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Jürgen Harder
»Unter den heutigen Umständen nach Berlin zu kommen«

Thomas Manns »Deutsche Ansprache: Ein Appell an die Vernunft«

Für den 18. Oktober 1930 hatte der Verband Deutscher Erzähler einen seiner ganz Großen gebeten, in der Berliner Singakademie etwas aus einem neuen Roman vorzutragen. »Und doch fragte ich mich, ob es sich lohne, ob es auch nur anständig und irgendwie vertretbar sei, unter den heutigen Umständen nach Berlin zu kommen, um ein Romankapitel vorzulesen und, etwas Lob und Kritik in der Tasche ... wieder nach Hause zu fahren.« Dies fragte sich der große Erzähler, der in die Singakademie eingeladen worden war: Thomas Mann. Der berühmte deutsche Schriftsteller. Dessen Ruhm übrigens - gerade in jener Zeit - noch einmal beträchtlich angewachsen war durch die Verleihung des Nobelpreises für Literatur im November 1929. Thomas Mann ließ es bei dieser Frage nicht bewenden. Im Gegenteil. Als er sie stellte, hatte er sie bereits beantwortet.

»Unter den heutigen Umständen nach Berlin zu kommen« - das hieß damals unter dramatischen ökonomischen, sozialen und politischen Umständen in die deutsche Reichshauptstadt zu kommen. In eine Stadt, die noch die Hauptstadt einer demokratischen Republik war. Die Lage umriss der deutsche Autor so: »Nun geht eine neue Welle wirtschaftlicher Krisis über uns hin und wühlt die politischen Leidenschaften auf.« Mutig und entschlossen wollte der Literatur- Nobelpreisträger auf seine Weise diesen »Umständen« des Jahres 1930 in Berlin Rechnung tragen. Und so ließ er - zusätzlich! - bereits am Vortage, dem 17. Oktober, zu einer Veranstaltung in den Berliner Beethovensaal bitten. Zu seiner »Deutschen Ansprache«. Zu seinem «Appell an die Vernunft«. Auch kurzzeitige Skrupel konnten ihn von diesem »vielleicht phantastisch anmutenden Schritt« nicht abbringen. »Dieser Schritt könnte als Anmaßung und Narretei aufgefasst werden, könnte - ich mag es kaum aussprechen - dahin gehend verstanden werden, als gäbe es hier jemanden, der nach der Rolle des praeceptor patriae griffe und den neuen Fichte spielen möchte ...« So schön Thomas Mann solche Mutmaßungen höchstselbst erfand und formulierte, so entschieden verwarf er dieselben sogleich als »lächerliche Verdächtigungen«.
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Nun, wer Thomas Mann kennt, der verkennt gewiss nicht die gar nicht so unbeträchtliche Portion Koketterie, die in dieser so herrlich ausgestellten Bescheidenheit steckte. Weil sein dann folgender Appell an die Vernunft aber eines praeceptor patriae höchst würdig war, war ihm ohnehin verziehen.
     Um zu ermessen, was jener »Schritt« für den prominenten Repräsentanten deutscher Kultur wirklich bedeutete, ist freilich auch noch dies vorauszuschicken. Kein anderer hatte nämlich im 20. Jahrhundert die Kunst als Existenz- und Lebensform so vehement und grundsätzlich gerechtfertigt, verteidigt, zelebriert und - tatsächlich - gelebt wie Thomas Mann. »Ich bin kein Anhänger des unerbittlich sozialen Aktivismus, möchte nicht mit diesem in der Kunst, im Nutzlos- Schönen einen individualistischen Müßiggang erblicken, dessen Unzeitgemäßheit ihn fast der Kategorie des Verbrecherischen zuordnet.« Und dennoch. Die Umstände, die Thomas Mann 1930 nach Berlin führten, rangen ihm die schmerzliche Einsicht ab, dass es soziale und politische Lagen gibt, wo die Kunst »zur seelischen Unmöglichkeit wird«.
     Den zentralen Bezugspunkt für Thomas Manns »Deutsche Ansprache«, die eigentliche Veranlassung für seinen »Appell an die Vernunft«, markierte ein ganz konkretes Datum: der 24. September 1930. Der Tag, der Deutschland und die Welt mit dem Ergebnis der Reichstagswahlen konfrontierte. Ein Ergebnis, das einem politischen Erdrutsch gleichkam. Im Vergleich zu den Wahlen von 1928 hatten die Nationalsozialisten ihren Stimmenanteil von 2,6 auf 18,3 Prozent erhöht.
