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Peter Spahn
Eine Ehre für jedes Orchester

Der Dirigent Wilhelm Furtwängler (1886-1954)

Als er am 25. Januar 1886 geboren wird, wohnen die Furtwänglers in der Schöneberger Maaßenstraße 1. Die Taufnamen: Heinrich, Gustav, Ernst, Martin, Wilhelm, die dreiundzwanzigjährige Mutter Adelheid notiert in ihr Tagebuch das Geburtsgewicht mit ca. sieben Pfund. Nach sieben Wochen hat er die altersgerechte Größe von 51 cm - noch nichts Auffälliges für die den Sohn aufmerksam beobachtende, malerisch begabte Mutter. Dass er einmal zu den »großen« Meistern des Taktstocks, nicht nur im künstlerischen Sinn, sondern auch in der physischen Erscheinung gehören wird, steht noch in weiter Ferne.
     Auch der Vater Adolf, bekannter Archäologieprofessor in der kaiserlichen Reichshauptstadt, sieht die berufliche Perspektive seines Sohnes erst einmal in einer anderen Richtung. Adolf Furtwängler erhält eine Berufung an den angesehenen Münchner Lehrstuhl, die Familie zieht um, Wilhelm verbringt die Jugendjahre dort.


Wilhelm Furtwängler

 
Es ist eine wohl behütete, auf die Herausbildung vielfältiger Fähigkeiten bedachte Jugend, nicht durch öffentliche Schulen, sondern weitgehend durch private Unterweisung befördert. Gesellschaftlicher Verkehr mit der wissenschaftlichen, künstlerischen und literarischen Elite der bayerischen Hauptstadt.

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Friedrich Huch (1872-1913) nimmt den künstlerisch interessierten, sensiblen jungen Wilhelm Furtwängler 1911 als Vorbild für eine Hauptfigur in seinem musikalischen Roman »Enzio«. Seine erste musikalische Ausbildung übernehmen der greise und allseits verehrte Professor für Kontrapunkt, Klavier und Orgel Joseph Gabriel Rheinberger (1839-1901), der spätere Münchner Akademie- Professor für Klavier, Musiktheorie und Komposition Anton Beer-Walbrunn (1864-1929), und der zu dieser Zeit schon mit seinen ersten Opern hervorgetretene Komponist Max von Schillings (1868-1933). Der später überwiegend in Berlin tätige Klavierpädagoge Conrad Ansorge (1862-1930) macht aus ihm einen guten Pianisten, der sich auch in späteren Jahren immer wieder gern der Kammermusik verschreibt.
     Es scheint, dass die Musik sein Lebensinhalt wird. Komponist oder Dirigent - das ist noch nicht entschieden. Er wird Korrepetitor, Chorleiter und Kapellmeister in verschiedenen Städten, schließlich Operndirektor in Mannheim. Furtwängler ist noch keine Dreißig. Er hat allmählich ein ansehnliches Repertoire kennen gelernt, hat sich nicht davor gescheut, mit zwanzig Jahren Anton Bruckners 9. Sinfonie zu dirigieren, ist als Komponist hervorgetreten. Es sind Lehr- und Wanderjahre. Als Richard Strauss (1864-1949) Ende 1919 verärgert seine Berliner Zelte an der Staatsoper abbricht, schlägt Furtwänglers Stunde: Er wird als Leiter der Sinfoniekonzerte der Staatskapelle engagiert. Und er nutzt diese Chance.
Innerhalb kurzer Zeit erwirbt er sich ein solches Renommee, dass er an die Spitze des Berliner Philharmonischen Orchesters berufen wird. Die Stelle war vakant geworden, als Artur Nikisch geb. 1855 am 23. Januar 1922 starb, der dieses Orchester 27 Jahre geleitet hatte - über viele Jahre parallel zum Leipziger Gewandhaus- Orchester. Und auch hierin tritt Furtwängler Nikischs Nachfolge an. Seinen Hauptwohnsitz aber nimmt er in Berlin: in der Matthäikirchstraße 31. (Anlässlich des 90. Geburtstages von Herbert von Karajan am 5. April 1998 wurde diese Straße an der Philharmonie in Herbert-von- Karajan- Straße umbenannt.) Als Furtwängler hier seine Wohnung nimmt, befindet sich die Philharmonie noch in der Bernburger Straße.

