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Herbert Schwenk
»Ein Baum, der mehr Blüten als Früchte trägt ...«

Der Politiker Walther Rathenau (1867-1922)

Am 24. Juni 1922 erschütterte die deutsche und internationale Öffentlichkeit die Nachricht, daß Reichsaußenminister Dr. Walther Rathenau auf dem Weg zum Dienst in die Wilhelmstraße in der Villenkolonie Grunewald auf offener Straße durch Schüsse aus einer Maschinenpistole und die Detonation einer Handgranate ermordet wurde. Das Attentat verübten drei junge Mitglieder der geheimen rechtsextremistisch- terroristischen »Organisation Consul«, ehemalige Offiziere und Kapp- Putschisten, das sie wenige Tage zuvor in allen Einzelheiten geplant hatten. Die Tragödie kam nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Schon im April 1920 hatte Carl von Ossietzky (1889-1938) gewarnt: »Die deutsche Republik ist zum Paradefeld der reaktionären Kohorten geworden«,1) und Albert Einstein (1879-1955) dachte schon damals daran, angesichts des wachsenden Antisemitismus Deutschland zu verlassen.

Walther Rathenau, Kreidezeichnung von Max Liebermann, 1912

 
1921 wurde der Zentrums- Politiker Matthias Erzberger (geb. 1875) ermordet. Nach einem Blausäureanschlag auf den SPD- Politiker Philipp Scheidemann (1865-1939) am 4. Juni 1922 und einem Sprengstoffattentat auf den KPD- Politiker Ernst Thälmann (1886-1944) zwei Wochen später erreichte der Terror mit der Ermordung Walther Rathenaus seinen Gipfel. Die Untat löste einen gewaltigen Proteststurm im ganzen Land aus.

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»Ungeheure Demonstrationszüge, wie sie Deutschland noch nicht gesehen hatte, durchzogen geordnet unter republikanischen Fahnen alle deutschen Städte«,2) schrieb Rathenau- Biograph Harry Graf Kessler (1868-1937), ein demokratisch- pazifistischer Schriftsteller und Diplomat, der Rathenaus Lebensweg oft gekreuzt hatte. Am Tag nach dem Mord, einem Sonntag, zogen 250 000 Berliner zum Lustgarten, um ihren Protest spontan zum Ausdruck zu bringen, am 27. Juni traten, einem Aufruf des ADGB folgend, Millionen deutscher Arbeiter und Angestellter in einen halbtägigen allgemeinen Proteststreik. Reichskanzler Joseph Wirth (1879-1956) prangerte im Reichstag die Hintermänner des Mordes mit den berühmten Worten an: »Da steht der Feind und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts.« Wenige Tage später, am 3. Juli, erschütterte abermals ein politisches Attentat Berlin: Opfer des Anschlags war der bekannte jüdische Publizist Maximilian Harden (geb. 1861), der 1927 an den Folgen des Verbrechens verstarb.
     Die außerordentliche Anteilnahme der Bevölkerung an der Ermordung Walther Rathenaus kam nicht von ungefähr. Der Anschlag galt einer der bemerkenswertesten Persönlichkeiten der deutschen Politik des 20. Jahrhunderts, die wesentlichen Einfluss auf die Außenpolitik der frühen Weimarer Republik ausübte. Als Sonderbotschafter und Reichsminister war Rathenau auf den internationalen Konferenzen von Versailles (1919), Cannes (1921) und Genua (1922)
für eine neue deutsche Außenpolitik eingetreten, die auf Frieden, Interessenausgleich und auch Verständigung mit Sowjetrussland gerichtet war: Am 16. April 1922 - knapp neun Wochen vor seiner Ermordung - hatte er im italienischen Rapallo das Abkommen zwischen Deutschland und Sowjetrussland über den gegenseitigen Verzicht auf Reparationsansprüche und Aufnahme von diplomatischen Beziehungen und Handelskontakten unterzeichnet. Gerade diese Verständigung und Wirtschaftsverbündung zwischen den beiden international isolierten Staaten hatte das ultrarechte antirepublikanische Lager in Deutschland und darüber hinaus aufgeschreckt. Rathenau wurde als »Anhänger des schleichenden Bolschewismus«, der »Erfüllungspolitik« und des »Verrats an Deutschland« verleumdet und bedroht. Aber er nahm die Morddrohungen nicht ernst, lehnte Polizeischutz ab und benutzte weiter seinen alten offenen Dienstwagen ...

