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Günther Wirth
Kanzler des Zentrums

Der Politiker Joseph Wirth (1879-1956)

Wenn man nach Namen von Reichskanzlern der Weimarer Republik fragt, wird man von politisch Interessierten im allgemeinen zwei Namen zu hören bekommen: Joseph Wirth und Heinrich Brüning (mit Stresemann verbindet man wohl eher das langjährig von ihm wahrgenommene Amt des Außenministers). Es sind dies zugleich die Namen jener beiden Zentrums- Reichskanzler, die für eine unterschiedliche, wenn nicht gegensätzliche Orientierung der Weimarer Republik stehen: für einen katholisch eingefärbten militanten Republikanismus der eine, Joseph Wirth, für einen stärker auf autoritäre Vorstellungen setzenden, von den Normen der katholischen Soziallehre allerdings begrenzten Regierungsstil der andere, Heinrich Brüning (1885-1955). Über das subjektive Moment an den Biographien dieser Politiker hinaus kann zugleich die objektive Spannweite in den politischen Möglichkeiten des Katholizismus abgelesen werden, die überdies nicht nur vor 70 bzw. 60 Jahren in Deutschland zu entdecken waren, sondern in manchen europäischen Ländern auch heute (nicht zuletzt beim geradezu paradigmatischen


Joseph Wirth

 
Zerfall der Democracia Cristiana in Italien und deren Neuformierung in mehreren gegensätzlichen, freilich marginalen Parteibildungen) nicht zu übersehen sind. Im Deutschland der Weimarer Republik konnte das katholische Zentrum solche Polarisierung - oft genug freilich an der Grenze der Spaltung - durchhalten: Joseph Wirth konnte daher sogar im ersten Kabinett Brüning dessen Innenminister sein.

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Von seiner sozialen Herkunft und von seinem Bildungsgang her war eine politische Karriere Joseph Wirths nicht angelegt. Der am 6. September 1879 geborene Sohn eines Maschinenmeisters der Herder- Druckerei in Freiburg i. Br. studierte nach dem Abitur in seiner Heimatstadt Mathematik und Naturwissenschaften, freilich auch Nationalökonomie, an der Freiburger Universität und wurde - noch nicht 27 Jahre alt - am 5. Juli 1906 bei Professor Stickelberger mit einer Arbeit »Über die Elementarteiler einer linearen homogenen Substitution« zum Dr. phil. promoviert. Der Badenser blieb auch beruflich seiner Heimat treu und wurde Mathematiklehrer am Freiburger Realgymnasium. Mit 32 Jahren tat dieser Mathematiklehrer, wiederum in seiner Heimatstadt, den ersten weiterführenden Schritt ins politische Leben: Er wurde 1911 Stadtverordneter, um bereits 1913 in die zweite Badische Kammer, den Landtag, und ein Jahr später in den Reichstag gewählt zu werden.
     An dieser Stelle ist es geboten, einige Bemerkungen über die schon früh sichtbar vorhandenen Konstanten in der politischen Biographie Joseph Wirths zu machen.
     Noch bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war Joseph Wirth gleichsam ein Ur-Badenser, der nach der Rückkehr aus der Emigration alles zu tun bereit war, das Aufgehen Badens in einen Südweststaat (wie es damals hieß) zu verhindern.
Treue zur badischen Tradition war für Joseph Wirth aus zwei Quellen gespeist, die sich gegenseitig ergänzten oder auch korrigierten, jedenfalls die stabilen Voraussetzungen für das bereitstellten, was dann in Joseph Wirths militantem Republikanismus in der Zeit der Weimarer Republik zum Ereignis wurde. Treue zur badischen Tradition war für Wirth daher zuerst Treue zum badischen Katholizismus, der seinerseits von zwei Quellen bestimmt wurde, von einer tiefen und unerschütterlichen Volksfrömmigkeit sowie (das wäre die zweite Konstante) von Zügen echter Liberalität. Es waren solche kernigen Persönlichkeiten wie Wacker, der »Löwe von Zähringen«, Prälat Schofer und der als Abgeordneter wie als Schriftsteller gleichermaßen bekannte Priester Heinrich Hansjakob (1837-1916), die für diese Tradition standen (die Liberalität in je eigener Weise zum Tragen bringend), und Joseph Wirth stellte sich insofern direkt in sie, als er das Reichstagsmandat im Wahlkreis Hanauer Land erwarb, wo vor ihm - allerdings vergeblich - Hansjakob kandidiert hatte.