Die NSDAP steigerte damit ihre Abgeordnetenzahl von 12 auf 107! Selbst Hitler zeigte sich von diesem Ergebnis völlig überrascht. Lediglich die KPD konnte noch auf einen Stimmenzuwachs verweisen (von 10,6 auf 13,1 Prozent). Alle anderen Parteien erlitten teilweise dramatische Verluste. Der Anteil der SPD ging von 29,8 auf 24,5 Prozent zurück. Die meisten bürgerlichen Parteien erlebten ein wahres »Waterloo«. Das Beunruhigende, das Alarmierende - auch für Thomas Mann - war: Die Nazis bezogen ihre politische Blutzufuhr zweifelsfrei aus dem bürgerlichen Lager, aus dem traditionellen Wählerreservoir bürgerlicher Parteien. Aus heutiger Sicht war der 24. September 1930 sicher nur ein weiteres Symptom der Agonie der Weimarer Republik. Für Thomas Mann war dieser Tag vor allem eine weitere enorme geistige, kulturelle und politische Herausforderung: nichts unversucht zu lassen im Überlebenskampf dieser noch relativ jungen deutschen Republik. Und so starrte der große deutsche Erzähler auf diesen Tag auch nicht wie auf ein singuläres Negativdatum schlechthin. Er sah im Ergebnis dieser Reichstagswahlen vielmehr einen politischen Kristallisationspunkt für ein sehr komplexes Geschehen. Für ein Geschehen, das die verheerenden Folgen des Börsenkrachs in New York vom 25. Oktober 1929 ebenso einschloss wie die fatalen Auswirkungen des Versailler Vertrags auf die wirtschaftliche Lage in Deutschland im Allgemeinen und auf die psychologische Stimmung des deutschen Volkes im Besonderen.
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Und so fragt Thomas Mann die Reichsregierung, was sie denen zu geben habe, »die mit Augen voller Grauen den nächsten Monaten, diesem Winter der Arbeitslosigkeit, der Aussperrung, des Hungers und des Untergangs entgegenstarren, einem Winter, der droht, die Verzweiflung von Millionen zu vollenden und alle politischen Folgerungen und Folgen der Verzweiflung eines Volkes zu zeitigen?« Seiner Lagebeschreibung hatte der Redner dies vorausgeschickt: »Man braucht nicht materialistischer Marxist zu sein, um zu begreifen, dass das politische Fühlen und Denken der Massen weitgehend von ihrem wirtschaftlichen Befinden bestimmt wird.« Dass die politische Stimmung »weitgehend« von der wirtschaftlichen Lage des Volkes bestimmt wird, hieß für Thomas Mann eben auch: »Es ist nicht richtig, das Politische als reines Produkt des Wirtschaftlichen hinzustellen; sondern um einen Seelenzustand zu deuten, wie den, den unser Volk jetzt auf eine die Welt verblüffende Weise an den Tag gelegt hat, ist es notwendig, die politische Leidenschaft, zutreffender gesagt, das politische Leiden heranzuziehen.«
     So politisch heikel dies auch heute gesehen werden mag, der prononcierte Nazi-Gegner Thomas Mann, der 1930 an die Vernunft appellierte, sah nämlich im Versailler Vertrag eine wesentliche Ursache für »das politische Leiden« des deutschen Volkes.

Thomas Mann
 
Und so machte er den Siegermächten von 1918 eine bemerkenswerte politische Rechnung auf: »Geführt wurde Deutschland in diesen Krieg von einem Herrschaftssystem, das auf die historisch naivste Weise sein eigenes Lebensinteresse mit dem des Volkes gleichsetzte und in dem Kampf um sein Fortbestehen es mit dem Volke, dem Lande zum Äußersten kommen ließ.«
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Der Literatur- Nobelpreisträger erinnerte die Kriegsgegner Deutschlands daran, dass sich ihr kriegerischer Tugendmut, ein demokratischer Tugendmut, angeblich gegen jenes verhasste Herrschaftssystem richtete. »Diese demokratische Moralität, die während des Krieges den Mund so voll genommen hatte und den Krieg als Mittel zu betrachten schien, eine neue, bessere Welt zu schaffen, hat bei Friedensschluss nur sehr bruchstückweise Wort gehalten und sich durch die Wirklichkeit, die physischen Nachwirkungen der Kriegswut und durch den Machtrausch des Sieges in einem Grade verderben lassen, dass es dem deutschen Volke aufs äußerste erschwert war, an den moralischen und historischen Sinn seines Unterliegens und an die höhere Berufung der anderen zum Siege zu glauben.« Und so sah Thomas Mann im Versailler Vertrag »ein Instrument, die Lebenskraft eines europäischen Hauptvolkes auf die Dauer der Geschichte niederzuhalten.« Zugleich äußerte er die Überzeugung: Das Leben und die Vernunft selbst hätten die Unantastbarkeit dieses Vertrages schon heute widerlegt.
