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Horst Wagner
Berlin vor 100 Jahren
Neuer Rektor, neues E-Werk

Berliner Chroniken datieren für den 1. August 1900 zwei Ereignisse. Aber nur eins fand wirklich an diesem Tag statt: Der Theologieprofessor Adolf von Harnack (1851-1930) wurde zum neuen Rektor der Berliner Universität gewählt. Es war, wie die »Vossische Zeitung« bemerkte, schon die 90. Rektorenwahl seit Gründung der Alma mater im Jahre 1810. Für den 49-jährigen Harnack sei die Wahl eine besondere Ehre, »weil sie ihm in ungewöhnlich jungen Jahren zutheil wird«. Aber auch, weil »von unwissenschaftlicher Seite« versucht worden sei, Harnack den Platz an der Berliner Universität streitig zu machen, weil der Kirchenhistoriker kein genügend gläubiger Professor sei. Ausschlaggebend für die Wahl seien aber schließlich Harnacks Verdienste gewesen, die er mit seiner vierbändigen Geschichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften und mit seiner Festrede zu deren zweihundertstem Jahrestag am 20. März 1900 (BM 3/2000) erworben habe. Über Harnacks Hauptwerk, das 1886 erschienene »Lehrbuch der christlichen

Dogmen- Geschichte« bemerkte die »Vossische«: »Wer zu erfahren wünscht, ... wie eine stete Wechselwirkung zwischen dem Gange unserer Kultur und der Lehre des Christentums stattgefunden hat«, der werde aus diesem Werk »nicht allein reiche Belehrung für den Geist, sondern auch Anregung für das Herz gewinnen«.
     Das andere Ereignis, das eigentlich am 1. August 1900 stattfinden sollte (und unter diesem Datum z. B. auch im Berlin- Kalender 2000 aufgeführt wird), fand »wegen eines Maschinendefektes« erst 14 Tage später statt: Die Inbetriebnahme des Städtischen Elektrizitätswerkes in Berlin- Charlottenburg. »Es fehlt noch Strom«, überschrieb der »Berliner Lokal- Anzeiger« eine Meldung in seiner Abendausgabe vom 1. August. Weil das E-Werk in Charlottenburg »noch immer nicht im Gange« sei, habe der elektrische Betrieb auf den Straßenbahnlinien Küstriner Platz - Wilmersdorf und Schlesischer Bahnhof - Charlottenburg nicht, wie vorgesehen, an diesem Mittwochmorgen aufgenommen werden können. Dies erfolgte erst nach Inbetriebnahme des E-Werkes am 14. August. Aber mit dem Strom für die beiden genannten Linien, so der »Lokal- Anzeiger« vom 15., sei das Werk auch schon ausgelastet. »Die Abgabe von Elektrizität an Private zur Beleuchtung und zu Kraftzwecken wird erst im nächsten Jahr erfolgen können.«
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Nahverkehrs- Fortschritte

Trotz solcher Schwierigkeiten ging es im Berliner Nahverkehr weiter flott voran. So berichtete der »Lokal- Anzeiger« am 5. August, dass der am 13. des Vormonats mit einer ersten Probefahrt aufgenommene elektrische Betrieb auf der Wannseebahn (BM 7/2000) nun »ohne jede Stockung und Störung« fortgesetzt werde. Solche vorläufig noch als »Experiment« gedachten Fahrten gäbe es jetzt jeden Tag »deren drei zwischen Berlin und Zehlendorf und zurück«. Am 30. August brachte der »Lokal- Anzeiger« einen Bericht »Von der Unterpflasterbahn am Potsdamer Bahnhof«, in dem es hieß, dass die »Arbeiten der Unterpflasterbahnstrecke der Elektrischen Hochbahn in hohem Maße das Interesse des vorübergehenden Publikums« erregen. Schließlich sei es »die erste unter dem Straßenniveau laufende Eisenbahnstrecke, welche die Reichshauptstadt besitzen wird. Der Tunnel, der an der Grenze der Grundstücke Köthener Straße 12 und 13 beginne, habe eine Höhe von 3,30 m und eine Breite von 6,5 m, während der vorläufige Endbahnhof die doppelte Breite von 13 m aufzuweisen hat«. Zu Weihnachten solle die Unterpflasterbahnstrecke »ganz und gar beendet« sein. Dann entfiele auch der Bauzaun, »der sich hier etwa auf der Hälfte des Droschkenplatzes am Potsdamer Bahnhof hinzieht«.

Damit wäre dann ein wichtiger Abschnitt der ersten Berliner Hoch- und U-Bahn- Strecke fertig gestellt worden, deren durchgehender Betrieb zwischen Stralauer Tor und Zoologischem Garten am 15. Februar 1902 aufgenommen wurde. (BM 4/2000)

Trauer um Wilhelm Liebknecht

Zu einem bewegenden Ereignis gestaltete sich am Sonntag, dem 12. August, die Beisetzung des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Wilhelm Liebknecht (1826-1900), der am 7. August im Alter von 74 Jahren an einem Gehirnschlag gestorben war. »Die Schätzung über die Zahl der Teilnehmer an dem Leichenbegängnis«, so hieß es in einer Mitteilung des SPD- Parteivorstandes, »variieren zwischen 120 000 und 150 000 Leidtragenden, die den mehr als vierstündigen Marsch von dem Sterbehaus Kantstraße 160 in Charlottenburg bis zum Friedhof in Friedrichsfelde in würdevoller Ruhe zurücklegten und bis auf den Letzten an der Gruft >ihrem Wilhelm< den letzten Scheidegruß darbrachten«. Schon am Sonnabend habe, so die »Vossische Zeitung« in ihrem ausführlichen Bericht, der bevorstehende Trauerzug »das geschäftliche Leben in den Markthallen und in den Blumenständen sichtlich beeinflusst«. Manchenorts sei »das Blumenmaterial, insbesondere das rothfarbige«, schon frühzeitig ausverkauft gewesen.