Zwischen Kaufmann und Künstler

Die große Betroffenheit, die die Ermordung Walther Rathenaus auslöste, erklärt sich nicht allein aus seinem politischen Wirken. Fast alle Attribute, die eine überragende, vielseitige und faszinierende Persönlichkeit auszeichnen, hat man Walther Rathenau attestiert: »Genie«, »Idealist«, »talentvollster Kopf seiner Epoche«.

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Stefan Zweig (1881-1942) charakterisierte Rathenau als eine Persönlichkeit, die »sich in alle Formen kultureller Betätigung verästelt. Er ist ein amphibisches Wesen zwischen Kaufmann und Künstler, Tatmenschen und Denker. Sein Lebenswerk hat eine breite äußere Fläche und eine unterirdische unsichtbare innere Kraft, viele Emanationen (Ausstrahlungen, H. S.) im Realen und eine, vielleicht noch stärkere, aber kaum fassbare in der geistigen deutschen Welt ... Sein äußerer Beruf deckt nicht ein Zehntteil seiner wahrhaften Wirksamkeit ... Es ist in unserer spezialisierten Zeit noch enzyklopädisch zu bleiben, was so ziemlich die stärkste menschliche Anspannung verlangt, soll diese Bemühung nicht im universellen Dilettantismus zerschellen.«3)
     Aber es gab auch oft mehr oder weniger scharfe Kritik an Rathenau, bis hin zum Vorwurf des Antisemitismus, Rassismus und Militarismus. Er war unbestritten ein zutiefst widersprüchlicher Mensch: Großkapitalist, Deutscher, Preuße, Jude, Patriot, Ingenieur, Politiker, Philosoph und Schriftsteller in einer Person. Er war reich, aber er forderte die Abschaffung ererbten Reichtums; er war einsam und pessimistisch, aber er verbreitete gegen Ende seines Lebens einen rätselhaften ergreifenden Zukunftsoptimismus; er war gegen den Krieg, aber er organisierte auf hoher Ebene die Rohstoffversorgung im Krieg; er bejahte den Kolonialgedanken, aber er engagierte sich für demokratischen und sozialen Fortschritt. In seinem Freundeskreis hatten sogar Menschen wie Wilhelm Schwaner (1863-1944) Platz,
der als einer der Wegbereiter und Geburtshelfer der völkischen Bewegung gilt. So lieferte Rathenau seinen Gegnern genügend Zielscheiben für ihre Attacken und Verunglimpfungen und den Biographen Anlässe zu manchen Übertreibungen, Verzerrungen und Spekulationen über einige Punkte seines Lebens, etwa seine Einsamkeit, sein Liebesleben, seine Ehe- und Kinderlosigkeit oder vermeintliche Homosexualität.
     Viele haben versucht, sich der faszinierenden und widersprüchlichen Persönlichkeit Walther Rathenaus mit Darstellungen und Wertungen zu nähern (BM 9/99). Was rechtfertigt, im Rückblick auf das 20. Jahrhundert, Rathenau als Jahrhundert- Persönlichkeit zu porträtieren? Hat man die heutige Welt der Globalisierung und Vernetzung vor Augen, dann ist es - bei aller Widersprüchlichkeit seiner Persönlichkeit und seines Werkes - besonders die Vielfalt und Komplexität im Denken und Wirken Rathenaus, die uns heute erstaunen und mitunter als visionäre Hellsicht erscheinen lässt. Es findet auch darin seinen Ausdruck, dass Rathenau mehrere Karrieren gleichzeitig absolvierte. In der Wirtschaft erwies er sich als talentierter Ingenieur, Bankier und Manager und agierte als Mitglied in Leitungsgremien von 86 deutschen und 21 ausländischen Unternehmen; als vielgelesener Schriftsteller verfasste er die Bücher »Zur Kritik der Zeit« (1912), »Zur Mechanik des Geistes« (1913) und »Von kommenden Dingen« (1917) sowie eine große Zahl von Artikeln zu fast allen Fragen seiner Zeit.
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In der Politik erlangte er als Reichsminister internationale Aufmerksamkeit. »Meine wirtschaftliche Tätigkeit befriedigt mich, meine literarische ist mir Lebensbedürfnis ...«,4) schrieb er 1917. Und ist es nicht auch Rathenaus Bescheidenheit und Zurückhaltung gegenüber der eigenen Leistung - ganz im Gegensatz zu vielen »Leistungsträgern« in unserer Zeit -, die seine Zeitgenossen beeindruckte und auch uns Nachkommenden imponiert? »Indessen ist es nicht meine Absicht, propagandistisch für meine Gedanken einzutreten«, schrieb er 1918 in einem Brief. »Ich halte es für meine Aufgabe, sie zu produzieren, und glaube, dass wenn sie richtig sind, sie sich von selbst durchsetzen müssen.«5)