     Neben der wirtschaftlichen Misslage und den außenpolitischen Leidensmotiven hätten - in ganz besonderer Weise - freilich auch innenpolitische Aspekte »die sensationelle Wahlkundgebung des deutschen Volkes bestimmt«. Aus der innenpolitischen Gemengelage destilliert Thomas Mann sodann die Gründe für die »Erfolge« der Nazis heraus.
Ja, die ausführliche und sehr fundierte Analyse der nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland gestaltet sich zum Kernstück seiner Ansprache: zum weltanschaulichen Fundament seines Appells. Charakteristisch auch hier: Mitnichten verengt der Redner seinen Blick auf ein isoliertes »grellplakatives« Politik- Phänomen. Im Gegenteil. Er weitet die kritische Optik für verblüffende Kontexte und legt überraschende geistige und politische Zusammenhänge offen. Sein Einstiegsgedanke: »der Nationalsozialismus hätte als Massen- Gefühls- Überzeugung nicht die Macht und den Umfang gewinnen können, die er jetzt erwiesen, wenn ihm nicht, der großen Mehrzahl seiner Träger unbewusst, aus geistigen Quellen ein Sukkurs käme, der, wie alles zeitgeboren Geistige, eine relative Wahrheit, Gesetzlichkeit und logische Notwendigkeit besitzt und an die populäre Wirklichkeit der Bewegung abgibt.« So grundsätzlich er seine Analyse auch anlegt, so entschieden und unerbittlich auch seine Bewertung immer wieder ausfällt, so sehr gewinnt diese Analyse ihre Überzeugungskraft nicht zuletzt aus ihrer feingesponnenen Differenziertheit. Zunächst analysiert er die Zeit- Empfindung, die sich mit dem wirtschaftlichen Niedergang der Mittelklasse verband und die diesem sozialen Abstieg als intellektuelle Prophetie und Zeitkritik vorangegangen war: »die Empfindung einer Zeitwende, welche das Ende der von der Französischen Revolution datierenden bürgerlichen Epoche und ihrer Ideenwelt ankündigte.
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Eine neue Seelenlage der Menschheit, die mit der bürgerlichen und ihren Prinzipien: Freiheit, Gerechtigkeit, Bildung, Optimismus, Fortschrittsglaube, nichts mehr zu schaffen haben sollte, wurde proklamiert und drückte sich künstlerisch im expressionistischen Seelenschrei, philosophisch als Abkehr vom Vernunftglauben, von der zugleich mechanistischen und ideologischen Weltanschauung abgelaufener Jahrzehnte aus, als ein irrationalistischer, den Lebensbegriff in den Mittelpunkt des Denkens stellender Rückschlag, der die allein lebensspendenden Kräfte des Unbewussten, Dynamischen, Dunkelschöpferischen auf den Schild hob, den Geist, unter dem man schlechthin das Intellektuelle verstand, als lebensmörderisch verpönte und gegen ihn das Seelendunkel, das Mütterlich- Chthonische, die heilig gebärerische Unterwelt, als Lebenswahrheit feierte.«
     Wissend, was von diesen Absagen an die Vernunft alles in den neuen deutschen Nationalismus eingegangen ist, machte Thomas Mann klar, dass der »Neo- Nationalismus unserer Tage« zugleich eine »neue Stufe gegen den bürgerlichen, durch stark kosmopolitische und humanitäre Einschläge doch ganz anders ausgewogenen Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts darstellt«. Ebenso scharf wie scharfsinnig besteht Thomas Mann hier also auf einer wichtigen Unterscheidung.
