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Bernhard Meyer
Pionier der Psychiatrie

Der Arzt Wilhelm Griesinger (1817-1868)

Griesingers Theorien wurden in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts von der deutschen Ärzteschaft erstaunt und gleichermaßen reserviert zur Kenntnis genommen. Vor allem von den Ärzten, die sich dem damals so genannten Irrenwesen verschrieben hatten. »Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten«, behauptete er und betrachtete die Empirie als die Grundlage aller Theorienbildung. Deshalb plädierte er für eine sich von der Philosophie lösende und den exakten Naturwissenschaften zuwendende Medizin. »Systeme kommen und gehen, die Tatsachen der Physiologie werden ewig bleiben.«
     Mit derartigen Paukenschlägen, für die es in Frankreich und England bereits einen gewissen wissenschaftlichen Boden gab und die von seinen medizinischen Altersgenossen, den noch jungen und unbekannten Ärzten wie Hermann Helmholtz (1821-1894), Ernst von Brücke (1819-1892), Rudolf Virchow (1821-1902), Ludwig Traube (1818-1876) und Emil du Bois-Reymond (1818-1896) ähnlich geführt wurden, meldete sich Griesinger als Außenseiter in der Psychiatrie.
     Von Hause aus war er Internist, wenngleich die Spezialisierung der Medizin in Fachrichtungen seinerzeit noch kaum


Wilhelm Griesinger

 
ausgeprägt war. Wer war dieser Seiteneinsteiger, der schon deswegen auf unverhohlenes Misstrauen bei den meisten seiner neuen, noch nicht sehr zahlreichen Fachkollegen stieß?
     Am 29. Juli 1817 als Sohn des Stiftungsverwalters des Hospitals in Stuttgart, der 20 000 Seelen beherbergenden Haupt- und Residenzstadt des Königreiches Württemberg, geboren, wandte er sich nach dem Abitur dem Medizinstudium in Tübingen zu. Hier begegnete er dem später von ihm so heftig attackierten spekulativen Element der romantischen Medizin.

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Wegen eines Hochrufs auf ein freies, einiges, mächtiges, republikanisches Deutschland vor einigen Professoren und dem Universitätsamtmann wurde ihm geraten, die akademische Lehrstätte zu verlassen, um einem Verweis zuvorzukommen.

Ruf als Vordenker und Reformer

Er setzte das Studium in Zürich fort, legte bereits mit 21 Jahren die erforderlichen Examina ab und begab sich sofort nach Paris, einem der damaligen Weltzentren moderner Medizin. Dort begegnete er dem berühmten Physiologen François Magendie (1783-1855), dessen empirisch- experimenteller Forschungsansatz ihn begeisterte. Ein Jahr später, 1839, finden wir ihn als praktischen niedergelassenen Arzt in Friedrichshafen am Bodensee.
     Wichtig für seine psychiatrischen Ambitionen wurde das 1840 unterbreitete Angebot, als Assistent in der 1834 eröffneten Nervenheilanstalt im Württembergischen Winnenthal (Neckarkreis) zu arbeiten. Nach zwei Jahren verließ er 1842 Winnenthal, um sich erneut als Praktiker, diesmal in Stuttgart, niederzulassen. In diesem Jahr begann seine wissenschaftlich- literarische Tätigkeit durch Mitarbeit am »Archiv für physiologische Heilkunde«,

deren Redaktion er 1847 übernahm. Die 1843 angenommene Privatdozentur in Tübingen bedeutete den endgültigen Übergang zur Psychiatrie. Sein Werk »Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten« (1845) fand weite Verbreitung und begründete seinen Ruf als Vordenker und Reformer in der Psychiatrie. 1847 zum außerordentlichen Professor berufen, heiratete er 1850 Josephine von Rom (1828-1887). Zusammen mit seiner jungen Frau zog es ihn im Sommer 1850 als Leibarzt des Vizekönigs Abbas Pascha (1813-1854) mit den gleichzeitigen Aufgaben als Direktor der medizinischen Schule in Kairo sowie als Präsident des gesamten Medizinalwesens nach Ägypten. Nach zwei Jahren kehrte er nach Tübingen zurück und erhielt 1854 das dortige Ordinariat.