Eine Bilderbuchkarriere

Walther Rathenau gehörte zur Elite Deutschlands. Er wurde am 29. September 1867 als ältester Sohn unter drei Geschwistern in einem bekannten jüdischen Elternhaus in Berlin geboren. Sein Vater Emil Moritz Rathenau (1838-1915), ein Verwandter des Malers Max Liebermann (1847-1935), war Inbegriff des bürgerlichen Aufstiegsmusters jener Zeit. Er hatte es vom Ingenieur in der Lokomotivfabrik von August Borsig (1804-1854) nach dem Erwerb der europäischen Patente der Edisonschen Glühlampen und der Gründung der »Deutschen Edison- Gesellschaft für angewandte Electricität« (1883),

die 1887 die Firmenbezeichnung »Allgemeine Electricitäts- Gesellschaft (AEG)« annahm, zum Generaldirektor dieses Wirtschaftsimperiums gebracht. In einem solchen großbürgerlichen Elternhaus erfuhren die Heranwachsenden alle positiven und negativen Seiten rast- und rücksichtslosen väterlichen Karrierestrebens für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Auch Walther Rathenau bewunderte - wie sein Zeitgenosse Franz Kafka (1883-1924) - die Eigenschaften des Vaters »auf dem Weg nach oben«, erlebte aber auch wie Kafka die Kehrseiten davon und verachtete manches, was kühle Distanz und Vorsätze zum Anderswerden reifen ließ. Den mehr künstlerischen und intellektuellen Neigungen seines Sohnes war Emil Rathenau mit Misstrauen und Skepsis begegnet: »Er ist ein Baum, der mehr Blüten als Früchte trägt.«6) Das schwierige Vater-Sohn- Verhältnis dürfte manche Besonderheiten des Charakters von Walther Rathenau wie etwa den Hang zu langen Monologen und zur Einsamkeit erklären. Eine enge Bindung bestand dagegen zwischen dem Sohn und seiner Mutter Mathilde Rathenau (geb. Nachmann, 1845-1926), die einer jüdischen Frankfurter Bankiersfamilie entstammte und mit ihrem würdigen, zurückhaltenden, willensstarken, etwas puritanisch- strengen Wesen großen Einfluss auf die Interessen des Heranwachsenden für Kunst und Wissenschaft hatte (Rathenau bewies großes Talent beim Klavierspiel und Malen, was Max Liebermann veranlasste, ihm eine künstlerische Karriere zu empfehlen).
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Möglicherweise entsprang seine später ausgeprägte Abneigung gegenüber den »gröberen Formen der Geselligkeit« ebenfalls dem Einfluss seiner Mutter, etwa wenn er ihr als Student beichtete: »Ich habe nicht die Fähigkeit, mich zu betrinken ...«7) Sicher ist es auch Walther Rathenaus künstlerischen Intentionen zu verdanken, wenn die AEG 1907 Peter Behrens (1868-1940) zum leitenden Architekten und Industriedesigner des Konzerns berief, dem die Firma und Kunstwelt einige herausragende Werke der modernen Industriearchitektur und zahlreiche Formschöpfungen moderner Industrieprodukte verdanken.
     Indes absolvierte Rathenau statt einer Künstlerkarriere eine Unternehmerkarriere. Nach Ende der Schulzeit studierte er ab 1885 in Berlin und Straßburg Mathematik, Physik, Chemie und Philosophie und promovierte 1889 bei Hermann Helmholtz (1821-1894, BM 9/94) über »Die Absorption des Lichts in Metallen«. Nach einem Aufbaustudium in München auf dem Gebiet der Elektrochemie (1889/90), Absolvierung des Militärdienstes und einem Praxisaufenthalt in der Aluminium- Industrie-AG in Neuhausen/ Schweiz startete er 1893 seine erste Karriere als Manager und Bankier. Es war dies - dem Vater folgend - die Laufbahn auf dem Weg zu einer der bedeutendsten Unternehmerpersönlichkeiten der damaligen Zeit, zunächst als Direktor der neugegründeten Elektrochemischen Werke GmbH in Bitterfeld, die ihn nach sechs Jahren auf Wunsch des Vaters auch in den Vorstand der AEG und in die Finanzwelt führte (u. a. 1902-1907 als Geschäftsinhaber der Berliner Handels- Gesellschaft).