     Dass dem badischen Katholizismus liberale Züge eigen waren (dabei geht es hier weniger um jene Hierarchen, die wegen ihres Modernismus in Schwierigkeiten mit Rom gekommen waren), hatte vor allem mit der Stärke des Liberalismus und bürgerlichen Demokratismus zu tun, wie sie 1848/49 unübersehbar deutlich wurde (und sich sogar auf das Regime der Großherzöge auswirkte).
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Als Joseph Wirth während seiner Kanzlerschaft am 4. Dezember 1921 vor dem Verein Berliner Presse auftrat, erinnerte er an diese Tradition - insbesondere unter dem Aspekt des publizistischen Kampfes, ebenso wie mehr als 30 Jahre später, als er am 20. März 1953 unter ganz anderen Konstellationen eine Rede in der Volkskammer der DDR hielt und sich in der Tradition von 1848 sah, im Rahmen einer breiten Bewegung für die Einheit Deutschlands.
     Angesichts der besonderen badischen Situation geschah es nach dem 9. November 1918 nicht ohne Skrupel, dass die katholische Partei sich auf den Boden der Republik gestellt hatte, und unter der Kundmachung der Vorläufigen Badischen Volksregierung vom 22. November 1918 stand denn auch der Name von Joseph Wirth, der das Finanzministerium übernommen hatte. Folgerichtig wirkte Wirth als Mitglied der Badischen Verfassunggebenden Versammlung, die Anfang Januar 1919 gewählt wurde, an der Ausarbeitung der Landesverfassung mit, vor allem aber als Mitglied der Weimarer Nationalversammlung an der Gestaltung der Reichsverfassung. Inzwischen hatte sich dieser Zentrums- Parlamentarier von den Hinterbänken in die vorderen Reihen der Fraktion vorgearbeitet.
Hierbei hatten ihn die schon charakterisierten Konstanten geprägt, etwa wenn er in der Zeit der Nöte und Erschütterungen des Ersten Weltkriegs die Friedensbotschaft von Papst Benedikt XV. (1854-1922) vom 1. August 1917 an die Oberhäupter der kriegsführenden Mächte als einen Kompass ansah, und es war der Reichskanzler, der nach dem Ableben dieses Papstes am 26. Januar 1922 im Reichstag erklärte: »Dieser Appell ist damals zum Schaden der Welt nicht gehört worden. Die milde Stimme, die klare Erkenntnis ist ungehört über den Erdball verhallt. Dieser Appell ist aber heute noch fast ebenso dringlich wie damals ...« (Joseph Wirths »Reden während der Kanzlerschaft«, erschienen 1925 in Berlin, herausgegeben von H. Hemmer) Sicherlich wird man nicht zu Unrecht hervorheben können, dass Joseph Wirth schon 1917 in der Nähe seines damals viel einflussreicheren badischen Landsmannes Erzberger zu finden war, auch wenn dieser ihn in seinen Kriegsmemoiren nicht erwähnt.
     1920 in den Reichstag gewählt, vertauschte Joseph Wirth alsbald das badische Finanzministerium mit dem im Reich, und als solcher wurde er zum Nachfolger Matthias Erzbergers (1875-1921), den die deutsche nationalistische Reaktion erst zum »Fall« gemacht und dann zu Fall gebracht hatte.
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In den Auseinandersetzungen um Erzberger in der Zentrumspartei stand Wirth - bei aller Kritik im einzelnen - stets auf der Seite Erzbergers, was auch von den anderen badischen Politikern, von Konstantin Fehrenbach (1852-1926) abgesehen, zu sagen ist. Als Finanzminister hat Joseph Wirth dann auch die von Erzberger eingeleitete Reformpolitik (Steuer- und Verwaltungsreform) erfolgreich weitergeführt.