Und der Redner rückte dabei auch noch eine »gewisse Philologen- Ideologie« als geistige Zuarbeiterin der Nazis ins kritische Visier: eine »Germanisten- Romantik und Nordgläubigkeit aus akademisch- professoraler Sphäre, die in einem Idiom von mystischem Biedersinn und verstiegener Abgeschmacktheit mit Vokabeln wie rassisch, völkisch, bündisch, heldisch auf die Deutschen von 1930 einredet und der Bewegung ein Ingrediens von verschwärmter Bildungsbarbarei hinzufügt, gefährlicher und weltentfremdender, die Gehirne noch ärger verschwemmend und verklebend als die Weltfremdheit und politische Romantik, die uns in den Krieg geführt haben«.
     Souverän analysiert Thomas Mann »solche geistigen und pseudogeistigen Zuströme« des Nationalsozialismus in ihrer Vermischung »mit der Riesenwelle exzentrischer Barbarei und primitivmassendemokratischer Jahrmarktsrohheit, die über die Welt, als ein Produkt wilder, verwirrender und zugleich nervös stimulierender, berauschender Eindrücke, die auf die Menschheit einströmen«. Diese hochgradig komplexe Analyse, die für sich allein ca. sechs enggesetzte Druckseiten des Appells an die Vernunft beansprucht, verdient noch einmal einen breiteren Einblick: »Die abenteuerliche Entwicklung der Technik mit ihren Triumphen und Katastrophen, Lärm und Sensation des Sportrekordes, Überschätzung und wilde Überzahlung des Massen anziehenden Stars, Box- Meetings mit Millionen- Honoraren vor Schaumengen in Riesenzahl:
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Dies und dergleichen bestimmt das Bild der Zeit zusammen mit dem Niedergang, dem Abhandenkommen von sittigenden und strengen Begriffen wie Kultur, Geist, Kunst, Idee. Entlaufen scheint die Menschheit wie eine Bande losgelassener Schuljungen aus der humanistisch- idealistischen Schule des neunzehnten Jahrhunderts, gegen dessen Moralität, wenn denn überhaupt von Moral die Rede sein soll, unsere Zeit einen weiten und wilden Rückschlag darstellt. Alles scheint möglich, scheint erlaubt gegen den Menschenanstand, und geht auch die Lehre dahin, dass die Idee der Freiheit zum bourgeoisen Gerümpel geworden sei, als ob eine Idee, die mit allem europäischen Pathos so innig verbunden ist, aus der Europa sich geradezu konstituiert und der es so große Opfer gebracht hat, je wirklich verloren gehen könnte, so erscheint die lehrweise abgeschaffte Freiheit nun wieder in zeitgemäßer Gestalt als Verwilderung, Verhöhnung einer als ausgedient verschrienen humanitären Autorität, als Losbändigkeit der Instinkte, Emanzipation der Rohheit, Diktatur der Gewalt.«
     Unbestreitbar: Thomas Manns kritische Zeitdiagnose von 1930 enthält erschreckend treffende Beobachtungen, die auch heute noch - nach 70 Jahren! - nichts von ihrer mahnenden Gültigkeit verloren haben.
Die Geschichtswissenschaft hat diese Analyse längst als einen originären und unverzichtbaren theoretischen Beitrag zur Faschismusforschung gewürdigt. Keine Frage: Thomas Mann kamen hier auch seine »Betrachtungen eines Unpolitischen« zugute. Diese intensive langjährige Beschäftigung mit konservativen und reaktionären Positionen, die er während des Ersten Weltkrieges noch mit Sympathie behandelte und die er jetzt als ein Rückzugsgefecht großen Stils in die spannende Entwicklung seiner politischen Biografie einordnete. Indes: Was dem Redner in Berlin zugute kam, geriet ihm zwangsläufig auch zum Nachteil. Denn selbstverständlich attackierten viele einflussreiche rechtskonservative und deutschnationale Geister seinen Appell als übelsten Verrat. Auch angesichts der entfesselten politischen Leidenschaften im Deutschland des Jahres 1930 setzt Thomas Mann unbeirrt eine demokratische und geistige Besinnung gegen den allerorten geschürten kopflosen Fanatismus. Mit der verblüffenden kulturellen Pointe: geistige Besinnung sei viel deutscher als kopfloser Fanatismus! Kein Zweifel. Hier wollte einer, der bestens mit den besten Traditionen deutscher Geschichte und Kultur vertraut war, insbesondere auch dies: den deutschen Namen hochhalten und schützen.