1904 wurde Walther Rathenau Mitglied des Aufsichtsrates der AEG, 1912 dessen Vorsitzender und schließlich seit dem Tod seines Vaters 1915 »Präsident der AEG«, ein Titel, der extra für Walther Rathenau geschaffen worden war. Obwohl Rathenau seine Unternehmerkarriere - trotz Schwierigkeiten zum Beispiel in Bitterfeld - sehr professionell gestaltete, betrachtete er sie stets nur als notwendige Voraussetzung seiner eigentlichen Passion: der literarischen Arbeit.
     Walther Rathenaus Denken und Handeln wurde entscheidend vom Umbruch in den Naturwissenschaften im Übergang zum 20.Jahrhundert geprägt. Die Physiker und Philosophen Ernst Mach (1838-1916) und Albert Einstein, zu denen Rathenau persönlichen Kontakt hatte, gewannen mit ihren epochalen Theorien großen Einfluss auf das Denken Rathenaus. Vorgänge in der Natur, insbesondere auf dem Gebiet der Elektrizität und Elektrotechnik (Stromkreise, Magnetfelder, Kreisläufe, Rückkopplungen usw.) führten ihn zu der Erkenntnis umfassender und vielfältiger Verknüpfungen und Vernetzungen in der materiellen und geistigen Welt, wofür später Norbert Wiener (1894-1964) den Begriff der Kybernetik prägte. Rathenau versuchte als einer der ersten, diese Erkenntnisse auf die Gesellschaft, vor allem die Ökonomie, zu übertragen und hat dies in mehreren Schriften publiziert. Gleiches gilt für den von Herbert Spencer (1820-1903) übernommenen Begriff der Integration. Besonders diesen Teilen des geistigen Schaffens von Walther Rathenau ist in jüngster Zeit größere Aufmerksamkeit zuteil geworden.8)
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Dabei wird ersichtlich, dass Walther Rathenau ein »Pionier des integralen Denkens« war und damit weit in die Zukunft wirkte. Sein Systemdenken erfuhr durch die ökonomischen Verhältnisse und Erfordernisse, in die er involviert war, starke Impulse. Die AEG operierte zunehmend auch auf internationaler Ebene, was europäisches, globales und ganzheitliches Denken und Handeln beförderte. In einem langen Gespräch mit Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg (1856-1921) am 25. Juli 1912 auf dessen Gut Hohenfinow entwickelte Rathenau Visionen zur Wirtschaft und internationalen Politik und gelangte zu dem vieldeutigen Schluss, dass »der Umschwung kommen werde ... Entweder würde er kommen als Folge unglücklicher Situationen, oder heroisch, bei Sonnenschein ...«9)

Für einen flexiblen Kapitalismus

Unter Walther Rathenau stieg die AEG zum Vorreiter eines deutschen »Turbokapitalismus« auf dem Weg ins 20. Jahrhundert auf. Ihr Aktienkapital belief sich 1908 auf 100 Mill. RM; die Gesamtzahl der Arbeiter und Angestellten betrug 32000; die AEG- Aktienkurse stiegen zwischen 1902 und 1908 von 180,75 auf 218,75 und die Dividenden von 8 auf 12 Prozent.

