59   Berliner Gespräche Rudolf Dörrier  Nächstes Blatt
Wie es bei Dörrier heißt ...

Der Pankower Chronist über sein Leben

Rudolf Dörrier wurde am 18. September 1899 in Braunschweig geboren. Er durchlebte fünf Gesellschaftssysteme auf deutschem Boden. Dem Kaiser diente er noch als Soldat, in der Weimarer Republik war er Buchhändler im Freistaat Braunschweig, dann in Berlin. Das NS-Reich überstand er, mit einer Jüdin verheiratet, als Werbeleiter eines bedeutenden Fachverlages und wieder als Soldat. Nach der Befreiung wurde er bald Leiter der Stadtbezirksbibliothek Pankow. Mit dem Eintritt ins Rentenalter führte er hauptamtlich die von ihm nach dem Krieg gegründete Chronik Pankow und baute bis zu seinem Ruhestand nach 1989 das Pankower Museum auf. Er lebt heute hochgeehrt in Pankow und wird viel zitiert.

Als Chronist haben Sie doch bestimmt noch Erinnerungen an Ihre Zeit als Untertan des Kaisers. Haben Sie ihn einmal gesehen?
     Rudolf Dörrier:
Aber gewiss. Ich war übrigens nicht nur Untertan des Kaisers, sondern auch des Herzogs von Braunschweig. 1913 stand ich mit einer blaugelben Schärpe - das waren die Farben des Herzogtums - an der Straße und jubelte dem Kaiserpaar zu.

Der Kaiser hatte seine einzige Tochter Auguste Victoria mit dem Welfenherzog verheiratet. Sein Enkel ist derzeit sehr oft in den Bunten, weil er sich herumprügelt.

Sie haben dann in der einzigen Braunschweiger Hofbuchhandlung gelernt, mussten aber die Lehre nach einem Jahr wegen des Krieges unterbrechen und haben, wie Sie sagen, aus Braunschweig ihren gesunden Menschenverstand mitgebracht. Stammt der von Ihrem Vater Wilhelm, der Handwerksmeister war?
     Rudolf Dörrier:
Ganz bestimmt. Er war ein Maler, ein guter Dekorationsmaler, der sich mit Kirchenausbesserungen beschäftigte. Von seiner großen Braunschweiger Malerfirma wurde er sogar nach Berlin geschickt. Er war so etwas wie ein Restaurator. Damals war dafür noch kein akademisches Studium wie heute notwendig. Beim Bau der neoromanischen Braunschweiger Burg Dankwarderode hat mein Vater sogar an der Originalgestaltung gearbeitet. Das war noch vor meiner Geburt, im vorvorigen Jahrhundert. Er starb an der Spanischen Grippe.

Wie erlebten Sie das Ende des Kaiserreichs?
     Rudolf Dörrier:
In englischer Gefangenschaft auf französischem Boden. Im September 1918 wurde ich bei Cambrai in Nordfrankreich gefangen genommen. Bis Februar März 1919 haben die Engländer uns sehr hungern lassen, dann wurde es besser, und wir durften sogar Pakete kriegen.

BlattanfangNächstes Blatt

   60   Berliner Gespräche Rudolf Dörrier  Voriges BlattNächstes Blatt
Aber vorher, von Juni 1917 bis September 1918, hatte ich den Krieg im Graben und bei Angriffen erlebt, bin im dicksten Dreck gewesen und den Granaten zufälligerweise entgangen. Ich habe 1914 die Begeisterung erlebt, als die Regimenter auszogen, und bin neben der Musik, neben dem Pauker hergelaufen, fand das alles wunderbar. 1917 wurde ich eingezogen, ich hatte schon am zweiten Tag genug davon. Der, der im Oktober 1919 zurückkehrte, war ein anderer als der, der im Frühsommer 1917 in den Krieg gezogen war: ernüchtert und erschüttert. Kriege sind das Fürchterlichste und Grausamste. Der Mann, auf den ich geschworen hatte, der Mann, der sich deutscher Kaiser nannte, ging als erster über die Grenze und floh. Er hat mich also verraten. Diese Zusammenhänge haben mich damals als Jugendlichen sehr stark beschäftigt. Damit ging auch meine bürgerliche Haltung über Bord, und ich wandte mich nach links, ohne damals einer Partei anzugehören. Ich kann sagen, mein Herz schlug links.