     Um es schon an dieser Stelle zu bemerken: Es ist auffällig genug, dass die Reden Joseph Wirths aus der Zeit seiner Kanzlerschaft vorrangig und detailliert wirtschaftsund speziell steuerpolitischen Fragen gewidmet waren, und zweifellos ist hiervon auch seine Außenpolitik beeinflusst gewesen (bzw. umgekehrt hat er seine Außenpolitik nicht ohne Absehung der wirtschaftspolitischen Möglichkeiten betreiben können und wollen), sind doch die wichtigsten und weiterführenden Entscheidungen dieses Kanzlers in solchem Kontext zu sehen: nämlich einerseits im Kontext der »Erfüllungspolitik« gegenüber den westlichen Siegermächten, die ihm von den nationalistischen Kräften angekreidet wurde, andererseits in dem des Vertrags von Rapallo mit Sowjetrussland im April 1922, der wiederum nicht zufällig im Schatten der Weltwirtschaftskonferenz von Genua abgeschlossen wurde und den Joseph Wirth als »Friedensvertrag« ansah, gleichzeitig aber - übers Bilaterale hinaus - als Schritt hin zur Verwirklichung seiner Vision von Genua (»Grundsteinlegung der produktiven Völkergemeinschaft«).
Allerdings wird immer auch dieser Aspekt Rapallos zur Kenntnis zu nehmen sein, dass nämlich Polen, selbst das Polen des Warschauer Vertrags von 1955, stets ungemütlich reagierte, wenn irgendwo von Rapallo die Rede war, weil polnische Politiker, unabhängig von ihrer Orientierung, eine sowjetisch- deutsche Allianz als gegen Polen gerichtet ansahen.
     Doch wir haben vorgegriffen: Reichskanzler wurde der Zentrumspolitiker zuerst am 10. Mai 1921 (bis 21. Oktober 1921), zum zweiten Male am 26. Oktober 1921 (bis 14. November 1922). Der Kandidatur Joseph Wirths kam im Zusammenhang der Zentrumspolitik nach dem Kapp-Putsch keine geringe Bedeutung zu, und für deren strategische Orientierung in der Weimarer Koalition und über sie hinaus standen damals (wie 30 Jahre später) zwei katholische Politiker alternativ gegenüber: In der Reichstagsfraktion des Zentrums hatte der Gewerkschaftsführer Adam Stegerwald (1874-1945) dies auf die Formel gebracht, dass im Falle der »Bildung eines Dauerkabinetts« Adenauer als Kanzler »der richtige Mann« sei, »im anderen Falle Dr. Wirth«. Leider habe dieser - so ein anderer Abgeordneter - »die notwendige Verbindung nach rechts« nicht.
     Es war also in doppelter Weise eine Quadratur des Zirkels, die der relativ junge Reichskanzler zu leisten hatte: auf dem Hintergrund der Veränderungen der Kräfteverhältnisse in seiner Partei den Aufbau des »sozialen Volksstaats« zu favorisieren und gleichzeitig den Versuch zu unternehmen, die Forderungen von Versailles zu erfüllen.