Modell für eine Universitätspsychologie

1860 folgte er einem Angebot aus Zürich, die Professur für Innere Medizin zu übernehmen sowie das dortige Irrenwesen zu ordnen und einen Plan für den Bau einer modernen Irrenanstalt für den Kanton Zürich vorzulegen. Aus dieser Konzeption entstand 1865 das für lange Zeit in Europa vorbildliche Klinikum »Burghölzli« als Modell für eine Universitätspsychiatrie.

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Die Möglichkeit, seine Vorstellungen von moderner Behandlung und Betreuung von psychisch Kranken umzusetzen, brachte ihm die glücklichsten Jahre seines Lebens. Im Begriff, sich in Zürich auf Dauer festzusetzen, erreichte ihn im November 1864 der Ruf aus Berlin, an der Charité das schon einige Zeit unbesetzte Ordinariat für Psychiatrie zu übernehmen. Die Entscheidung fiel ihm schwer, zumal er in Zürich hervorragende Kontakte zum Chirurgen Theodor Billroth (1829-1894) unterhielt und sich sein reformerisches Anliegen auf gutem Wege befand. Aber die Charité war nun einmal die erste Adresse in Deutschland und damit für ihn verlockend, zumal er zwei Bedingungen stellen konnte: Der psychiatrischen Klinik ist eine Nervenstation anzugliedern, und die Irrenanstalt der Charité muss nach seinen Ideen reorganisiert werden. Da beide Forderungen akzeptiert wurden, trat Griesinger am 1. April 1865 sein Amt in Berlin an. Bis zu seinem Lebensende verblieben dem knapp 48-jährigen allerdings nur noch dreieinhalb Jahre ...
     An der Charité befand sich die Abteilung für Geisteskranke im Gebäude der so genannten Neuen Charité, einem für damalige Verhältnisse modernen, lang gestreckten, 1834 eingeweihten Zweckbau. Griesinger monierte sofort den unhaltbaren Zustand, dass Syphilitiker sowie erkrankte Gefängnis- und Zuchthausinsassen zusammen mit den psychisch Kranken untergebracht wurden.
Dementsprechend diskriminiert war der Ruf dieses Hauses. In der Irrenabteilung selbst fand Griesinger im Wesentlichen noch Methoden vor, die vom ersten Leiter der psychiatrischen Abteilung, Ernst Horn (1774-1848), stammten und von Karl Wilhelm Ideler (1795-1860), dem Vorgänger Griesingers, kaum verändert wurden. Das bedeutete vor allem, psychisch kranke Patienten weniger als Kranke, sondern vielmehr als selbstverschuldet Leidende, oft sündige, von Gott gestrafte, ungläubige Menschen niederster Stufe zu betrachten. Horn galt geradezu als Spezialist für die Konstruktion von mechanischen Zwangsmitteln (»Drehbett und -stuhl«), die als Beschränkungsmittel, als Einschüchterungs- und Schreckmethoden angewendet wurden. So fand Griesinger eine Irrenabteilung vor, die noch alle Züge einer Verwahrung und Abschottung der Erkrankten von der Außenwelt trug.

1865: Denkschrift an das Ministerium

Er musste über Gebühr Zeit und Kraft aufwenden, um der noch nicht zum festen Stamm der Medizin gehörenden Psychiatrie bei Behörden, aber auch bei der Charité- Verwaltung, Respekt und die Anerkennung als wissenschaftlich begründete Disziplin der Medizin zu verschaffen. Die Geisteskrankheiten umgab noch immer ein Schein des Rätselhaften, Unheimlichen und Unerklärlichen.