Der Kampf um Höchstprofite wurde mit eiserner Konsequenz geführt - bis hin zu monopolistischen Absprachen zur »Aufteilung der Wirtschaftswelt«, wie die klassische »Regelung der Beziehungen« der AEG mit der US- amerikanischen General Electric Co. zeigte. In jene Mechanismen war Walther Rathenau voll integriert und hat sie in ihrer Ganzheit nie in Frage gestellt. Begriffe wie »Kapitalismus«, »kapitalistische Ordnung« und »Monopol« gehörten zu seinem Denken, das die Grundanschauungen und Interessen der damals modernsten Kräfte der Wirtschaft, allen voran der Elektrizitätswirtschaft, zum Ausdruck brachte. Seine Anschauungen, die die neuen Anforderungen an wissenschaftliches und perspektivisches Denken reflektieren, fokussieren sich vor allem im Begriff der »Mechanisierung« und gingen weiter als die anderer. So plädierte er für ein »Reichselektrizitätsmonopol«, bei dem die Elektrizitätserzeugung an den geeignetsten Standorten konzentriert werde und ein einheitliches Elektrizitätsnetz, das zur Vereinheitlichung der Tarife und Kostensenkung führe.
     Besonders deutlich wird das in den neuen Anforderungen der modernen Wirtschaft an den Staat, die Rathenau artikulierte.
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Er war immer ein Bewunderer des in den napoleonischen Befreiungskriegen erneuerten Preußentums und preußischen Staatswesens, wie es sich beispielsweise auch in der klassizistischen Architektur Karl Friedrich Schinkels (1781-1841) und David Friedrich Gillys (1748-1808) manifestierte und die Rathenau verehrte. Nun aber ging es um mehr: die aktivere Rolle des Staates bei der Sicherung der nationalen und noch mehr internationalen und Zukunftsinteressen der damals modernen Bereiche der deutschen Wirtschaft. In mehreren Schriften, insbesondere in »Von kommenden Dingen« (1916), entwickelte Rathenau dazu Überlegungen: »Das Ziel aber ist der materiell unbeschränkte Staat. Er muss mit seinen Mitteln dem Bedürfnis vorauseilen, nicht nachhinken ... Er soll eingreifen können in jeder Not, zu jeder Sicherung des Landes ...« 10) Rathenau konnte sich weder mit den Zielen der Sozialdemokratie (»... dem heutigen Sozialismus fehlt die Kraft positiver Ideen«) noch denen der Deutschen Fortschrittspartei und der Zentrumspartei identifizieren. Ihm ging es um eine Stärkung des Parlamentarismus und der Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens, um größere Teile des Volkes politisch zu aktivieren. Er verfocht die Idee des »Volksstaates« und der Schaffung einer »Volksgemeinschaft«, keineswegs jedoch Volksherrschaft - »Mein Ziel ist niemals Volksherrschaft ...«11) -, empfahl höhere Löhne, um Konsumtion und Produktivität zu erhöhen, trat für einen breit gestreuten Wohlstand ein, forderte gleiche politische Rechte und gleiche Bildungschancen und wandte sich gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht mit dessen Diskriminierung vor allem der wachsenden Industriearbeiterschaft. In der internationalen Politik erwartete er vom Staat eine Unterstützung der Wirtschaftsexpansion der Konzerne (allein bis 1900 errichtete die AEG weltweit 248 Elektrizitätswerke). Rathenau entwickelte Vorstellungen zur Schaffung kolonialer Großräume, über Interessensphären und Stärkung der wirtschaftlichen Größe und Bedeutung Deutschlands. So bereiste Walther Rathenau mit Bernhard Dernburg (1865-1937), damals Staatssekretär des Reichskolonialamtes und 1919 Reichsfinanzminister, 1907 Ostafrika und 1908 Südafrika und verfasste die Denkschrift »Erwägungen über die Erschließung des Deutsch- Ostafrikanischen Schutzgebietes«, in der es heißt: »so dürfen wir hoffen, daß die Erziehung zur Kolonisation abermals dem deutschen Geist ein Gebiet erschließen wird, das seiner irdischen Mission entspricht«.12) Im Anschluß an die erste Reise wurde Rathenau der Kronen- Orden II. Klasse verliehen. Aber auch Würdigungen wie diese vermochten nichts daran zu ändern, dass er von Teilen der Herrschenden als »Deutscher jüdischen Stammes«, wie er sich selbst sah, mit Vorurteilen und sogar Argwohn betrachtet wurde, woraus sich Hemmungen und kritische Haltungen zum Judentum erklären.
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Zwischen Krieg und Frieden