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Walther Rathenau (1867-1922), der dem ersten Kabinett Wirths als Minister für Wiederaufbau angehört hatte und Anfang 1922 dem zweiten als Außenminister beitrat, hat von Joseph Wirth gesagt: »Als charaktervollen Mann habe ich Wirth kennengelernt und betone, dass er imstande ist, in voller Breite nach außen zu wirken und gleichzeitig nach innen zu ordnen. Ich habe ihn als einen wahren Demokraten kennengelernt, das heißt: als einen Menschen, der den Anspruch eines jeden Menschen achtet - einen Anspruch auf Selbstachtung, Selbstbestimmung und auf eigenes Recht.«
     Das war damals an die Adresse bürgerlicher Demokraten gerichtet, die den politischen Zielen dieses Reichskanzlers skeptisch gegenüberstanden und die sich von der Pogromhetze gegen ihn, aber erst recht gegen Rathenau womöglich beeindrucken ließen: »Haut immer feste auf den Wirth! / Haut seinen Schädel, dass es klirrt! / Knallt ab den Walther Rathenau, / Die gottverfluchte Judensau!«
     Es sollte nach solchen und anderen Morddrohungen nicht lange dauern, und Rathenau wurde, wie zuvor der USPD- Politiker Karl Gareis (1889-1921) und Erzberger, buchstäblich »abgeknallt«. Nach der Ermordung Rathenaus gehörte Joseph Wirth zu den Politikern, die sich engagiert und militant zum Schutz der Republik einsetzten. Noch bis in unsere Tage hinein (1995 etwa in den Leserbriefspalten der Frankfurter Allgemeinen) geht die Auseinandersetzung darum, wie die Äußerung Wirths in seiner Reichstagsrede vom 25. Juni 1922 zu verstehen sei:
»... Da steht (nach rechts) der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. - Da steht der Feind - und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts.«
     Ob nämlich damit gemeint sei, der Feind überhaupt stehe rechts, oder nur: Der, dieser konkrete Feind sei rechts zu finden. Wirth selber hat sich später einmal dahingehend geäußert, er habe den konkreten Feind gemeint. Wenn man freilich einen Blick in die vor 15 Jahren veröffentlichten Akten der Kanzlerschaft Wirths wirft, wird man finden, dass der Reichskanzler in mehreren internen Beratungen Ende Juni 1922, etwa gegen seine Parteifreunde Andreas Hermes (1878-1964) und Johann Giesberts (1865-1938) und gegen den bayerischen Ministerpräsidenten Hugo Graf von Lerchenfeld (1871-1944), eindeutig, ja exklusiv die Absage an rechts formulierte; eine Absage gegen links könne es in dieser Situation überhaupt nicht geben. Interessant, dass Wirth in einer Konferenz mit den Parteiführern der Weimarer Koalition hinzugefügt hatte: »Zu erwägen sei, ob man auch noch rassenhetzerische Bestimmungen in das Gesetz (zum Schutz der Republik. G. W.) aufnehmen wolle.«
     Am 17. Januar 1922 hatte Wirth auf dem Parteitag des Zentrums erklärt: »Ueber alles aber geht der Dienst am Vaterland, und dieser Dienst am deutschen Vaterland und Volk, die Arbeit an seiner Freiheit, das ist für uns Gottesdienst, das ist Christendienst, das ist die große Liebe, die nicht nur das eigene Volk in sich begreift, die auch im Dienste der Menschheit allen, die Menschenantlitz tragen, etwas Gutes tun will.«
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   88   Porträt Joseph Wirth  Voriges BlattNächstes Blatt
Von hier aus ist zu verstehen, wie Joseph Wirth zwischen dem Ende seiner Kanzlerschaft - sein Nachfolger Wilhelm Cuno (1876-1933) hatte die Verbindungen nach rechts - und dem Wiedereintritt in eine Reichsregierung 1929 im Zentrum ziemlich isoliert war, wenn er als Reichstagsabgeordneter gegen Bürgerblock und für sozialen Volksstaat eintrat, was etwa im August 1925 zum zeitweiligen Austritt Wirths aus der Reichstagsfraktion führte. Ausgangspunkt hierfür war der vom Zentrum geduldete Eintritt der DNVP in das Kabinett Hans Luther (1879-1962), ein Akt, der für Wirth zur Herausforderung dafür wurde, seinem militanten Republikanismus betont Ausdruck zu verleihen und die gleichsam »klassischen« Ideale der ursprünglichen Weimarer Koalition insofern neu aufzunehmen, als er mit dem prominenten Sozialdemokraten Paul Löbe (1875-1967) und dem ebenfalls aus dem Badischen kommenden DDP- Politiker Ludwig Haas (1875-1930) im Jahre 1926 (beginnend mit zwei Aufrufen im Juli und August 1926) eine parteiübergreifende Sammlungsbewegung in Gestalt der »Republikanischen Union« begründete. Solche Sammlungsbewegungen sollten für Joseph Wirth ja auch später - in der Emigration und nach der Rückkehr aus ihr - konstitutiv bleiben. Die Republikanische Union trat in Einzelaktionen, vor allem aber mit einer hervorragenden Publizistik in Erscheinung: Ihr Organ »Deutsche Republik« wurde das Sprachrohr aller kämpferischen Republikaner unterschiedlicher Observanz und Generation - von Otto Hörsing (1874-1937) bis Wilhelm Leuschner (1890-1944) und Friedrich Dessauer (1881-1963) -, und nach Verlegung der Redaktion nach Frankfurt/Main (1929) kam sie in eine enge Allianz mit der dortigen linkskatholischen »Rhein- Mainischen Volkszeitung«.
