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Hans Soost
Berliner Blau aus der Firma Kunheim

Der Beginn des Unternehmens Kunheim war geprägt von den Anfängen der industriellen Revolution. Der stürmische Fortschritt der Textilindustrie erforderte neue Grundstoffe und auch neue Techniken. Der Berliner Kaufmann Heinrich Kunheim (1781-1848) wollte mit kapitalkräftiger und naturwissenschaftlicher Unterstützung eine Fabrik für die Erzeugung bestimmter chemischer Grundstoffe errichten. Die Gründung nimmt er 1826 gemeinsam mit seinem Freund, dem Bankier Behrend, und unter Einbeziehung des Chemikers Hermbstädt in der bewohnten Innenstadt Berlins, am Molkenmarkt 6, vor.
     Die Konzession hierfür war jedoch von Behrend bereits im Jahr 1825 bei der Polizei- Intendantur beantragt worden und in den ersten Jahren als Behrendsche Fabrik bezeichnet worden. Aber bald danach gibt es nur noch den Firmennamen S. H. Kunheim. Kunheims Entwicklung zum Chemiefabrikanten ist wohl auch den persönlichen Umständen zuzuschreiben, war er doch mit einer wohlhabenden Bürgerstochter aus Potsdam verheiratet und zurzeit der Befreiungskriege als Material- und Spezereiwarenhändler

mit Lieferungen für die preußische Armee beschäftigt. Entscheidend wird jedoch sein Interesse für Chemie gegewesen sein, was sich auch aus der Ausbildung seines Sohnes Louis, er studierte an der Universität bei Hermbstädt, ableiten lässt.
     Kunheim, der im Gegensatz zu vielen anderen Kaufleuten die französische Sprache beherrschte, war während der französischen Besatzung oft zu Verhandlungen mit den Franzosen herangezogen worden. »Nu, Kunheim, red' Du !«, soll noch viele Jahre später in vieler Munde gewesen sein.
     Am Molkenmarkt 6 lagen Geschäftsräume und die Wohnung von Heinrich Kunheim. Ab 1829 wird laut Wohnungsanzeiger die Neue Köpenicker Straße 30 (neu 36) als die Produktionsstätte für Holzessig, Essigsäure und verschiedene Salze, Bleisalze, Glaubersalz, Salzsäure, Produkte der Knochenbrennerei und Seife, namentlich als Fabrik des Essigsäurefabrikanten S. H. Kunheim, ausgewiesen. Für das Jahr 1831 kommt auch das Haus Lindenstraße 75 Ecke Zimmerstraße hinzu, in dem auch sein Sohn, der Chemiker Louis Kunheim, wohnte. Gleichartiges Gewerbe wurde auch im nahe gelegenen Haus Kochstraße 19 betrieben. Eine Preisliste aus dieser Zeit bestätigt Ort und die genannte Produktpalette. In der Folgezeit traten bei der Herstellung jedoch für die Anwohner deutlich wahrnehmbare Geruchsbelästigungen auf, inbesondere aus der Knochenverkohlung, der Ammoniakgewinnung, der Teerkocherei und der Seifensiederei.
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Auch die Aufteilung auf die genannten Standorte konnte das Übel nicht beseitigen, hinzu kam die Unwirtschaftlichkeit, sodass diese Lage und die Auseinandersetzungen mit Behörden und der Polizei zu neuen Lösungen zwangen. Im Jahr 1835 wurde ein Grundstück auf dem Kreuzberg, Bergmannstraße 2 (neu 26-38), damals am Rande der Stadt am langen Weinberge nahe dem Halleschen Tor gelegen, zum Aufbau einer zusammenhängenden Fabrik für 12 500 Taler gekauft. Hier wurden ab 1841 der Firmensitz und die Wohnung für Heinrich Kunheim eingerichtet.
     Zu diesem Zeitpunkt trat der Sohn, der Chemiker Dr. Louis Kunheim (1808-1878), mit Teilhaberschaft in die Firma ein. Seit dieser Zeit hatte man sich zur Aufgabe gemacht, die nach Einführung der Gasbeleuchtung der Straßen in den Berliner Gasanstalten und darüber hinaus anfallenden lästigen Abfallstoffe zu übernehmen und zu verarbeiten. Das betraf insbesondere die Gaswässer und die Gasreinigungsmasse. Kunheim produzierte hieraus Ammoniak und seine Verbindungen, ab dem Jahr 1867 Cyan und aus diesem Ausgangsstoff den anorganischen Farbstoff Berliner Blau. Mit dieser neuen Rohstoffgrundlage - die Leuchtgasindustrie war mittlerweile zur Hauptquelle für Cyanide geworden -