Sie haben dann in Braunschweig Ihre Ausbildung fortsetzen können und in verschiedenen Verlagen gearbeitet. Wie kamen Sie denn nach Berlin?
     Rudolf Dörrier:
1926 habe ich in den Ferien im Buchhändlerheim in Ahlbeck drei Tage vor der Abfahrt auf der Seebrücke ein Mädchen kennen gelernt. Sie war aus Berlin, und es war das erste Mal, dass ich so eine Idee hatte, die könnte man heiraten. Sie hieß Lily Wassmund, und ihr Vater war ein kleiner Unternehmer, sie wohnten in der Binzstraße, und so bin ich 1927 aus Braunschweig erstmals nach Pankow gekommen.

1929 ging sogar mein Traum in Erfüllung, im Julius-Springer- Verlag, dem bedeutenden Wissenschaftsverlag, zu arbeiten. Wir heirateten im August 1930, ich war knapp 31, sie sieben Jahre jünger. Meine Schwiegereltern, die jüdischer Herkunft waren, hatten ein kleines Bedenken gegen den Goj, aber eigentlich spielte das keine Rolle. Es waren sehr liberale Leute, das gefiel mir alles sehr gut. Noch als Junggeselle hatte ich die Wohnung in der Hiddenseestraße bezogen. Ich war der erste Mieter im neuen Haus. Wir haben hier bis zu Lilys Tod im Jahre 1993 gemeinsam gelebt, und ich wohne noch heute hier.

Sie schützten durch Ihre Ehe, an der Sie trotz aller Anfeindungen festhielten, Ihre jüdische Frau. Ihre Schwiegereltern Margarete und Julius Wassmund wurden im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert und starben 1943. Unter diesen Umständen im Julius-Springer- Verlag zu arbeiten war sicherlich sehr kompliziert.
     Rudolf Dörrier:
Von 1929 bis 1945 war ich in diesem Verlag, der Technik, Naturwissenschaft und einige Geisteswissenschaften und vor allem Medizin verlegte. Natürlich mussten auch einige Nazischriften gedruckt werden. Ab 1935 wurde für Verlagsmitarbeiter die Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer und damit der Ariernachweis Pflicht. Den musste ich auch für meine Frau rückwirkend erbringen, was sich eine Zeitlang hinziehen ließ. Inge Lammel hat unsere Familiengeschichte aus dieser Zeit in der Dokumentation »Jüdisches Leben in Pankow« aufgeschrieben.

BlattanfangNächstes Blatt

   61   Berliner Gespräche Rudolf Dörrier  Voriges BlattNächstes Blatt
Der Verlag erwies sich als ein Schutzraum, in dem man sogar in dieser Zeit irgendwie normal arbeiten konnte. Die Nazis hatten sich wegen des internationalen wissenschaftlichen Renommees an Springer nicht so sehr herangewagt. Mich selbst rettete, als das Sippenamt mich da als jüdisch versippt heraushaben wollte, dass ich zum Militär eingezogen wurde. Ich dachte, solange ich Soldat bin, passiert mir und meiner Frau nichts. Ich wurde aber nach dem Sieg über Frankreich wieder entlassen und uk gestellt, d. h. unabkömmlich wegen kriegswichtiger Arbeit. Die Besitzer des Verlages, die selber nicht ganz arisch waren, hatten es riskiert, mich wieder einzustellen. Ich blieb bis Anfang 1944, wurde wieder vom Militär eingezogen und Januar 1945 entlassen. Da hatten sie rausgekriegt, dass ich jüdisch versippt war. Springer stellte mich nochmal ein. Es ist schon komisch, wie ich mich diese Zeit durchgeschlängelt habe.

Die letzten Tage, als der Kampf um Berlin schon begonnen hatte, haben Sie im Bunker auf dem Hof Ihres Wohnhauses zugebracht!
     Rudolf Dörrier:
Unser Hausbesitzer, der Gerüstbauer war, hat veranlasst, dass auf dem Grundstück ein kleiner Betonbunker angelegt wurde, zu dem jeder Mieter einen Anteil brachte. Das war ein richtiger Bunker, und wir haben dort, zuerst wegen der Bombardierungen die Nächte und dann auch die Tage um den 20. April herum verbracht.


Rudolf Dörrier am 4. Mai 2000 in seiner Pankower Wohnung

 
Es kamen Granateneinschläge von den Russen und von der Flak auf dem Bunker im Humboldthain, wir standen dauernd unter Beschuss. Am 22. feuerte auf der Berliner Straße noch ein deutsches Geschütz, bevor es Richtung Stadtzentrum fuhr. Wenige Stunden später wurde es ziemlich still. Plötzlich schlug jemand gegen die Tür, da dachten wir, es könnten die Russen sein.

