33   Probleme/Projekte/Prozesse Reformpädagogen in Berlin  Nächstes Blatt
Georg Schmelzer
Endlich wird die Prügelstrafe abgeschafft

Reformpädagogen in Berlin

Trotz vielfältiger, auch widersprüchlicher und sogar bedrohlicher Entwicklungen gab es in der Weimarer Republik eine Reihe großartiger emanzipatorischer Leistungen, u. a. in den bildenden Künsten, in der Architektur (Bauhaus), in Theater und Film, und es gab demokratische Entwicklungen im Bildungswesen. Das alles galt auch für die Hauptstadt, besonders für die Zeit nach der Inflation. In den 20er Jahren war Berlin »ein progressives geistiges Zentrum der Welt«.1) Was möglich gewesen wäre, deutet der in die Emigration gegangene heutige USA- Wissenschaftler Fritz Stern an: »Wäre der deutsche Umsturz von 1918 eine Revolution nicht nur der Form, sondern auch dem Geiste nach gewesen, so hätte man mit der Waffe der Enthüllung (gemeint sind diplomatische Geheimakten der Kaiserzeit; G. Sch.) die Schuld und Gier derjenigen bloßgestellt, die in Deutschland in die Niederlage geführt hatten.2)
     Am 28. April 1920 nahm die Deutsche Nationalversammlung ein Reichsgrundschulgesetz an, womit die obligatorische vierjährige Grundschule für die Kinder aller sozialen Schichten der Bevölkerung in gemeinsamen Klassen eingeführt wurde.

Das brachte in der alltäglichen Schulpraxis der Weimarer Republik eine reale Niveau- Anhebung des Elementarunterrichts mit sich und förderte in gewisser Hinsicht demokratische Verhaltensweisen. Nach der Herausbildung der Stadtgemeinde Groß-Berlin (ebenfalls 1920) war das Schulwesen der deutschen Hauptstadt »eines der größten kommunalen Gebilde in der Welt«3) mit über 1000 Schulen, darunter 652 Volksschulen, mit mehr als 500000 Schülern und 16000 Lehrern. Besonders unter dem Einfluss sozialdemokratischer Bildungspolitiker und Lehrer entstand z. B. 1925 das erste Schullandheim der Stadt Berlin bei Zossen mit einer Kapazität für 1000 Schüler, der Unterricht in Erdkunde und in den Naturwissenschaften konnte durch Fachräume verbessert werden, ebenfalls in Werken und Hauswirtschaft, und 1929 beschloss die Stadtverordnetenversammlung endlich die Abschaffung der Prügelstrafe an den Volksschulen.
     Aus der alten »Fortbildungsschule« der Kaiserzeit, längst noch nicht für alle werktätigen Jugendlichen und in offen antidemokratischer Ausrichtung mit zum Teil nur geringen Bezügen zur fachlichen Seite der Arbeit, wurde nun die sich überall rasch entwickelnde »Berufsschule«. Berlin erreichte auch auf diesem Gebiet einen beachtlichen Stand: »Mit 71 gewerblichen und kaufmännischen Berufsschulen, zu denen auch sieben Einrichtungen für körperlich und geistig behinderte Jugendliche sowie neun Schulen der Handwerkerinnungen und der Industrie- und Handelskammer zählten, und ferner 12 Werkschulen der großen Handelshäuser Tietz und Israel« war es den wirtschaftlichen Erfordernissen »gut angepasst«.4)
BlattanfangNächstes Blatt