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Er wollte wahres und wahrhaftiges Deutschtum in Schutz nehmen vor der beleidigenden Usurpation durch die Nazis. Und so stellte er seine Frage nur noch rhetorisch: »Ist das deutsch? Ist der Fanatismus, die gliederwerfende Unbesonnenheit, die orgiastische Verleugnung von Vernunft, Menschenwürde, geistiger Haltung in irgendeiner tieferen Seelenschicht des Deutschtums wirklich zu Hause?«
     Damit nicht genug. So bestechend und präzise Thomas Mann auch den Nationalsozialismus theoretisch als die gefährlichste Erscheinungsweise des politischen Irrationalismus und als moderne Barbarei entlarvt hatte, so ungewöhnlich konkret, praktisch und pragmatisch drängte er auf politische Schlussfolgerungen aus seiner Analyse! Prompt entwickelte und begründete er seine Überzeugung, für die es ihn drängte nicht nur seine Feder, sondern auch seine Person einzusetzen: »dass der politische Platz des deutschen Bürgertums heute an der Seite der Sozialdemokratie ist«. Nur so, meinte er, könne die tödliche Gefahr für das deutsche Gemeinwesen mit Namen Weimarer Republik noch abgewendet werden. Nun, als Sohn seiner Klasse wusste Thomas Mann: Für seine Überzeugung war noch Überzeugungsarbeit gegenüber dem deutschen Bürgertum vonnöten. »Ich kenne die weltanschauliche Abneigung wohl, die deutsche Bürgerlichkeit gegen den Sozialismus, gegen das, was man ,marxistische Gedankengänge nennt, von Instinkt wegen hegt. Die Vorherrschaft des Klassengedankens vor denen des Staates, des Volkes, der Kultur; der ökonomische Materialismus: ich weiß, das ist bürgerlicher Überlieferung nicht geistig genug.«
Mit einer ebenso bewundernswerten wie entwaffnenden Überzeugungskraft rückte der Redner eben diesen »weltanschaulichen Abneigungen« des Bürgertums zu Leibe. Weil er wusste, kein »begriffliches Schreckgespenst« erschwert dem deutschen Bürgertum die politische Orientierung so sehr wie das Wort ,marxistisch, deshalb kontert er zunächst mit einer Klarstellung, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt: »Nun gibt es in Wirklichkeit keinen schärferen und tieferen politisch- parteimäßigen Gegensatz als den zwischen der deutschen Sozialdemokratie und dem orthodoxen Marxismus moskowitisch- kommunistischer Prägung. Der sogenannte Marxismus der deutschen Sozialdemokratie besteht heute in der Betreuung einer dreifachen Aufgabe: sie bemüht sich erstens, die soziale und wirtschaftliche Lebenshaltung der arbeitenden Klasse zu schützen und zu bessern, sie will zweitens die doppelt bedrohte demokratische Staatsform erhalten, und sie will drittens die aus dem demokratischen Staatsgeist sich ergebende Außenpolitik der Verständigung und des Friedens verteidigen. In diesen Bestrebungen und Willensmeinungen erschöpft sich heute in praxi der Marxismus der deutschen Sozialdemokratie.« Thomas Mann wirbt für sein Bündniskonzept vor allem mit dem Nachweis, dass die deutsche Sozialdemokratie » heute schon das wirtschaftliche Sonderinteresse hinter dem staatspolitischen Interesse der Erhaltung der Demokratie zurückstellt«.
     Und der Redner sieht den Augenblick längst gekommen, »zu erkennen, dass die gesellschaftliche Klassenidee weit freundlichere Beziehungen zum Geist unterhält als die bürgerlich- kulturelle Gegenseite«.