Dr. Hugo Kunheim

 
konnte ein entscheidender Durchbruch erzielt werden, denn bis dahin wurden Cyanverbindungen vornehmlich aus tierischen Abfällen hergestellt. Daher stammen auch die für die komplexen Cyansalze verwendeten Bezeichnungen Gelbes Blutlaugensalz und Rotes Blutlaugensalz.

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Lageplan der Fabrik im Jahr 1912
Nach dem Tod von Louis Kunheim haben dessen Sohn, der Chemiker Dr. Hugo Kunheim (1838-1897), und sein Betriebsleiter Zimmermann im Jahr 1883 mit ihrem Patent das bahnbrechende Verfahren zur industriellen Herstellung der Cyankomplexverbindung Kaliumferrocyanid (Gelbes Blutlaugensalz) entwickelt. Dieses hat sich übrigens aus einer Vielzahl anderer Verfahren als dauerhaft erwiesen. Mit dieser Chemikalie hatte sich Kunheim den Ausgangsstoff zur industriellen Herstellung des Mineralfarbstoffes Berliner Blau geschaffen.
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Obgleich in Grundstoff und Fertigprodukt Cyan gleichermaßen chemisch gebunden ist, stellt es ein ungiftiges Produkt bzw. Farbpigment dar.
     Da die Produktion der Fabrik in Kreuzberg durch die verstärkte Wohnbebauung behindert war und der Standort von den neuentstandenen Verkehrswegen, insbesondere Wasserstraßen und Eisenbahnlinien, zu weit entfernt lag, gab man diesen Standort auf. Die Neugründung führte ab 1884 nach Niederschöneweide, zur damaligen Zeit vor den Toren Berlins gelegen. Die neue chemische Fabrik erhielt den Beinamen Werk Kanne, da am Kannegraben gelegen. Dieses Grundstück hatte mit seiner Lage zwischen Spree, Köpenicker Chaussee und Görlitzer Bahn günstigste Verkehrsbedingungen zu Wasser und zu Lande. In der neuen Fabrik wurden aus überführten Anlagen, aber auch neuen u. a. eine Ammoniak- und Blaufarbenfabrik sowie eine Anlage zur Schwefelsäureherstellung nach dem Bleikammerverfahren errichtet. Für dieses Verfahren wurde als Rohstoff der Schwefel der Gasreinigungsmasse verwendet.
     Die Herstellung des Berliner Blaus erfordert die Einhaltung genauer Rezepturen, läuft in der Praxis in mehreren Stufen ab und benötigt eine Vielzahl apperativer Anlagen. Durch Veränderungen der Dosierungen und der Reaktionsbedingungen können die Blautöne variiert werden.
Ein markantes Merkmal der Cyanfarben ist der kupferne Glanz.
     Die Produktbezeichnung ist vielfältig: Berliner Blau, Pariser, Milori-, Preußisch-, Stahl- oder Eisencyanblau. Dieser lichtechte mineralische Farbstoff hatte nunmehr, als ein wohlfeiles Produkt, das bisher angewandte teure Ultramarinblau verdrängt und sich als Textil-, Druck- und Malerfarbe durchgesetzt. Das Preußischblau wurde im vorigen Jahrhundert als Tuchfarbe der Militärs und Beamten verwendet.
     Der Chemiefabrikant Kommerzienrat Hugo Kunheim betrieb nicht nur die chemische Fabrik, sondern auch das aus der Zeit seines Vaters bestehende Alaunwerk bzw. die Ziegelei in Bad Freienwalde. Mit Kunheims Ziegelsteinen wurden sowohl eigene Betriebsstätten als auch z. B. ab 1870 Betriebsgebäude des früheren Gaswerks in der Danziger Straße und Gebäude in der Innenstadt Berlins errichtet. Kunheim erwarb ab 1872 einen dritten Industriezweig, eine Braunkohlengrube bei Senftenberg in der Niederlausitz. Dieses Werk erhielt den Namen Ilse nach dem Vornamen seiner Tochter. Er besaß somit eine preisgünstige Energiegrundlage für seine Werke. Zusätzlich errichtete Kunheim in diesem Werk auch eine chemische Fabrik. Hugo Kunheim war auch Mitbegründer der Deutschen Chemischen Gesellschaft und Juror der Weltausstellungen in London, Paris und Wien.