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges hat Rathenau ebenso überrascht wie erschüttert. Zeitzeugen wie Harry Graf Kessler berichten, dass Rathenau bei Kriegsausbruch »wie vernichtet« war, »in Verzweiflung die Hände rang« und »stumm da saß, während ihm die Tränen über die Wangen rollten ...«13) Er sah voraus, dass der Weltkrieg lang, schwer und schrecklich werde und sich danach alles ändern würde. Aber er zog daraus nicht den Schluss, alles für die sofortige Beendigung des Krieges zu tun, sondern sah, nachdem der Weltkrieg einmal ausgebrochen war, im deutschen Sieg, an dem der Patriot Rathenau bis zum Kriegsende nicht zweifelte, die Chance zum würdigen Überleben. Er bot seine Dienste zur Organisation der deutschen Kriegswirtschaft an. Er sah vor allem in Erich Ludendorff (1865-1937), mit dem er 1915 Kontakt aufnahm, einen Mann, »der uns, wo nicht zum Siege, so doch zu einem ehrenvollen Frieden führen könnte«,14) wie er rückblickend 1919 schrieb. Ironie der Geschichte: Gerade dieser General Ludendorff wurde einer der Wortführer völkischer Rechtsgruppen, die nur einige Jahre später den Mordplan ausheckten ...


Walther Rathenau (rechts), 1905

Rathenau wurde noch 1914 zum Leiter einer Abteilung des Kriegsministeriums ernannt, die die Umstellung der deutschen Wirtschaft auf die Kriegsproduktion, insbesondere in der Hauptstadt, organisierte.

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   76   Porträt Walther Rathenau  Voriges BlattNächstes Blatt
Zugleich stellte er Überlegungen über die Bedingungen eines künftigen Friedens und der Reorganisation der deutschen Wirtschaft und Mitteleuropas an. Rathenau hielt es für möglich, dass nach Beendigung des Krieges unter Führung Deutschlands ein freiwillig organisiertes, vereinigtes europäisches Wirtschaftsgebiet entstehen könnte. In den Kriegsjahren jedoch sprach er von einer »Kriegsgesellschaft« als neuer Gesellschaftsform in Deutschland. Es scheint, dass Rathenau in jener Zeit zwischen einer kriegsorientierten, kriegsführenden und friedensorientierten, friedensfähigen kapitalistischen Gesellschaftsform unterschied - ein für unsere Zeit besonders wertvoller Fingerzeig. Unter dem Eindruck der Verschärfung der Kriegssituation nahmen seine Einsamkeit und Verzweiflung, aber auch Kritik am Krieg und Befürchtungen hinsichtlich der Zukunft zu: »Wir werden schwerere Dinge erleben, als die wir sahen«,15) schrieb er am 24. Oktober 1914 an den holländischen Schriftsteller und Dichter Dr. Frederik Willem van Eeden (1860-1932). Und in seiner programmatischen Schrift »Von kommenden Dingen« warnte er 1916: »Dieser Krieg ist nicht ein Anfang, sondern ein Ende, was er hinterläßt sind Trümmer.« Indes sollten sich Rathenaus Warnungen und Mahnungen immer mehr bestätigen, vor allem nach dem Beginn des uneingeschränkten U-Boot- Krieges, wodurch es Anfang 1917 zum Zerwürfnis mit Ludendorff kam. Im Sommer 1918, als die Niederlage Deutschlands offenkundig wurde, veröffentlichte Rathenau seinen fast missionarisch anmutenden und rätselhaft erscheinenden Aufruf: »An Deutschlands Jugend«.
     Darin forderte er die Jugend auf, die nationale Wiedergeburt Deutschlands in die Hände zu nehmen: »Neu wird unsere Lebensweise, unsere Wirtschaft, unser Gesellschaftsbau und unsere Staatsform. Neu wird das Verhältnis der Staaten, der Weltverkehr und die Politik. Neu wird unsere Wissenschaft, ja selbst unsere Sprache.«16)
     Rathenaus großer Zukunftsoptimismus sollte sich nicht erfüllen. Obwohl er sich an den Problemlösungen der deutschen Reparationszahlungen aktiv beteiligte, verflogen seine Hoffnungen auf eine dauerhafte Friedensordnung. Rathenau wurde Anhänger und Mitglied der neuen Demokratischen Partei. Eine kleine Gruppe von Deutschen in Schweden schlug ihn sogar zum Kandidaten des zu wählenden neuen Präsidenten der neuen Republik vor. Von Mai bis Oktober 1921 wirkte er - unter Zurückstellung größter Bedenken - als Minister für Wiederaufbau im Kabinett von Joseph Wirth, und im Januar 1922 leitete er auf Bitte von Wirth die deutsche Delegation auf der Konferenz in Cannes, die erneut über die Reparationsfrage verhandelte. Schließlich wurde wenige Monate später, im April 1922, die Konferenz in Genua zum letzten Höhepunkt seines schaffensreichen Lebens, nachdem er kurz zuvor - wiederum »mit den tiefsten Sorgen« - Reichsaußenminister im Kabinett von Joseph Wirth geworden war. Als seine hochbetagte Mutter ihn daraufhin mit den Worten rügte: »Walther, warum hast du mir das angetan?«, hatte er nur diese Erklärung: »Mama, ich musste ja, weil sie keinen anderen gefunden haben.«17)
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In der kurzen Zeit, die ihm bis zum Tode verblieb, trat Rathenau nur noch einmal ins Scheinwerferlicht der internationalen Politik: Am 16. April 1922 unterzeichnete er am Rande der Genua- Konferenz das Abkommen von Rapallo. Danach verstärkte das ultrarechte Lager die Hetzkampagne gegen ihn: Morddrohungen tauchten auf, bevor am 24. Juni 1922 die tödlichen Schüsse fielen.
     »Ich hoffe, dass Männer nach mir kommen, die gleichfalls ihr ganzes Lebenswerk verlassen, um unserem Volk zu dienen ... Ich achte jede Überzeugung, ich buhle um niemandes Gunst, meine Arbeit gilt allen, ich hänge weder an einem Amt, noch an persönlichen Wünschen. Mein höchstes Glück wäre es, die Zeit zu erleben, wo Deutschland seinen inneren Hader vergisst und als wahrhafte Volksgemeinschaft zusammenhält«,18) hatte Walther Rathenau fast auf den Tag genau ein Jahr vor seinem Tod geschrieben.

