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Günter Peters
Bemerkenswerte Bauleistungen

Zur städtebaulichen Entwicklung der Reichshauptstadt bis 1932

Vor 80 Jahren wurde durch das Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde vom 27. April 1920, verabschiedet von der verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung, am 1. Oktober 1920 die Einheitsgemeinde Berlin gebildet. Sie umfasste außer Berlin mit den sechs Verwaltungsbezirken Mitte, Tiergarten, Wedding, Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Kreuzberg die Städte Lichtenberg, Schöneberg, Wilmersdorf, Charlottenburg, Köpenick, Neukölln und Spandau - aus selbständigen Städten wurden sieben Berliner Verwaltungsbezirke - sowie 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke. Die Namen der weiteren sieben neugebildeten Verwaltungsbezirke waren Zehlendorf, Steglitz, Tempelhof, Treptow, Weißensee, Pankow und Reinickendorf. Damit gab es zwanzig Verwaltungsbezirke, davon sechs Innenbezirke und 14 Außenbezirke.

Städtebau im neuen »Groß-Berlin«

Die neue politische Struktur basierte auf dem längst zusammengewachsenen Wirtschafts- und Verkehrsgebiet und schuf günstige Bedingungen für die weitere Entwicklung Berlins als politische, wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Metropole der Weimarer Republik. Die Bildung der Einheitsgemeinde erfolgte im Interesse der städtebaulichen Entwicklung zu spät. Mit dem Zusammenschluss zur Einheitsgemeinde Berlin war die Errichtung eines zentralen Städtebaues der Stadt zur Gewährleistung einer einheitlichen Entwicklung und Gestaltung der Reichshauptstadt der Weimarer Republik ab 1922 möglich, auch im Städtebau Berlins entstand nach dem Ersten Weltkrieg eine in vieler Beziehung neue Situation.
     Durch die Bildung der neuen Stadtgemeinde Berlin hatte die Gebietsfläche der Stadt um mehr als das Dreizehnfache zugenommen. Die bebaute Fläche der Gesamtstadt an der Gesamtfläche betrug 15,5 Prozent. In den einzelnen Verwaltungsbezirken gab es sehr unterschiedliche Verhältnisse. In den sechs Innenbezirken waren 46,8 Prozent der Fläche bebaut, darunter Mitte mit der stärksten Bebauung von 65 Prozent. In den vierzehn Außenbezirken schwankten die bebauten Flächen von 42,4 Prozent in Schöneberg bis zu 5,7 Prozent in Köpenick.

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Die bebaute Stadtgebietsfläche erhöhte sich von 1920 bis 1933 um 4666 ha, davon entfielen allein auf die vierzehn neugebildeten Verwaltungsbezirke 4496 ha = 99,6 Prozent.
     Das Bauland war vor allem für die Erweiterung der Industriegebiete und der am inneren Stadtrand entstandenen Großwohnsiedlungen genutzt worden. Daraus kann man klar erkennen: Die Hauptbautätigkeit in der Zeit der Weimarer Republik fand in den neu eingemeindeten Gebieten statt.
     Berlin wurde in der Zeit der Weimarer Republik zu einem städtebaulichen Hauptzentrum. An dieser Entwicklung hatte Martin Wagner (1885-1957, SPDStadtbaurat von 1926 bis 1933) einen großen Anteil mit seinen neuen Ideen in Städtebau und Architektur.
Er trat mit unermüdlicher Energie für die Interessen der Werktätigen ein, förderte die Architekten des Neuen Bauens und versuchte, eine großzügige Stadtplanung durchzuführen. Mit Hilfe der DEWOG konnte er 1927 erstmals in Deutschland eine Versuchssiedlung in BerlinFriedrichsfelde mit vorgefertigten Betongroßplatten errichten. Bereits vorher hatte er mit anderen Architekten, darunter Bruno Taut, an Projekten mitgewirkt, wie der Siedlung Lindenhof, der Großsiedlung Britz und der Siedlung Eichkamp. Er war 1919 Mitbegründer der sozialen Baugesellschaft mbH »Deutsche Bauhütte« und von 1920 bis 1924 Geschäftsführer des »Verbandes sozialer Baubetriebe«. Martin Wagners Wirken in Berlin ist es mit zu danken, dass Berlin in den zwanziger Jahren zu einem international führenden Architekturzentrum geworden war.