   34   Probleme/Projekte/Prozesse Reformpädagogen in Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
Allerdings ist anzumerken, dass u. a. der Staatsbürgerkunde- Unterricht bei nicht wenigen Lehrern noch hergebrachte konservative Züge aufwies, dass in manchen Klassenzimmern der verschiedenen Schulen noch jahrelang das Kaiserbild an der Wand hing und dass ab Ende der 20er Jahre hier und da schon das Hakenkreuz auftauchte. (Bereits 1926 organisierten reaktionäre Kräfte die »Großdeutsche Jugendbewegung«, die im selben Jahr den Namen »Hitlerjugend, Bund der deutschen Arbeiterjugend« erhielt und der SA unterstellt wurde.)
     Erstmals in der deutschen Bildungsgeschichte fand 1920 in der Hauptstadt eine bedeutsame »Reichsschulkonferenz« statt. Der entscheidende Verantwortliche war Heinrich Schulz (SPD), Staatssekretär im deutschen Innenministerium, der die Position der Mehrheitssozialisten vertrat. Unter den 650 Teilnehmern waren viele Vertreter der Schulverwaltungen der Länder und der Reichsregierung, der Berufs- und Standesvereinigungen der Lehrer, der Kirchen und ihnen nahestehender Organisationen usw. Ein Hauptreferat hielt Dr. Fritz Karsen (1885-1951), SPD, Sprecher des progressiven Bundes »Entschiedener Schulreformer«,
der den Plan einer »elastischen Einheitsschule« entwickelte.5) Wichtige Konferenzthemen waren Fragen des Schulaufbaus und Probleme der so genannten »Reformpädagogik«, speziell von Theorie und Praxis der »Arbeitsschule«.
     Was war das für eine geistig- kulturelle und auch schulpolitisch orientierte Strömung, was war »Reformpädagogik«? Anfänge gab es schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es war eine Protestbewegung gegen fest eingewurzelte Missstände in der Bildung und Erziehung der jungen Generation, nicht nur im öffentlichen Schulwesen und nicht nur in Deutschland. Heftige Angriffe wurden laut, kritische Schriften veröffentlicht gegen Seelenlosigkeit der Erziehung, das Pauken und den Drill im Unterricht, gegen das ständige Reglementieren und die Züchtung von Untertanengeist und stupidem Gehorsam im Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Gefordert wurde - allerdings mitunter anarchisch ausufernd - eine neue »Erziehung vom Kinde aus«. Weite Verbreitung fang z. B. das Buch »Das Jahrhundert des Kindes« von Ellen Key (1849-1926), einer schwedischen Lehrerin, das sie 1902 in deutscher Sprache herausbrachte. Das Desaster von 1914-1918 verstärkte den Reformstau.
BlattanfangNächstes Blatt

   35   Probleme/Projekte/Prozesse Reformpädagogen in Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt


Protestkundgebung von evangelischen Verbänden und Organisationen am Lutherdenkmal vor der Marienkirche gegen die Einrichtung weiterer weltlicher Schulen in Berlin, 23. April 1928
So kam es zu einer vielgestaltigen pädagogischen Bewegung mit Ideen für und Forderungen nach einer »Tatschule«, einem »Arbeitsunterricht« (Verbindung mit der Arbeitswelt und Bildungsinhalt »erarbeiten«), nach Schulgemeinden und »Waldschulen«, nach Gruppenunterricht etc. In Berlin entstand eine ganze Reihe von »Versuchsschulen« oder »Freien Schulen« - so lautete die Sammelbezeichnung für entsprechende Bemühungen in der Praxis.
     Was die Initiatoren und Anhänger der heterogenen reformpädagogischen Bewegung betrifft, so ist von den allermeisten zu sagen, dass sie persönlich humanistisch eingestellt waren, dass sie nicht bewusst »Handlanger« einer reaktionären, volksfeindlichen Politik sein wollten (wie man ihnen mitunter vorwarf) und dass sie nicht vorsätzlich weitergehende revolutionäre Forderungen unterbanden.
Es handelte sich »bei dem überwiegenden Teil der Reformpädagogen gerade um den besten Kern der deutschen Lehrerschaft, die aus einer tiefen Unzufriedenheit mit den bestehenden Schulzuständen, mit den noch halbfeudalistischen Residuen der deutschen Schule den Ruf nach einer Schulreform erhoben. Es waren gerade die von dem Ethos ihres Berufes erfüllten Lehrer, die aus Liebe zu den Kindern, die sie in der alten Schule verkümmern sahen, einen Wandel herbeiführen wollten.
     Es waren gerade die von einem hohen Verantwortungsbewusstsein gegenüber der kommenden Generation ihres Volkes getragenen Erzieher, die auf eine Neugestaltung der Schule drängten. An ihrer subjektiven Ehrlichkeit und ihrem guten Willen ist in den allermeisten Fällen nicht zu zweifeln.«6)
BlattanfangNächstes Blatt