BlattanfangNächstes Blatt

   62   Berliner Gespräche Rudolf Dörrier  Voriges BlattNächstes Blatt
Meine Frau, die als Jüdin die ganze Nazizeit überlebt hatte und nun aus einem falschen Gefühl keine Angst mehr hatte, ging zur Tür, schob den schweren Riegel zurück. Da war ein voll bewaffneter deutscher Unteroffizier, und der fragte, ob Russen drin seien. Als wir ihm erklärten, dass dies ein ganz ziviler Bunker sei, ging er wieder. Zwei Stunden später, in der Morgendämmerung, bin ich rausgegangen. Wir hatten auf den Beton des Bunkers noch Erde raufgekippt, viel Arbeit, um den ganz bombensicher zu machen. Da bin ich draufgeklettert. Plötzlich bewegte sich etwas auf der Berliner Straße Die Russen waren da!

War das für Sie ein Zusammenbruch oder die Befreiung?
     Rudolf Dörrier:
Zunächst waren das die Russen. Als es nämlich zwei, drei Stunden später wieder an die Bunkertür klopfte, waren sie da, die ersten. Sie kamen rein, kuckten nur. Weiter war nichts. Der zweite Trupp, der kam, da fragten sie schon: Verheiratet, verheiratet, du nicht verheiratet, komm mit. Sie ging mit. Am Anfang haben sie das noch gefragt. Mir scheint schon, dass den Soldaten die Frauen freigegeben worden sind. Wenn ich natürlich vergleiche, was wir in der Sowjetunion angerichtet haben ...
     In der Nacht kam noch einmal einer in den Bunker, ein Chargierter, Feldwebel oder so. Der sprach ein sehr gutes Deutsch, wir haben uns unterhalten, da war es gar nicht wie der Eroberer. Ich sah ihn nicht so. Wir haben alle gemeinsam noch Wein getrunken.

Das war eine Siegesfeier, an der wir uns beteiligt haben. Für meine Frau und für mich war das wirklich eine Siegesfeier.

Wie ging es dann mit Ihnen und den Büchern weiter?
     Rudolf Dörrier:
Erstmal verdingte ich mich bei meinem Hausbesitzer, dem Gerüstbauer, der das Kino Tivoli für die Siegesfeier am 9. Mai herrichten musste. Bei den Russen hieß es gleich »Kultura«. Mir ging es um die Arbeiter- Lebensmittelkarte, hab da zwei Wochen Leitern getragen. Ende Mai habe ich meine Fühler ausgestreckt, und da hieß es, der Bezirksrat für Volksbildung sitzt in der Wahnschaffestraße (seit 1962 Leonhard-Frank- Straße) in einer Villa. Ich wollte einfach wieder mit Büchern arbeiten und helfen, den ganzen Nazischrott loszuwerden. Ich melde mich also an und trage meine Bewerbung vor, berichte über Springer und so weiter. Der Mann, der mir gegenübersaß, war der neue Bezirksrat Ernst Winter, ein Braunschweiger. Schnell war eine gute Verbindung da! Der dritte Braunschweiger, dann auch Pankower, war ja Otto Grotewohl (1891-1964). Und der vierte namens Leo Rehne war Direktor der Lehrerbücherei am Alexanderplatz, sogar ein Mitschüler.
Die Amtsleiterstelle war seit vierzehn Tagen besetzt. Von einem relativ jungen Mann. Ich wurde ihm gleich als Stellvertreter beigeordnet, übernahm die Betreuung der privaten Leihbuchhändler, musste auch Schriftstellerausweise ausgeben.