Quellen:
1 Carl von Ossietzky, Schriften, Bd. 1, Berlin und Weimar 1966, S. 134
2 Harry Graf Kessler, Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk, Berlin- Grunewald 1928, S. 368
3 Stefan Zweig, Walther Rathenaus Kritik der Zeit, zit. nach: Hans F. Loeffler, Walther Rathenau - ein Europäer im Kaiserreich, Berlin 1997, S. 31 f.
4 Rathenau an Frau von Hindenburg, 12. 12. 1917, zit. nach: Walther Rathenau, Tagebuch 1907-1922, hrsgg. und kommentiert von Hartmut Pogge-v. Strandmann, Düsseldorf 1967, S. 19
5 Rathenau an F. von Perbrandt, 19. 3. 1918, in: Walther Rathenau, Wirtschaft ist Schicksal, hrsgg. von Uwe Greve, Husum- Taschenbuch, Geist und Politik, Husum 1990, S. 123

6 Bernhard Fürst von Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, Berlin 1930/31, S. 40
7 Walther Rathenau an Mathilde Rathenau, 30. 1. 1887, zit. nach: Walther Rathenau, Tagebuch 1907-1922, a. a. O., S. 18
8 Hans F. Loeffler, Walther Rathenau - ein Europäer im Kaiserreich, a. a. O., S. 51 ff.
9 Zit. nach ebenda, S. 95
10Walther Rathenau, Wirtschaft ist Schicksal, hrsgg. von Uwe Greve, a. a. O., S. 41
11Walther Rathenau an Prof. Dr. J. Landmann, 20. 7. 1917, in: Ebenda, S. 37
12Auszüge aus den »Erwägungen über die Erschließung des Deutsch- Ostafrikanischen Schutzgebietes«, in: Walther Rathenau, Tagebuch 1907-1922, a. a. O., S. 86
13Harry Graf Kessler, Walther Rathenau, a. a. O., S. 166 ff.
14Walther Rathenau im Berliner Tageblatt, 23. 11. 1919, zit. nach: Walther Rathenau, Tagebuch 1907-1922, a. a. O., S. 35
15Walther Rathenau an Dr. Frederik Willem van Eeden, 24. 10. 1914, zit. nach: Ebenda, S. 34
16Walther Rathenau, An Deutschlands Jugend, Berlin 1918, S. 13
17Zit. nach: Walther Rathenau, Tagebuch 1907-1922, a. a. O., S. 49
18Walther Rathenau an Wilhelm Schwaner, 26. 6. 1921, in: Walther Rathenau, Wirtschaft ist Schicksal, a. a. O., S. 127

Bildquelle: LBV

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2000
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