   36   Probleme/Projekte/Prozesse Reformpädagogen in Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
Diese Einschätzung schrieb 1956 Prof. Dr. Robert Alt (1905-1978), einer der verdienstvollsten pädagogischen Wissenschaftler der Humboldt- Universität7) zu Berlin nach ihrer Wiedereröffnung im Jahr 1946. Als junger Lehrer gehörte er selbst ab 1929 in Neukölln zu einer derartigen »Versuchsschule«, und zwar zu dem bekannten, von Fritz Karsen geleiteten Reform- Schulkomplex, bestehend aus Volksschule, Aufbauschule und Realgymnasium. Aus einer Handwerkerfamilie jüdischen Glaubens in Breslau stammend, studierte er Naturwissenschaften und Philosophie; danach an der religionsoffenen Pädagogischen Akademie Frankfurt/Main und wurde Mitglied der SPD. Mit Beginn des Hitlerfaschismus musste er den staatlichen Schuldienst verlassen. Alt blieb wie die meisten jüdischen bzw. säkularisierten jüdischen Lehrer in Deutschland, unterrichtete an jüdischen Volksschulen und war Dozent am jüdischen Kindergärtnerinnen- Seminar in Berlin. Als Überlebender von Auschwitz und der versenkten »Cap Arcona« setzte er nach der Befreiung seine ganze Kraft, seine pädagogischen Erfahrungen und wissenschaftlichen Kenntnisse für die Neugestaltung des Bildungswesens und der Lehrerbildung in der SBZ ein. Robert Alt promovierte mit einer Dissertation über die Industrieschulen Ende des 18./ Anfang des 19. Jh., die er bereits 1937 abgeschlossen hatte und die bis auf ein Exemplar den Nazis in die Hände gefallen war. Er wurde zu einem der führenden Wissenschaftler der DDR auf dem Gebiet der Geschichte der Pädagogik. 17 Jahre war seine Wirkungsstätte die Humboldt- Universität, danach die Akademie der Wissenschaften und die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften. Große Anerkennung fanden, auch in der Bundesrepublik und im Ausland, seine Werke über Comenius und zur »Geschichte der Arbeitserziehung«8) sowie die beiden Bände »Bilderatlas zur Schul- und Erziehungsgeschichte«.
     Weitere namhafte Pädagogen, die mit ihren großen schulischen, bildungspolitischen und wissenschaftlichen Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik an die Humboldt- Universität kamen, waren Prof. Dr. Heinrich Deiters (1887-1966), (Systematische Pädagogik/ Hochschulpädagogik; Dekan von 1949-1958) und führende Unterrichtsmethodiker wie Prof. Dr. Gertrud Rosenow und Prof. Dr. Otto Hermenau.
     Einer aus der Gruppierung der linken Sozialdemokraten soll nicht unerwähnt bleiben, obwohl er nur am Ende seines außergewöhnlichen Lebensweges einige Jahre in Berlin verbrachte: Dr. August Siemsen (1884-1958). Er war anerkannter Fachmann, auch international gesehen, auf dem Gebiet von Kultur, Bildung und Erziehung. Seine Schwester, Anna Siemsen (1882-1951), ebenfalls sozialdemokratisch gesinnt, trug mit ihren Schriften u. a. zur Entwicklung der Berufspädagogik als Wissenschaft bei.
BlattanfangNächstes Blatt

   37   Probleme/Projekte/Prozesse Reformpädagogen in Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt


Eine Kindergruppe mit Krankenschwester in der Freiluftschule in der Eberswalder Straße 37-50, 1932
In der Nähe von Hamm/ Westfalen als drittes Kind eines evangelischen Pfarrers geboren, als bewusster Kriegsgegner erzogen, kam August Siemsen noch vor 1914 zur SPD. Nach Kriegsende wurde er in Essen Leiter des Bildungsausschusses der Partei und der Freien Gewerkschaften sowie Vorsitzender der Freien Volkshochschule. Ab 1930 war er Reichstagsabgeordneter. 1933 emigrierte August Siemsen nach Argentinien und leitete dort die antifaschistische deutsche Pestalozzi- Schule in Buenos Aires. 1952 ging er als Pensionär zurück in seine Heimat, die in der Bundesrepublik lag, um 1955 in kritischer Haltung zur dortigen Politik in die DDR zu übersiedeln. Trotz fortschreitender Krankheit war er noch in Presse und Rundfunk tätig. Er starb 1958. Sein enger Freund Max Seydewitz hielt die Trauerrede: »Im Gedenken an sein unermüdliches Wirken schilderte ich meinen Freund als wertvollen Menschen ..., als treuen Kampfer in der Arbeiterbewegung, als einen guten Erzieher der Jugend. Im Sinne seines Wirkens erklang am Schluss der Feierstunde die Marseillaise.«9)
     Zum Wesen der deutschen Republik vor 1933 gehört, dass trotz aller gegenläufigen Tendenzen doch in Kultur und Geistesleben chauvinistische Verblendung, rigorose Demokratenfeindlichkeit und absolutistische Strukturen des Kaiserreiches in gewisser Weise überwunden werden konnten. Internationales Denken begann sich wieder zu entfalten. Zurückgedrängt wurden der althergebrachte Untertanengeist der Deutschen und die grobe Missachtung der vielgestaltigen Entwicklung menschlicher Individualität.
BlattanfangNächstes Blatt