BlattanfangNächstes Blatt

   63   Berliner Gespräche Rudolf Dörrier  Voriges BlattNächstes Blatt
Es meldete sich ein Heer von Leuten, die plötzlich schreiben wollten, Verleger suchten, die neue Freiheit auskosten wollten. Ich kann mich erinnern, dass es Frau Lilly Becher sehr schwerfiel, bei mir hier um die Erlaubnis für ihren Mann Johannes Robert Becher (1891-1958), den späteren Kulturminister, nachzusuchen. Sie kam mit dem Auto angerauscht, zu einer Zeit, als kein Mensch Auto fuhr. Jedenfalls hatten wir hier sehr viele Künstler und Schriftsteller, das lag auch daran, weil es hier viele Villen gab, die besseren Wohnungen, und die Künstler, die aus der Emigration zurückströmten, wurden hier angesiedelt. Ich habe mich sehr rasch reingefunden in die Arbeit, und als mein Chef an Lungenschwindsucht starb, wurde ich Leiter. Nach der Vereinigung von KPD und SPD, bin ich in die SED eingetreten. Ich dachte - jetzt ist es an der Zeit, auch wenn ich nichts von der Theorie kannte und kein Kommunist gewesen bin. Ich habe eines schon damals empfunden, nämlich: Wenn du nicht drin bist, dann erfährste nischt.

Wie stand es damals um den Zustand der öffentlichen Bibliotheken?
     Rudolf Dörrier:
Zunächst muss man von der beispiellosen Vernichtungswut der Nazis reden. Die besten Bücher, auch aus den Bibliotheken, waren ihr zum Opfer gefallen. Es ging zunächst darum, die Bestände wieder aufzubauen.

Zuerst kamen die meisten neuen Bücher, Klassiker, darunter auch russische, aus den sowjetischen Verlagen, dem für fremdsprachige Literatur, dem der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SWA-Verlag). Aber bald kam Dietz für die politischen Schriften, Aufbau wurde gegründet und so weiter. Vieles, was fehlte, jüdische Autoren beispielsweise, haben wir aus verlassenen Wohnungen geholt, die vor Plünderern zu schützen waren. Es gab einen Beschluss, diese Buchbestände zu sammeln. Um alle Lücken zu füllen, war das natürlich zu wenig, aber die wichtigsten Autoren, die Brüder Mann, Bassermann, Toller und andere, sie waren noch da. Auch die Naziliteratur, wie diese dicke Schwarte »Mythus des Zwanzigsten Jahrhunderts« von Rosenberg, bekamen wir massenweise angeliefert, die haben wir dann selbst entfernt. Das hatte man ja teilweise auch zur Konfirmation verteilt. Typisch war auch, dass die meisten dieser Bücher niemals gelesen waren, als Fachmann merke ich sofort, wie ein Buch knistert, wenn man es zum ersten Mal aufschlägt. Hitlers »Mein Kampf« wurde dann immer gleich weitergereicht an den russischen Kulturoffizier im Stadtbezirk, das war bei uns Kapitän Joffe. Der beaufsichtigte die gesamte Kultur und war einer von den ganz ruhigen Leuten, der hervorragend Deutsch sprach, und mit dem ich gut zusammenarbeitete. So langsam haben wir mit dem, was erschien, unsere Bestände aufgebaut, das war damals kein Geldproblem.
BlattanfangNächstes Blatt

   64   Berliner Gespräche Rudolf Dörrier  Voriges BlattNächstes Blatt
Sie haben dann eine Reihe kleinerer Büchereien in Wohnnähe geschaffen, damit die Kinder und die Erwachsenen es nicht so weit hatten.
     Rudolf Dörrier:
Das war Programm. Beispielsweise haben wir in Wilhelmsruh die erste Freihandbibliothek des Stadtbezirks eröffnet. Zehn Jahre später wurde es notwendig, wieder zu zentralisieren, einfach weil im Stadtbezirk eine größere Bibliothek mit ihrem viel differenzierteren Bestand gebraucht wurde. Natürlich reichte es auch da nicht aus, von den sowieso fehlenden Autoren und Büchern einmal abgesehen. Die kleinen Bibliotheken wurden nicht geschlossen, einige wurden aber auf Kinderbüchereien umgestellt.

Wie empfanden Sie damals die Arbeit der Berliner Verwaltung?
     Rudolf Dörrier:
Wir hatten eine sehr gute zentrale Leitung. Ich erinnere mich an Lotte Bergtel-Schleif (1903- 1965), eine sehr engagierte, sehr gebildete Frau. Sie hatte mit ihrem Mann Widerstand geleistet und war knapp der Hinrichtung entgangen. Sie hat viel für das Bibliothekswesen im Osten getan. Sie war vernarrt in ihre Arbeit. Ich fand, dass wir auf dem richtigen Wege waren, den Nazischutt, den geistigen Schutt zu beseitigen und dann später in der DDR unseren sozialistischen Weg zu gehen. Politik hatte mich erst mal nur am Rande interessiert. Richtig politisch wurde das, als die Rosinenbomber kamen, im schärfsten kalten Krieg.

