-1945). Widerstand in SS- Uniform, Begleitheft zur gleichnamigen Ausstellung in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, April-August 2000, von Bernd Hey, Matthias Rickling und Kerstin Stockhecke, erschienen als Band 6 der Schriften des Landeskirchlichen Archivs, Bielefeld, Verlag für Religionsgeschichte, 2000

Bildquelle: Begleitheft zur Ausstellung in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 9/2000
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