93   Geschichte und Geschichten Berlin vor 100 Jahren  Nächstes Blatt
Horst Wagner
Berlin vor 100 Jahren
Bierstreit und Chinakriegs- Geschäft

Es war ein heißer Monat, dieser Juli 1900. Schon an seinem ersten Tag betrug laut »Vossischer Zeitung« die Höchsttemperatur 22,1°Réaumur (was 27,6° Celsius entspricht), und auch für die folgende Zeit war warmes und schwüles Wetter angesagt, bis gegen Monatsende eine erfrischende Abkühlung eintrat. In den Annoncen der Zeitungen wurde verstärkt Badekleidung angepriesen. Wertheim am Leipziger Platz empfahl Damen-Bade- Kostüme zum Preis von 2,50 Mark. Auch die Brauereien versuchten, sich mit günstigen Angeboten zu übertreffen. »Unions- Goldbier ersetzt Original Pilsener« warb die Union- Brauerei an der Hasenheide im »Berliner Tageblatt« und bot 30 Flaschen davon für nur 3 Mark an. Hintergrund dieser Werbung war der etwa drei Wochen andauernde »Berliner Bierkrieg«. Er war am Montag, dem 2. Juli, im Lokal »Altstädter Hof« ausgebrochen, wo am Vormittag die »Zehnerkommission der Berliner Bierwirte« tagte, zu der alle Brauereien von Pilsener Bier ihre Vertreter entsandt hatten und auf der eine Preiserhöhung für Pilsener Biere um fünf Pfennig für den halben Liter beschlossen wurde. Im Ausschank sollte der halbe Liter künftig 35 Pfennig, der Viertelliter 20 Pfennig kosten.

Begründet wurde die Verteuerung mit der vom Reichstag beschlossenen Erhöhung des Zolls auf den - in der Parlaments- Debatte so bezeichneten - »Luxus- Trunk« aus Böhmen. Die Berliner Brauereien aber nutzten die Gunst der Stunde, erhöhten und verbilligten ihre Produktion. Kommissionen tagten erneut, stritten sich, wer die Mehrausgaben für die Steuer tragen müsse, schlossen Kompromisse. Und schließlich mußte - dank kundenfreundlicher Konkurrenz - der Preis für das Original- Pilsener wieder auf die alte Höhe zurückgeführt werden. Wobei das Ganze mit dazu beitrug, dass bald auch in Berlin »Echtes Pilsener« gebraut wurde.
     Neben diesem »Bierkrieg« erregten im Juli 1900 weit ernstere kriegerische Ereignisse die Gemüter der Berliner. Die »Wirren in China« nämlich, wie sie in den Zeitungen meist verharmlosend genannt wurden. Bekanntlich hatte Kaiser Wilhelm Truppen zum Auslandseinsatz ins fernöstliche Großreich entsandt, die sich an der Niederschlagung des »Boxeraufstandes« beteiligen sollten. Neben mehr oder weniger patriotischen Frontberichten gab es auch Meldungen wie die vom 7. Juli im »Berliner Tageblatt«: »Die Ereignisse in China haben nun auch der Ansichtskartenindustrie neue Motive geliefert. Dem furchtbaren Ernst der Lage zum Trotz bieten die Händler in der Friedrichstraße jetzt Ulkkarten an, die das bewaffnete Einschreiten der Mächte gegen China in mehr oder weniger witziger Weise zu illustrieren suchen.«
BlattanfangNächstes Blatt

   94   Geschichte und Geschichten Berlin vor 100 Jahren  Voriges BlattNächstes Blatt
Eine zeige einen Chinesen, der »beim Anblick der in Sicht kommenden deutschen Flotte vor Schreck auf den Rücken fällt«, eine andere ziere der Spruch: »Wehe dem Chinesen mit langem Zopf / Bald wird man ihn packen kräftig beim Schopf.« Zwei Tage später, am Montag, dem 9., berichtete das »Tageblatt«: »Infolge der Mobilmachung in China war gestern die Sonntagsruhe in denjenigen privaten Werkstätten von Spandau, in welchen die Versandkisten angefertigt werden, aufgehoben. Auch in dem Artillerie- Depot wurde den ganzen Sonntag bis Anbruch der Dunkelheit gearbeitet ... Mehrere Eisenbahntransporte an Geschützen und Munition sind bereits abgefahren. Gestern sind auch 15-Centimeter- Geschütze verladen worden ... Eine Mobilmachung bringt für Spandau stets goldene Zeiten; an Arbeit und reichlichem Verdienst mangelt es dann nicht.«

Elektrifizierung nicht nur bei der Wannseebahn

Erfreulicheres hatten die Korrespondenten des »Tageblattes« in den Notizen von der Weltausstellung aus Paris zu berichten. So konnte man am Sonntag, dem 8. Juli, über den Ausstellungspavillon der Berliner Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft lesen. Dieser sei »hauptsächlich für die Vorführung der Nernst- Lampe bestimmt.