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Aus »Berliner Lokal- Anzeiger«, 5. August 1900
»Galt es doch, die rothen Schleifen, die durch Polizeigebot von der Straße verbannt wurden, durch gleichfarbige Blumen zu ersetzen.« Lange schon vor der angesetzten Zeit seien »am Sonntag Stadtbahnzüge und Straßenbahnwagen, die in die Richtung zur Kantstraße führten, überfüllt« gewesen. »Kurz vor 12½ Uhr wurde der Sarg Liebknechts auf den zweispännigen Leichenwagen gehoben, der sich rasch mit kostbaren Kränzen und Sträußen füllte. Kutschen, 13 an der Zahl, mit Leidtragenden und Kranzspenden folgten. Hinter den Wagen reihten sich in schier endlosem fünf- und sechsgliedrigen Zuge die Genossen an«. Gegen 6 Uhr abends habe der Trauerzug den Friedhof Friedrichsfelde erreicht. Nach der Trauerfeier in der Leichenhalle, auf der August Bebel (1840-1913) die »37-jährige unermüdliche, anregende und befruchtende Thätigkeit« Wilhelm Liebknechts würdigte, und auf der auch zahlreiche ausländische Trauergäste, darunter der bekannte österreichische Sozialdemokrat Victor Adler (1852-1918) und Marx' Schwiegersohn Paul Lafargue (1842-1911) sprachen, ergriff am offenen Grab der Berliner SPD- Reichstagsabgeordnete Paul Singer (1844-1911) das Wort.
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Was sonst noch geschah

Gleich zum Monatsbeginn berichtete der »Lokal- Anzeiger« über den Prozess gegen eine »falsche Gräfin«, eine Hochstaplerin, die in den Tanzlokalen in Halensee verkehrte, allerlei Verehrer aus dem Adelsstand und sonstigen vornehmen Kreisen an sich zog und ihnen »übel mitspielte«. Auch »ein junger Leutnant war ihr ins Garn gegangen«, von dessen Mutter sie sich 200 Mark geben ließ. »Doch der Bursche des Leutnants kam hinter den Streich ... Es stellte sich nun heraus, dass die gefährliche Dame die noch jugendliche aber schon mehrfach vorbestrafte Arbeiterin Amalie Strauß war, die erst mit Erfolg die Rolle der Gräfin gespielt hatte. Sie wurde gesucht, weil sie noch ein Jahr Gefängnis zu verbüßen hatte, und wurde nun vom Berliner Landgericht in Moabit »unter Wegfall der einjährigen Gefängnisstrafe zu zwei Jahren sechs Monaten Zuchthaus, 100 Mark Geldstrafe, Ehrverlust und Polizeiaufsicht« verurteilt.
     Am 14. August meldete der »Lokal- Anzeiger«, dass am Königlichen Opernhaus Unter den Linden »jetzt an allen Seiten elektrische Bogenlampen angebracht« werden, sodass der Platz vor dem Haupteingang in tagesheller Beleuchtung erstrahlen wird.
     Für die auf kaiserlichen Befehl zum Auslandseinsatz in China weilenden deutschen Truppen, die nach einem Wort Wilhelms II. (1859-1941, Kaiser ab 1888) dort »wie die Hunnen« wüten sollten, wurde nach einem Bericht des »Lokal- Anzeigers« vom 17. August Liebesgaben gesammelt: In dem als Sammelstelle eingerichteten Stadtbahnbogen 97 herrsche ein reges Treiben.

»Schwer beladene Geschäftswagen der bekanntesten Firmen der verschiedenen Branchen schaffen wohlverpackt und absendefertig Kisten voller Wein, Conserven, Cigarren, Bekleidungsstücken und Gebrauchsgegenständen jeder Art heran ... Der Rhein und die Mosel entsenden den Saft ihrer Reben zur Stärkung und Erquickung von Deutschlands im fernen Osten kämpfenden Söhnen.«
     Am Abend des 28. August schließlich brachte das Blatt einen mehrspaltigen Bericht von den Denkmalsenthüllungen in der Siegesallee. »Die Enthüllung der drei eben vollendeten Gruppen«, bei denen es sich um Standbilder von Kurfürsten aus dem Hause Hohenzollern handele, »vollzog sich heute (Dienstag) vormittag, begünstigt von herrlichem Wetter, in Gegenwart des Kaisers und seines glänzenden Gefolges ... Die Umgebung des Kemperplatzes, den ein tausendköpfiges Publikum füllte, war von einer Abtheilung berittener Schutzleute abgesperrt. Punkt 10 Uhr fuhr das Kaiserpaar in offener Zweispänner- Equipage bei dem an der Westseite gelegenen Denkmal des Kurfürsten Friedrich I. (1415-1440) vor. Der Kaiser, welcher äußerst wohl aussah, trug den dunkelblauen Attila der Garde- Husaren ...« Bei der anschließenden Feier habe dann Wilhelm II. »humoristische Reminiscenzen aus dem Leben seiner Ahnen« erzählt und die Denkmalschöpfer ausgezeichnet. »Professor Ludwig Manzel erhielt den Rothen Adler- Orden vierter Klasse mit der Krone, Professor Otto Lessing den Königlichen Kronen- Orden und Bildhauer Johannes Götz den Rothen Adler- Orden vierter Klasse.«
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 8/2000
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