Das Berliner Musikleben in den 20er Jahren

In dieser Zeit ist das Berliner Musikleben geprägt von Komponisten wie Kurt Weill (1900-1950), Franz Schreker (1878-1934), Arnold Schönberg (1874-1951), Rudolf Nelson (1878—1960), Friedrich Hollaender (1896-1976), Hanns Eisler (1898-1962), Richard Strauss (1864-1949), Paul Hindemith (1895-1963), Franz Lehár (1870-1948); es ist die Zeit der Comedian Harmonists, der Ausstattungsoperetten im Großen Schauspielhaus (dem ehemaligen Circus Schumann und späteren alten Friedrichstadtpalast). Hier finden auch Gastspiele statt, wie die des Jazz- und Swingkönigs Paul Whiteman, die das Publikum von den Plätzen reißen.

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Es ist die Zeit der Uraufführung der Oper »Wozzeck« von Alban Berg (1885-1935) und der »Dreigroschenoper« von Bert Brecht (1898-1956) und Kurt Weill; Richard Tauber (1892-1948), Meta Seinemeyer (1895-1929), Helge Rosvaenge (1897-1972), Heinrich Schlusnus (1888-1952), Benjamino Gigli (1890-1957) und Fritzi Massary (1882-1969) begeistern mit ihren verzaubernden Stimmen das Publikum in Oper und Operette; Dirigenten wie Hermann Scherchen (1891-1966), Erich Kleiber (1890-1956), Otto Klemperer (1885-1973), Leo Blech (1871-1858), Bruno Walter (1876-1962) leiten glanzvolle, aber auch Skandale provozierende Opern- und Konzertaufführungen. Claire Waldoff (1884-1957) und Otto Reutter (1870-1931) setzen mit ihren Chansons dem Zeitgeist ein bleibendes Denkmal. Soweit sie noch leben, werden nur ganz wenige dieser Künstler am Ende der Republik in Deutschland bleiben. Und viele werden nie wieder zurückkommen.
     Es ist die musikalisch fruchtbarste Berliner Opernzeit, die Zeit des künstlerischen Wettbewerbs zwischen der Staatsoper, der Charlottenburger Oper und der Krolloper. Und eine musische Zeit: Tausende singen in den verschiedenen Berliner Chören, zahlreiche Musikzeitschriften für Laien und Fachleute erscheinen (BM 12/95). Hier nun ist Wilhelm Furtwängler an seinem Platz, am Beginn einer bemerkenswerten Karriere.
Er übernimmt ein Orchester, das 1882 gegründet und mit Hans von Bülow (1887-1894) und Arthur Nikisch (1855-1922) Maßstäbe für höchste Klangkultur und Professionalität setzte (BM 2/92). Am 20. März 1922 unterzeichnet er den Vertrag, der ihn zum künstlerischen Leiter dieses Orchesters verpflichtet. Sein erstes Konzert als Chef gibt er am 9. Oktober; im Publikum sitzt Maria von Bülow, die Witwe seines Vor- Vorgängers, die eine »Gänsehaut« verspürt ob des tiefen musikalischen Eindrucks, den der 36jährige Furtwängler hinterlässt.
     Im Mai 1923 heiratet Furtwängler die Dänin Zitla Lund. Und Berlin ist seine Schicksalsstadt: Hier steht er auf dem höchsten musikalischen Gipfel, hier erlebt er die tiefsten musikpolitischen, ja persönlichsten Konflikte.

Auf Gastspielreisen und auch am Opernpult

Er hat die laufenden philharmonischen Konzerte zu leiten, er pendelt ständig zwischen Berlin und Leipzig und übernimmt ab 1928 auch die Leitung der Wiener Philharmoniker in der Nachfolge von Felix von Weingartner (1863-1942). Im Herbst 1928 übernimmt Furtwängler auch das Amt des Berliner Städtischen Generalmusikdirektors.