Achthundert Nernst- Lampen erfüllen den Raum mit ihrem silberweißen Licht, dreizehnhundert gewöhnliche elektrische Lämpchen funkeln auf dem Dache und in dem Haar der Frauenköpfe«, welche die Hallenpfeiler krönten.
     Drei Premieren im Berliner Nahverkehr zeugten von bedeutenden Fortschritten. Am 13. Juli fand auf der Wannseebahn die Versuchsfahrt eines elektrischen Zuges statt. Dieser bestand aus je einem Motorwagen am Anfang und am Ende, die ein Umsetzen beim Fahrtrichtungswechsel unnötig machten; dazwischen acht Vorortzugwagen für etwa 400 Personen. »Der elektrische Strom wird von der durch Holzschutzwände umkleideten Speiseleitung durch seitlich an den Achsen angebrachte Abnehmer den Motoren zugeführt.« Wie das »Tageblatt« weiter berichtete, werde bald »täglich ein elektrischer Zug regelmäßig eine Anzahl von Fahrten zur Personenbeförderung zwischen Berlin und Zehlendorf im Rahmen des bestehenden Fahrplanes ausführen«. Am gleichen 13. Juli wurde der elektrische Straßenbahnbetrieb zwischen Berlin, Unter den Linden, und Tegel mittels Oberleitung aufgenommen. Alle zehn Minuten fuhr ein Motorwagen, jeder zweite zog einen Anhängerwagen, der dann ab ScharnweberEcke Berliner Straße mit Pferden weiter nach Dalldorf gezogen wurde. Die Fahrpreise betrugen je nach Strecke 10, 15 oder 20 Pfennig.
BlattanfangNächstes Blatt

   95   Geschichte und Geschichten Berlin vor 100 Jahren  Voriges BlattArtikelanfang
Am Freitag, den 27. Juli, schließlich wurde zwischen Anhalter und Stettiner Bahnhof eine elektrisch betriebene Omnibuslinie in Betrieb genommen. Mit ihr verkürzte sich die Fahrzeit gegenüber den bisher hier zum Einsatz gekommenen Pferdeomnibussen von 29 auf 24 Minuten bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 12 bis 15 km/h. »Die Neuladung der Akkumulatoren«, so die »Vossische Zeitung«, »erfolgt an den Endpunkten mit Hilfe einer elektrischen Station, die in besonderen kleinen Häuschen untergebracht ist«. Damit sei Berlin die erste Stadt der Welt, »die einen vollständig durchgeführten elektrischen Omnibusbetrieb aufweisen kann«.

Auto-Kurse, Pferderennen und ein Glinka-Haus

Was sonst noch geschah in diesem Juli 1900? Zu Beginn des Monats traten die Hammelschlächter- Gesellen des Berliner Schlachthofes in den Streik, weil sich die Meister weigerten, ihnen das bisher bezogenes »Trinkgeld«, eine Art fleischernes Deputat, weiter zu zahlen und stattdessen nur ein aus Knochen, Blut und Kaldaunen bestehendes »kleines Biergeld« zusätzlich zum Wochenlohn von 30 Mark gewähren wollten. Am 15. Juli nahm die Große Berliner Motorwagengesellschaft in der Friedrichstraße 103 einen »Kursus im Automobilfahren« auf. »Für ein und denselben Kursus«, hieß es in der Ankündigung, »werden nicht mehr als sechs Theilnehmer angenommen, so daß jedem die nöthige Aufmerksamkeit gewidmet werden kann.«

Neben »theoretischem Anschauungsunterricht« werde u. a. »das Fahren auf dem Motordreirad, der Voiturette, und das Fahren vom Bock« trainiert. Am 17. Juli fand in Hoppegarten das Rennen um den Großen Preis von Berlins statt. »Als ob es für den Clou der Berliner Saison sich eigens in Gala geworfen hätte«, konnte man im »Tageblatt« lesen, »athmete das Märkische Rasenidyll jene goldklare sommerfrische Stimmung, die dem Leben auf dem Turf so viel farbenfreudige Reflexe gibt.« Den mit 50 000 Mark dotierten Preis gewann der vierjährige Hengst Xamete aus dem Stall des Fürsten von Hohenlohe- Oehringen. Und am 29. Juli, berichtete die »Vossische Zeitung«, daß »das Eckhaus Französische Straße 8/ Kanonierstraße einen besonderen Schmuck erhalten« habe. »Es ist die Büste des russischen Komponisten Glinka, der in diesem Haus eine Zeit lang gewohnt hat. Für Berlin besaß Glinka eine große Vorliebe, hatte er hier doch 1833-1834 eine angenehme Zeit verbracht und bei Professor Dehn sehr erfolgreich kontrapunktische Studien gemacht.« Die Obhut über die Büste, so das Blatt weiter, habe »laut Bestimmung des russischen Kaisers der jeweilige Geistliche der russischen Botschaft in Berlin« inne, und das Haus trage von nun an »auf Anordnung des Besitzers, der sich auch um das Anbringen der Büste und der Gedenktafeln sehr verdient gemacht hat«, den Namen »Glinka-Haus«.
BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/2000
www.berlinische-monatsschrift.de