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Zeitgenössische Darstellung der Blau-Herstellung
Und er war ein sehr erfinderischer Unternehmer: So ließ er sich z. B. ein Sicherheitsventil für Gasflaschen des Mineralwasser- und Bierausschanks patentieren und führte die Druckverflüssigung der Kohlensäure mit einer eigenen Fabrik ein. Die selbstständige Kohlensäurefabrik produzierte ab 1883 bis zur Mitte dieses Jahrhunderts gegenüber der chemischen Fabrik in Niederschöneweide.
     Direkt neben der chemischen Fabrik in Niederschöneweide ließ sich Hugo Kunheim eine Villa im exklusiven Renaissancestil bauen, entworfen von Eduard Knoblauch. Sein späteres Wohnhaus befand sich Am Reichstagufer 10, das Geschäftshaus lag in unmittelbarer Nähe, in der Dorotheenstraße 26.
     Hugo Kunheim ist auch in die Literatur eingegangen: als Fontanes Kommerzienrat Treibel. Fontanes Schwester, Jenny Sommerfeld, pflegte mit den Kunheims einen familiären Umgang.
     Das Werk in Niederschöneweide blieb auch in der vierten Generation Familienunternehmen, geleitet von dem Chemiker Dr. Erich Kunheim (1872-1921). Er war auch Mitglied im Preußischen Abgeordnetenhaus. Von 1910 bis 1920 bewohnte er das Haus Fürst- Bismarck- Straße 10, gegenüber dem Reichstag gelegen.
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Es galt damals als ein Mittelpunkt der Berliner Gesellschaft. Danach wurde es das Botschaftsgebäude der Schweiz.
     Nach dem Tod von Erich Kunheim zwang ab 1922 die Wirtschaftslage zur Bildung einer Aktiengesellschaft unter dem Namen Chemische Fabriken Kunheim u. Co. AG und ab 1925 Rhenania- Kunheim Verein Chemischer Fabriken AG. Ab 1928 entstand nach weiterer Eingliederung von Kali- Werken Mitteldeutschlands die Firmenbezeichnung Kali- Chemie AG mit Hauptsitz in Berlin.

Familiengrabstätte Kunheim auf dem Friedrich- Werderschen Friedhof
 
1949 wurde der Betrieb Volkseigentum, mit dem Namen VEB Kali- Chemie. Er bestand bis 1992.
     Und wo endet die Spur der Industriellenfamilie Kunheim? Auf dem Friedrich- Werderschen Friedhof an der Bergmannstraße in Berlin- Kreuzberg befindet sich die Familiengrabstätte, geschaffen von Eduard Knoblauch.

Literatur:
Wilhelm Bertelsmann, »Die Technologie der Cyanverbindungen«, München und Berlin, 1906

Brockhaus, »ABC der Naturwissenschaft und Technik«, Leipzig 1960 Chronik der Firma Kali- Chemie Berlin, Berlin 1994

Rudolf Schmidt, Bad Freienwalde (Oder), Oberbarnimer Heimatbücher 14. Band, Bad Freienwalde (Oder) 1935

Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, München 1998

Reinhard Schmook, Die Mark Brandenburg, Berlin 1997, Heft 26

Hans Soost, Schriftenreihe des Deutschen Technikmuseums, Bd. 16, Berlin 1997

Bildquelle:
100 Jahre Kunheim,Berlin 1925
Archiv Autor

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/2000
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