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Da lagen natürlich allerlei Verdächtigungen und Unterstellungen gegenüber den Erkrankten vor allem auf sexuellem Gebiet nahe, die zu ihrer Vernachlässigung als Kranke führten. Die von ihm verfasste Denkschrift an das Ministerium für geistliche, Schul- und Medizinalangelegenheiten vom Oktober 1865 gibt Einblick in seine angestrebten Reformen: Psychiatrisch Kranke benötigen eine klinische Heimstatt; das Pflegepersonal muss besser ausgesucht, geschult und bezahlt werden, Errichtung einer neuen Klinik nach modernen Grundsätzen der Psychiatrie. Die Denkschrift fand eine günstige Resonanz, doch es änderte sich auch in den nächsten Jahrzehnten kaum etwas an den kritikwürdigen Zuständen in der Psychiatrie. Die Charité- Verwaltung ignorierte sein Anliegen weitgehend, so dass diese Zustände noch fast 30 Jahre später einen der Anlässe zum »Charité- Boykott« von 1892/93 boten. (BM 12/95)
     Die von dem Franzosen Philippe Pinel (1745-1826) erstmalig vollzogene und 1839 von John Conolly (1794-1866) in Hanwall bei London wieder aufgegriffene freie Behandlung durch Abschaffung aller Zwangs- und Behinderungsmittel (Norestraint- Systems) hatte in deutschen Landen einen äußerst schweren Stand. Pinel setzte 1795 im Paris der Revolution durch, dass den vernachlässigten und gedemütigten Geisteskranken die Ketten abgenommen wurden. Zwar konnte sich auch Griesinger in den 40er Jahren nicht sofort und uneingeschränkt zu diesem Prinzip bekennen.
Dann aber wurde er ein konsequenter Anhänger und Verfechter der zwanglosen Betreuung und Behandlung pflegebedürftiger Menschen. Doch selbst der Jahreskongress der Psychiater 1868 in Dresden, an dem Griesinger aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr teilnehmen konnte, bot seinen zahlreichen Gegnern ein willkommenes Podium, seinen Reformvorschlägen eine mehrheitliche Abfuhr zu erteilen. Er musste in seinen letzten Lebensmonaten herbe Enttäuschungen verkraften in der zunehmenden Gewissheit, für seine Vorstellungen nicht mehr agieren zu können.

Wissenschaftlich brauchbarer Krankheitsbegriff

Dass er von staatlichen Instanzen, Dekanen und Anstaltsdirektoren hingehalten und auch hintergangen wurde, verspürte Griesinger eigentlich schon seit seinem Eintritt in die Psychiatrie. So legte er - neben Petitionen und Konzeptionen - besonderen Wert auf die Ausarbeitung und Verbreitung der wissenschaftlichen und methodischen Grundsätze seiner Disziplin als Wissenschaft. Er vervollkommnete das diagnostische und therapeutische Instrumentarium für ein erfolgreicheres Wirken seiner Fachkollegen, wodurch sich ihr Ansehen innerhalb der Ärzteschaft verbessern konnte.

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Schwergewicht legte Griesinger auf die Klärung eines für die klinische Psychiatrie brauchbaren Krankheitsbegriffs. Hierbei galt es vor allem, naturwissenschaftlich exakt zu erklären, welchem Organ das Phänomen des Irreseins zugeordnet werden müsse. Seine allgemeinste Ansicht formulierte er dahingehend, dass psychische Krankheiten Erkrankungen des Gehirns seien, wobei das Irresein ein Symptom der Hirnerkrankung ist. Das bedeutete u. a., psychische Störungen nicht, wie es üblich war, lediglich als Anhängsel oder bloße Folge von anderen Krankheiten zu sehen. Ebenso lehnte er die Ansicht ab, Krankheiten, und das traf vor allem auf psychiatrische zu, seien vor allem aus sündhaftem Verhalten und gotteslästerlichem Unglauben des Betroffenen entstanden.
     Griesinger folgte dem dialektischen Herangehen Hegels, wonach Tatsachen das Denkgebäude bestimmen sollten. Er wollte zu diesen Tatsachen durch Empirie und Experiment gelangen. Wie keiner vor ihm, kombinierte er klinische, physiologische und pathologische Betrachtungen zu einem Gedankengebilde, um auf diese Weise Seelenstörungen erklärbarer zu machen. Als überzeugter Anhänger der Physiologie übertrug er z. B. das Reflexprinzip in sein Fachgebiet, um so psychische Funktionen zu erklären.
Zu den Großtaten der Gehirndiagnostik zählte unter diesem Aspekt seine grundsätzliche Unterscheidung der organischen Hirnerkrankungen in »diffuse« und »herdartige« Prozesse. Dieser methodische Ansatz gilt bis heute in der Psychiatrie. Wegweisend auch die »Erschließung der Gleichartigkeit der nervalen Prozesse in Hirn und Rückenmark« als Voraussetzung von Krankheiten, die bei unterschiedlichen Gruppen von Geisteskranken wiederkehren.1)
     Am 29. Januar 1867 gegründete er die »Berliner medicinisch- psychologische Gesellschaft« (seit 1879 »Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten«: seit 1933 »Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie«) und wurde ihr Vorsitzender. Im gleichen Jahr gab er die Nummer 1 des »Archivs für Psychiatrie und Nervenkrankheiten« heraus. Beide Gründungen erwiesen sich als äußerst vorteilhaft für die Anerkennung und Strukturierung des Fachgebiets im kommenden Deutschen Reich.