     Allerdings hatte sich Joseph Wirth Ende der zwanziger Jahre von der Republikanischen Union zurückgezogen, und im Oktober 1930 war er auch formell als Herausgeber der Zeitschrift zurückgetreten. Zweifellos hing dies damit zusammen, dass er, dessen »Fall« im Zentrum ein permanenter gewesen war und 1927 beinahe zum Austritt aus der Partei geführt hätte, wieder stärker in den »Zentrums- Turm« zurückgekehrt war. Ohnehin war sein Ansehen an der Basis wie in der Öffentlichkeit - auch der internationalen, was auf einer USA-Reise 1926 sichtbar wurde - immer sehr groß gewesen; 1928 musste er daher an der zweiten Stelle der Reichsliste hinter seinem Widersacher Wilhelm Marx (1863-1946) plaziert werden.
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   89   Porträt Joseph Wirth  Voriges BlattNächstes Blatt
Es war sicher nicht ohne Einfluss der sich anbahnenden Weltwirtschaftskrise (der Reichskanzler der Genua- Konferenz war immer sensibel für weltwirtschaftliche Veränderungsprozesse), dass er zu Kompromissen bereit war.
     Diese Position des Zentrumspolitikers ist oft als ambivalent bezeichnet worden. Einerseits war klar: Wie er schon auf dem Freiburger Katholikentag 1929 vor den »Vorboten des Faschismus« gewarnt hatte, so setzte er sich etwa auf dem Bundestag des Deutschen Beamtenbundes 1930 gegen eine Ignorierung der nationalsozialistischen Gefahr ein, wie er überhaupt nach den berüchtigten, für die NSDAP so erfolgreichen Septemberwahlen 1930 massiv gegen eine »Rechtsfront« auftrat; nicht zuletzt polemisierte er in der CV-Zeitung, also im Organ des Central- Vereins der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens, gegen den Antisemitismus, und er beauftragte den katholischen Schriftsteller und Pädagogen Leo Weismantel (1888-1964), Materialien und Dokumente zur Entlarvung der Dolchstoß- Legende zu sammeln. Andererseits folgte der Innenminister der Notverordnungspolitik des Kanzlers und wurde oft genötigt - Carl von Ossietzky (1889-1938) hatte es früh in der »Weltbühne« signalisiert -, diesmal den Feind auch links zu orten. Dennoch: Im Schatten der sich herausformenden »Harzburger Front« wurde Joseph Wirth nicht mehr in das zweite Kabinett Brünings aufgenommen (Oktober 1931).
1933 hatte Joseph Wirth nicht einen Moment Illusionen. In den Reichstag wiederge-wählt, trat er in der Probeabstimmung über das »Ermächtigungsgesetz« mit einer Minderheit für die Ablehnung ein, und es war nicht nur diese Entscheidung, es war die gesamte politische Biographie dieses Mannes, die die Emigration zur Folge hatte. Zunächst bereiste Wirth einige westeuropäische Länder und die USA, um dann in Frankreich und schließlich (seit 1938 in Luzern) fast zehn Jahre in der Schweiz zu leben. Politische Aktivitäten des Altreichskanzlers waren limitiert von der Existenzsicherung durch Tätigkeiten im wirtschaftlichen Leben.