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Nicht zuletzt führt Thomas Mann dem Hauptadressaten seines Appells, dem deutschen Bürgertum, eindrucksvoll vor, wie die deutsche Sozialdemokratie nach der Kriegskatastrophe auch in ihre nationale Verantwortung hineinwuchs und diese Rolle ehrenwert erfüllte. So habe »die Sozialdemokratie das Reich gerettet«, als sie den Separatismus des Rheinlandes verhinderte. Und sie tat es, »als es mit uns zum Letzten gekommen war, als die Zügel der Herrschaft und Selbstbeherrschung im blutigen Kote schleiften und niemand da war, sie zu ergreifen, sie hat diese herrenlosen Zügel aufgenommen, die tragische und namenlos undankbare Verantwortung für die Bereinigung des Krieges getragen und das Chaos, in dem ein geschichtlich geschlagenes und flüchtiges System das Land zurückgelassen hatte, in eine notdürftige Ordnung überführt«. Den falschen Patrioten und heuchlerischen Nationalisten schreibt der Nobelpreisträger schließlich dies ins Stammbuch: »Das Wort voll ruchloser Ungerechtigkeit, das umgeht, dies vollkommen gewissenlose Wort von den >Novemberverbrechern< - der ist in Wahrheit des rechtlichen deutschen Namens nicht wert, der es ohne Empörung zu hören vermag oder gar über seine Lippen lässt.« So arm Thomas Manns »Appell an die Vernunft« an Redundanz war, so stimmig und durchdacht war auch dessen bündnispolitische Botschaft. Listig und überzeugend operiert der Redner am Ende mit einem politisch- historischen Modellfall für sein aktuelles Anliegen: mit der Würdigung eines großen deutschen Staatsmannes bürgerlicher Provenienz. »Der Staatsmann, meine geehrten Zuhörer, dessen Wirken die außerdeutsche Welt wieder einmal bestimmt hat, das Wort groß mit dem deutschen Namen zu verbinden, Stresemann, hat sein Werk getan, gestützt auf die Sozialdemokratie. Auf seine eigene Partei konnte er sich nicht stützen ... Am Ende der Politik Stresemanns stand und steht die friedliche Revision des Versailler Vertrages mit bewusster Zustimmung Frankreichs und ein deutsch- französisches Bündnis als Fundament des friedlichen Aufbaus Europas.« Und der berühmte Redner von Berlin rundet seine Argumentation wie folgt ab: »Marxismus hin, Marxismus her - die geistigen Überlieferungen deutscher Bürgerlichkeit gerade sind es, die ihr diesen Platz anweisen«: den Platz an der Seite der Sozialdemokratie.
     In der Tat. Thomas Manns »Appell an die Vernunft« erwuchs aus dramatischen Umständen.
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Und diese machten freilich nicht Halt vor dem Berliner Beethovensaal. Als massive Störenfriede hatten sich im Stile von Kulturbanausen ausgerechnet drei deutsche Kulturvertreter hervorgetan: der damalige Goebbels- Intimus Arnolt Bronnen sowie die Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger. Gedeckt, gestützt und geschützt von zwanzig SA-Männern, schlugen die drei genannten Herren mächtig Krawall im Saal und versuchten, die Veranstaltung zu sprengen. Thomas Mann konnte seine Ansprache zwar zu Ende bringen. Mit dem Einsatz nicht nur seines Geistes, sondern seiner ganzen Person hatte er schließlich seinen Appell also doch noch unter seine »geehrten Zuhörer« gebracht. Seinen »Kampfplatz« allerdings musste er durch die Hintertür verlassen. Sowenig ich an einem neuen Mythos stricken möchte - dem Mythos vom »physischen Kämpfer« Thomas Mann -, sowenig kann und will ich fürderhin die Risse am Edel-Mythos Ernst Jünger übersehen. Die Risse an dieser legendären Verkörperung von kultureller Noblesse und reinster Ritterlichkeit. Dieser Inkarnation von Tapferkeit und Todesverachtung. Des Mannes also, der für das ganze Gegenteil von erbärmlicher Feigheit steht - und der doch, bei einem so ungefährlichen Störmanöver gegen Thomas Mann, sich auffällig risikoscheu und unverkennbar feige eines Hinterhaltes bediente: des Schutzes von zwanzig SA-Männern. Es passte wirklich schön ins Bild: Diese zwanzig Herren von der Sturmabteilung steckten sämtlich in geliehenem Smoking. Im Übrigen: Dass Thomas Mann ausgerechnet Berlin zum Ort für seinen Appell an die Vernunft auserkor, war auch ein letztes Hoffnungszeichen. Denn schon ein flüchtiger Blick in Goebbels' Buch - mit dem bezeichnenden Titel »Kampf um Berlin« - lässt erkennen, wie schwer es für die Nazis lange war, in der hochindustrialisierten Reichsmetropole Fuß zu fassen.

Anmerkung:
Alle Zitate stammen aus: Thomas Mann: »Deutsche Ansprache - Ein Appell an die Vernunft.« In: Thomas Mann: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Aufbau- Verlag Berlin und Weimar 1965. Band 12: Zeit und Werk. S. 533-553

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2000
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