Logistisch habe ich das bewundert. Aber jetzt machten sie die Versorgung der Stadt, und vorher hatten dieselben Flugzeuge die Bomben abgeworfen! Wir haben hier unsere Arbeit getan. Bis 1965 habe ich die Stadtbezirksbibliothek geleitet, das war natürlich auch eine politische Arbeit.

Der Name Dörrier steht heute auch für die Pankower Chronik. Wie kamen Sie zur Chronik?
     Rudolf Dörrier:
Das war anfangs ein reines Abfallprodukt. Das alte Rathausarchiv war ja leider im Krieg verbrannt. Praktisch ging das so vor sich, dass ich sammelte und die laufenden Ereignisse aufgeschrieben habe. Und das stand dann in der kleinen Pankower Chronik von 1949, die die vier Jahre des Aufbaus dokumentierte. Diese vier Jahre vergesse ich in meinem Leben nicht, denn es war eine so eigenartige Zeit der Entbehrungen und trotzdem der relativen Freiheit, dass man wunderbar arbeiten konnte. Ich weiß nicht, ich habe die Partei in dieser Zeit überhaupt nicht als Störenfried empfunden, überhaupt nicht. Die musste ja zu Recht aufpassen auf die noch vorhandenen Nazis. Endlich hatten die nichts mehr zu sagen. Und dann war dieses Gefühl: Jetzt sind wir endlich auch wer, jetzt wollen wir unser Recht haben. So habe ich das damals empfunden und darum auch alles aufgeschrieben.

BlattanfangNächstes Blatt

   65   Berliner Gespräche Rudolf Dörrier  Voriges BlattNächstes Blatt
Sie sind, um es mal etwas flapsig zu sagen, als junger Mann in die Rente gegangen und haben dann fünfundzwanzig Jahre als Rentner halbtags gearbeitet, sind noch immer erstaunlich aktiv, seit Renteneintritt schon sechsunddreißig Jahre lang.
     Rudolf Dörrier:
Wissen Sie, ich habe nur doppelt so lange als andere gebraucht, um in den Ruhestand zu kommen. Das ist schon komisch, wo doch heutzutage Leute schon mit 45 als alt angesehen werden. Und mir hat meine Arbeit trotz allen Ärgers immer viel Freude gemacht, schließlich konnte ich eine Menge bewegen. Aber 1965 habe ich gesagt, ich will ausscheiden. Hauptgrund war, dass ich halbtags arbeiten, noch etwas mehr vom Leben haben wollte. Als Leiter eines Büchereiringes mußte ich natürlich von früh bis abends kurbeln. Heutzutage gilt der Beginn meiner Halbtagsarbeit als offizielles Gründungsjahr der Orts-Chronik. Na und dann habe ich bis über meinen neunzigsten Geburtstag hinaus eben halbtags gearbeitet.

Eine Pankower Legende ist ja die Geschichte, wie Sie das so unauffällige Haus Heynstraße 8 für die Chronik gewonnen haben!
     Rudolf Dörrier:
In meinem Leben war das immer der berühmte Kollege Zufall. Man muss nur zugreifen, wenn der Zufall winkt. Das war damals so, dass ein Bauleiter Räume für eine Gruppe suchte, die das Weltjugendfestival vorbereiten sollte. Der kam ins Rathaus und sagte: »In der Heynstraße ist so eine Wohnung, die frei geworden ist. Dort wohnten zwei alte Damen, die kürzlich verstorben waren, Töchter von dem Fabrikanten Heyn. Da sind aber wunderbare Malereien drin, wollen wir da jetzt die Jugend reinsetzen?«

Wir haben uns das angesehen, und ich war begeistert. Habe gleich gedacht, dass diese in der Erstausstattung von 1893 erhaltene Bürgerwohnung keinesfalls ruiniert werden darf. Ich ging zum Bezirksrat, der sagte mir, wenn du mir deine Räume gibst, dann kannst du die Heynstraße 8 für deine Chronik bekommen. Ich hatte mir im Rathaus schon zwei schöne Räume mit Galerie ausgebaut, konnte einige meiner Schätze, die vorher in Schränke gestopft waren, ausbreiten. Auch der Bürgermeister spielte mit. So kam ich ohne Formalitäten in die Heynstraße 8, und die Jugend musste was anderes kriegen. Das war 1972. Nach der Restaurierung des Hauses eröffnete ich 1974 die »Stadtbezirks- Chronik Pankow«.