   38   Probleme/Projekte/Prozesse Reformpädagogen in Berlin  Voriges BlattArtikelanfang
Wesentliche mentale Einflüsse gingen von den fernen USA aus, dem »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«, aber - besonders in Berlin - fast noch mehr vom nahen revolutionären Russland. Das zeigte sich nicht zuletzt im Bildungswesen und in der Pädagogik.
     In Berlin gab es in den 20er Jahren 250000 russische Flüchtlinge, Emigranten, Neulandsucher. Sie hatten ihre Läden, Cafés, Restaurants, eigene Zeitschriften und Kabaretts. In Charlottenburg war jeder achte Einwohner ein Russe. »Die Deutschen haben sich daran gewöhnt. Und zum Jux Charlottenburg in Charlottengrad umgetauft.« (S. Segal) Maxim Gorki besuchte 1923 eine russische »Arbeitsschule« in Berlin,10) offenbar eine reformpädagogische Einrichtung für Emigrantenkinder. Das war, wie mit einiger Sicherheit anzunehmen ist, eines jener typischen Merkmale Berlins, die andere europäische Metropolen nicht aufzuweisen hatten. »Für die linke Intelligenz war Russland in vielem faszinierend: ob es die Ansätze der Reformpädagogik waren, die Rehabilitierung von straffällig gewordenen Jugendlichen, die kühnen Entwürfe sowjetrussischer Architekten oder Theatermacher, die revolutionäre Filmkunst ...«11) International offen zu sein, Progress in West und Ost zu integrieren - das war gleichbedeutend mit demokratischer Teilhabe an gesellschaftlichen Erfahrungen, die dem Land der halben und der gescheiterten deutschen Revolution bis dahin versagt geblieben waren.

     Unbestritten: Vieles im geistig- kulturellen Leben der Weimarer Republik zählt heute zum positiven Erbe unserer gemeinsamen Bundesrepublik.

Quellen:
1 »Pessimismus ist nicht erlaubt.« Gespräch mit Hans Mayer. In: Neues Deutschland, 18./19. März 2000, S. 14
2 F. Stern: Das feine Schweigen. Historische Essays. - Dritter Essay: Tod in Weimar. C. H. Beck, München 1999
3 W. Lemm et al.: Schulgeschichte in Berlin. Volk und Wissen Verlag, Berlin 1987, S. 118
4 Ebenda, S. 131
5 Geschichte der Erziehung. Hrsg. Karl-Heinz Günther et al. Verlag Volk und Wissen, Berlin 1987, S. 571 f.
6 Robert Alt: Erziehung und Gesellschaft. Pädagogische Schriften. Hrsg. Karl-Heinz Günther, Helmut König, Rudi Schulz, Volk und Wissen Verlag, Berlin 1975, S. 432 f.
7 Die Namensgebung der Universität nach Wilhelm Freiherr von Humboldt (1767 -1835) und seinem Bruder Alexander Freiherr von Humboldt (1769-1859) erfolgte im Februar 1949
8 Hrsg. Alt, R./ Lemm, W. In: Monumenta Paedagogica, Band X. Volk und Wissen Verlag, Berlin 1970 (Teil I) u. 1971 (Teil II)
9 Ruth und Max Seydewitz: Unvergessene Jahre. Begegnungen. Berlin 1984, S. 21
10 In: Berlin- Moskau 1900-1950 (Buch zur Ausstellung 1995/96). Prestel Verlag, München/ New York 1995, S. 298 (Foto)
11 K. Schlögel: Der zersprungene Spiegel. Bilder von Deutschland und Russland im 20. Jh. - In: Berlin- Moskau 1900-1950, a. a. O., S. 24

Bildquelle: Schulmuseum Berlin

BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2000
www.berlinische-monatsschrift.de