     Im Laufe des Zweiten Weltkriegs nahm Joseph Wirths politische Tätigkeit in der Schweiz, wo er auch nachweislich Kontakte zu Karl Barth (1886-1968) gehabt hatte, allerdings insofern konkretere Gestalt an, als er sich in regelmäßigen Gesprächen mit früheren führenden Politikern aus dem Umfeld der Weimarer Koalition befand, so mit dem ehemaligen preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun (1872-1955) sowie den sozialdemokratischen Politikern Wilhelm Hoegner (1887-1980) und Heinrich Ritzel (1893-1971). Sie waren es dann auch, aus denen heraus 1945, noch während des Kriegs, eine Arbeitsgemeinschaft »Das Demokratische Deutschland« entstand, die kurz nach dem Krieg (Verlagsort Bern/ Leipzig) eine von den genannten Politikern sowie Jakob Kindt-Kiefer verantwortete Programmschrift herausgab;
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sie stellte in mehrerer Hinsicht eine Gegenposition zu der in der Schweiz nicht einflusslosen, auf Moskau orientierten Bewegung »Freies Deutschland« her, gegen deren Ziele sich Wirth schon in einem Brief vom 26. März 1945 an Dr. Wilhelm Abegg (1876-1951) gewandt hatte (u. a. Frage der deutschen Ostgrenze). Hagen Schulze hat nicht zu Unrecht »Das Demokratische Deutschland« als »eine nach links verschobene Weimarer Koalition im kleinen« bezeichnet; man könnte die Arbeitsgemeinschaft auch als Fortsetzung der Republikanischen Union ansehen.
     Nach Ende des Zweiten Weltkriegs blieb Wirth zunächst in der Schweiz, kehrte aber 1948 nach Freiburg im Breisgau zurück. Für ihn, den Ur-Badener, blieb im politischen Leben der alten Bundesrepublik kein angemessener Platz mehr. 1952 trat er mit einem Brief an die Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates mit der Warnung vor Unterstützung des Schuman- Plans und des Generalvertrages hervor, ohne dass hierauf reagiert wurde. Ebenso scheiterten seine Bemühungen, mit dem »Bund der Deutschen« eine Alternative zur Adenauerpolitik zu schaffen.
     Bei der Beisetzung Joseph Wirths am 5. Januar 1956 in Freiburg hatte Prälat Ernst Gottlieb Föhr (1892-1976), sein Seelsorger und Freund, gesagt: »Er war ein Mann von außerordentlicher staatsmännischer Begabung. Er spürte mit feinem Gefühl Entwicklungen, die sich anbahnten, die andere nicht sahen ...«
Literatur:
     Walter Dirks, Joseph Wirth, Der Mann zweier Alternativen, in: Allmende, 1. Jahrgang, 1/1981
     Hugo Ott, Reichskanzler Dr. Joseph Wirth. Sein Weg in die Emigration, in: Freiburger Diözesan- Archiv, 101. Jahrgang, 1981
     Heinrich Scharp, Wirth; in: Staatslexikon, Band 8, Freiburg i. Br. 1963 (in der 7. Auflage von 1989, Band 5: Rudolf Morsey, Wirth)
     Günter Wirth, Joseph Wirth, Berlin 1980
     Gernot Erler, Karl-Otto Sattler (Hrsg.), Die unterlassene Ehrung des Reichskanzlers Joseph Wirth. Ein dokumentarisches Lesebuch, Freiburg i. Br. 1980
     Ulrike Hoerster-Philipps, die 1987 in Köln mit Norman Paech, Erich Roßmann und Christoph Strässer das Buch: Rapallo- Modell für Europa? Friedliche Koexistenz und internationale Sicherheit heute herausgegeben hat und der 1983 begründeten Joseph-Wirth- Stiftung nahesteht, hat 1992 im Moskauer Staats-Archiv einen Teil des verschollenen Wirth-Archivs (550 Akten) auffinden können; von ihr ist inzwischen eine erste Arbeit vorgelegt worden

Bildquelle: Archiv LBV

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2000
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