     Sie haben zu DDR- Zeiten mit allen Räten, allen Bezirksbürgermeistern Pankows zu tun gehabt. Trauen Sie sich ein Urteil über die Funktionäre zu?
     Rudolf Dörrier:
Da waren viele Leute, oft kamen sie von Bergmann- Borsig, die hatten die Parolen gelernt, beherrschten sie, aber es fehlte doch häufig die Grundbildung, und es wurden darum zu viele falsche Entscheidungen getroffen. Das alles habe ich gehäuft bei meinem zweiten Chronikbuch erlebt: noch einen Funktionär ransetzen, der das prüft und noch einen. Mein Manuskript lag über drei Jahre, dann musste noch ein Nachwort über die Erfolge der Jahre von 1967 bis 71 angehängt werden, das hab ich dann auch so geschrieben. Der Parteitag hatte die Fortschritte der sozialistischen Menschengemeinschaft gepriesen, der nächste stellte fest, dass noch nicht genug geschafft sei.

BlattanfangNächstes Blatt

   66   Berliner Gespräche Rudolf Dörrier  Voriges BlattArtikelanfang
Und als das halbe Buch ausgedruckt war, kam allen Ernstes der Vorschlag, es einzustampfen. Und der Vorschlag, schreib doch nochmal alles neu, lass den alten Kram weg und nimm unsere positiven Leistungen. Zuletzt lag die Auflage noch sieben Monate im Keller unter Verschluss und kam erst in den Handel, als ich direkt bei der SED- Bezirksleitung vorsprach. Der zuständige Sekretär hat dann entschieden, dass sie ausgeliefert wird. Sie waren einfach überfordert, waren sich nicht einmal bei der Beurteilung des Politischen sicher. Zu viel Halbbildung und Angst vor der Verantwortung. Das war wohl sehr typisch für unsere Verhältnisse. Aber andererseits hatte ich auch eine gewisse Narrenfreiheit, da die alle nichts von meiner Sache verstanden.

Sie haben ja im vorigen Jahr zum 100. Geburtstag die »Ehrenmedaille für Verdienste um den Bezirk Pankow« erhalten und am 31. März in diesem Jahr auch das Bundesverdienstkreuz. Hat man vor Ihrem Jahrhundertjubiläum die Verdienste um Pankow nicht so richtig anerkannt?
     Rudolf Dörrier:
Zu DDR- Zeiten war meine höchste Auszeichnung die Johannes-R.- Becher- Medaille des Kulturbundes in Gold. Meine Frau, die immer ehrenamtlich arbeitete, bekam sie in Silber, auch für die Arbeit mit Büchern. Ich habe mich über meine Goldene gefreut, bezog sie sich doch auf meine Leistungen in der Bibliothek und später auch in Chronik und Museum. Das begann schon 1945. Damals habe ich vom Kulturbund aus bald einen Vortrag über John Steinbecks »Früchte des Zorns« gehalten, es folgten viele andere.

Ich habe nie verleugnet, dass ich gern in der DDR gearbeitet habe, bei allen Problemen.

Der Schriftsteller Heinz Knobloch, der die Laudatio zu Ihrer jüngsten Auszeichnung hielt, verwies darauf, dass künftig nie einer über Pankow schreiben könne, ohne den Verfasser der Pankower Chronik zu zitieren: Etwa mit den Worten »wie Dörrier erklärt«, »wie es bei Dörrier heißt, »wie Dörrier herausfand«, » wie zuerst bei Dörrier erwähnt!«
     Rudolf Dörrier:
Da hat mein lieber Freund Heinz Knobloch ganz schön übertrieben! Auch wenn ich ein klein wenig stolz sein darf! Für mich bleibt von meiner Arbeit vor allem wichtig, dass die Chronik und das nunmehrige PankeMuseum in der Heynstraße stets im Dienste unserer Bürger weitergeführt werden.

Das Gespräch führte Bernd S. Meyer

Literatur:
Rudolf Dörrier, Pankow, Kleine Chronik eines Berliner Stadtbezirks, Berlin 1949
Rudolf Dörrier, Pankow, Chronik eines Berliner Stadtbezirks, Berlin 1971
Inge Lammel (Redaktion), Jüdisches Leben in Pankow, Eine zeitgeschichtliche Dokumentation, Berlin 1993

Foto: Meyer

BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/2000
www.berlinische-monatsschrift.de