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Außerdem vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht Gastspielreisen den Ruhm der Philharmoniker und ihres Dirigenten über Berlin hinaus mehren. Auch ans Opernpult wird er in Berlin gerufen. Am 13. Juni 1929 dirigiert Furtwängler erstmals eine Oper in Berlin: Im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt Mozarts »Die Hochzeit des Figaro«. Am 19. Juni 1929 folgt dann sein Debüt am Pult der Staatsoper mit »Tristan und Isolde« von Richard Wagner. Wagner tritt nun verstärkt in sein Repertoire, vor allem seit er im Jahre 1931 neben Arturo Toscanini (1867-1957) gleichberechtigter musikalischer Leiter der Bayreuther Festspiele wird und 1933 auch die Leitung der Berliner Staatsoper übernimmt - beide Positionen aber nur für kurze Zeit. Die enge Bindung zu den Berliner Philharmonikern ist die eigentliche Konstante für den Dirigenten Wilhelm Furtwängler. Und von Beginn an bezieht er die zeitgenössische Musik in die Programmgestaltung des Berliner Philharmonischen Orchesters mit ein.
     Am 25. Januar 1933 feiert Furtwängler seinen 47. Geburtstag. Mit seinem kraftvollen, ausdrucksstarken Ansatz und der Entwicklung eines reichhaltigen Streicherklanges erwarb er sich und »seinem« Berliner Philharmonischen Orchester hohes Ansehen. Als einer der führenden Dirigenten seiner Zeit machte er umfangreiche Konzerttourneen und war Gastdirigent der bedeutendsten Orchester.
Er ist der deutsche, der europäische Dirigent, bei dem alle großen Orchester es sich als Ehre anrechnen, wenn dieser Maestro, der »Herr Doktor«, wie er sich nach seiner Ehrenpromotion der philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg im Jahre 1927 nicht nur von seinen Philharmonikern gern anreden läßt, bei ihnen gastiert.
     Anders als viele andere bedeutende Musikschaffende bleibt Furtwängler im nationalsozialistischen Deutschland, engagiert sich für zahlreiche jüdische Künstler und für die Unabhängigkeit des künstlerischen Schaffens. Er wird aber auch zunächst Vizepräsident der Reichsmusikkammer. Im Dezember 1934 tritt er von seinen Ämtern zurück, dirigiert aber weiterhin das Berliner Philharmonische Orchester und ist immer wieder Gegenstand öffentlicher Kontroversen. Immerhin ist er der Einzige innerhalb des deutschen Musiklebens, der mehrfach und öffentlich gegen das NS-Regime Stellung bezieht. Am 30. November 1954 stirbt Furtwängler im heute zu Baden-Baden gehörenden Ebersteinburg. Am 24. Februar 1955, drei Tage nachdem das Berliner Philharmonische Orchester Herbert von Karajan (1908-1989) zum neuen Chef gewählt hatte, wurde die Beymestraße im Grunewald (Wilmersdorf) in Furtwänglerstraße umbenannt.
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Der Komponist und Musikschriftsteller

Schon in jungen Jahren hat Furtwängler komponiert, eine Sinfonie in D-Dur (1903), zwei Chöre zu Goethes Faust (1904), ein Adagio für Orchester (1906) und ein Tedeum (1910). Und ganz lässt er es nie. Besonders in den späteren Jahren - vielleicht auch als Konsequenz der politischen Umstände im nationalistischen Deutschland - verstärkt Furtwängler seine kompositorische Tätigkeit. Aber auch in musiktheoretischen Arbeiten trat Furtwängler hervor. Über Nietzsche und Wagner (Leipzig 1941), über Johannes Brahms und Anton Bruckner (Leipzig 1942) hat er sich geäußert. Zahlreiche Essays aus den verschiedenen Jahren wurden zusammengefasst und in zahlreichen Publikationen veröffentlicht.

Nachschöpferische Flexibilität

Das Bekannte immer wieder neu wirken zu lassen, die Partitur immer wieder neu lesen, umfassender in das Notenbild einzudringen, in den Geist des Werkes sich zu versenken, »so dirigierte er tiefsinniger, dramatischer, philosophischer als jeder andere. Das empfand auch seine ihm lebenslang ergebene Gemeinde, das empfanden große Musiker wie Casals oder Arrau, wie Hindemith oder Schönberg oder Menuhin.

Und so verehren ihn auch zahlreiche Jüngere - wie Abbado, Barenboim, Brendel - als riesiges, herrliches Vorbild.« (Joachim Kaiser) Dennoch bleibt die Frage, was das Phänomenale des Dirigenten Furtwängler ausmachte. Die Musiker hatten Schwierigkeiten, seinen Schlag auszumachen. Es ist dieser eigenartige Habitus und Gestus beim Dirigieren. Die Taktgebung ist nicht etwa besonders präzise, eigentlich das Gegenteil. Nicht Präzision im Zusammenspiel war sein Ziel, da war ihm Arturo Toscanini, der heimliche Antipode, sicherlich um einiges voraus. Es ging ihm um die klangliche Substanz, um den faszinierenden Klang, um Subjektivität, das Unverwechselbare, und da nahm er Tempoabweichungen, Eigenwilligkeiten, Ausdrucksschwankungen im musikalischen Vortrag in Kauf. Und das Ergebnis war ein unendlich schöner Klang, besonders in den Streichern, sodass für viele Musiker Furtwängler schlechthin die Musik verkörperte, die sie spielten.

Bildquelle: Archiv LBV

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2000
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