Ehrengrab der Stadt Berlin

Auf dem Höhepunkt seines fachlichen und organisatorischen Wirkens erkrankte Griesinger im Sommer 1868 an Perityphlitis (ins Nachbargewebe ausgedehnte Entzündung des Blinddarms).

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Nach der Operation stellten sich Wunddiphtherie und eine Entzündung des peripheren Nervensystems ein, die zu einer vollständigen Lähmung der willkürlichen Muskulatur führte. Am 26. Oktober 1868 starb Wilhelm Griesinger. Seine letzte Ruhestätte fand er in einem Ehrengrab der Stadt Berlin auf dem Alten Kirchhof der St. Matthäus- Gemeinde in der Großgörschenstraße (Schöneberg). Für die Durchsetzung seiner Reformpläne, die in seiner dreieinhalbjährigen Tätigkeit in Berlin erst zur vollen Reife gelangten, war sein Leben zu kurz. Carl Westphal (1833-1890), sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl und als Vorsitzender der Gesellschaft, arbeitete in den nächsten zwei Dezennien engagiert in Griesingers Sinne.
     Das Wirken Wilhelm Griesingers trug wesentlich zur Entwicklung der Psychiatrie bei. Bewundernswert sein Konzept der völligen Beseitigung jeden Zwanges gegenüber psychisch Kranken. Seine Mitstreiter und Biografen sprechen von Geduld und sanfter Bestimmtheit gegenüber den Kranken, Gemütswärme, aufmerksamem Zuhören und meisterlicher Beherrschung des Befragens. Attribute, die damals keineswegs das Bild des Irrenarztes prägten. Treffend deshalb der Satz von Rudolf Thiele (1888-1960), neben Karl Bonhoeffer (1868-1948) einer seiner Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl: »Griesinger war der glänzendste Vertreter der deutschen Psychiatrie seiner Zeit, ein von humanitärem Geist erfüllter Arzt, ein von tiefem Ernst getriebener Wahrheitssucher und großer Anreger.«2)
Die Charité ehrte einen ihrer großen Ärzte und Wissenschaftler mit der Aufstellung einer Bronzebüste vor der heutigen Klinik für Psychiatrie und Neurologie. Der Sockel trägt die auf Blaise Pascal (1623-1662) zurückgehenden Worte »Die großen Gedanken kommen aus dem Herzen« und den Spruch »Denken macht frei«. Die Stadt Berlin verlieh 1893 seinen Namen an die Nervenklinik Wuhlgarten und nannte das umliegende Gelände »Wilhelm-Griesinger- Park«. 1961 erhielt eine Straße in Spandau seinen Namen.

Quellen:
1 Alexander Mette: Wilhelm Griesinger, Leipzig 1976. S. 54
2 Rudolf Thiele, Wilhelm Griesinger, In: Große Nervenärzte, Bd. 1, Stuttgart 1956, S. 126

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 8/2000
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