Bruno Taut: Wohnstadt Carl Legien, Prenzlauer Berg, 1930/31, Wohnhof
In diesem Zeitabschnitt wurden durch die Tätigkeit von Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe, Bruno und Max Taut, Martin Wagner, Hugo Häring, Hans Scharoun sowie Peter Behrens, Hans Poelzig, Erich Mendelsohn, Ludwig Hilberseimer, Erwin Gutkind, Paul Emmerich u. a. in Berlin hervorragende Leistungen in Städtebau und Architektur erreicht, die zur internationalen Architekturdebatte beitrugen.
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Neue Bauordnung und ein Generalsiedlungsplan

Nach dem Muster der preußischen Einheitsbauordnung von 1919 entstand die Bauordnung Berlins. Sie trat am 1. Dezember 1925 in Kraft. Auf dieser Grundlage wurde der Bauzonenplan für das gesamte Stadtgebiet Berlins ausgearbeitet. Mit der Bauordnung und dem Bauzonenplan, die für den weiteren Wohnungsbau große Bedeutung hatten, konnte das Entstehen weiterer Mietskasernen gestoppt werden. Ausdruck dafür war das Verbot der Errichtung von Hinterhäusern und Seitenflügeln.


Bruno Taut: Carmen-Sylva( heute Erich-Weinert-) Straße mit Ladenzone, 1930/31
Die neuen Wohngebiete mussten von denen der Industrie getrennt werden. Auch die Vorschriften über Gestaltung und Ausstattung der Wohnungen trugen wesentlich dazu bei, das allgemeine Niveau des Wohnungsbaues zu heben. Doch fanden diese Prinzipien in den Altbaugebieten keine Anwendung.
     Die Neuordnung der Gesetzgebung schuf neue Wege in der städtebaulichen Planung. Dazu gehörten die erstmalige Aufstellung von Flächenverteilungs, Bauzonen und Grünflächenplänen, die bewirkten, dass die neuen Baugebiete besser genutzt und die Freiflächen erhalten blieben.
Als reine Wohngebiete wurden 12300 ha, als reine Industriegebiete 4000 ha, als gemischte Gebiete, in denen sowohl Wohnals auch Gewerbe- und Industrieansiedlungen erlaubt waren, wurden 11400 ha und als geschützte Gebiete 25300 ha ausgewiesen. Im Jahre 1925 befanden sich 68 Prozent aller Gebäude in den Außenbezirken und nur 32 Prozent in den Bezirken. Von den reinen Wohngebäuden waren 70,2 Prozent, bei Wohngebäuden mit Mischnutzung 66,2 Prozent und Gebäude mit anderer Zweckbestimmung 49,2 Prozent standortmäßig in den neuen äußeren Verwaltungsbezirken angesiedelt.
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Der Bauzonenplan wurde von einem Plan ergänzt, der die zulässige Bebauung auswies. Das Gebiet der Bauklasse 1 und 11 (bis zwei Vollgeschosse in offener und geschlossener Bauweise) nahm dabei mit 36500 ha den überwiegenden Teil des Baulandes ein. Da die neue Bauordnung nur für die bis dahin unbebauten Flächen bzw. Grundstücke galt, brachte sie keine Auflockerung insbesondere des Stadtzentrums und des Gebietes innerhalb der Ringbahn.
     Der 1929 vom Stadtplanungsamt fertig gestellte Freiflächenplan war Bestandteil des beabsichtigten Generalsiedlungsplanes. Er sah eine 31500 ha große Freifläche vor, die mit 20000 ha im städtischen Besitz war, davon allerdings 4000 ha Rieselfelder. Die größten Flächen bildeten die Waldgebiete, die mit Grünzügen untereinander und mit den See und Wasserflächen verbunden waren. Auch Dauerkleingärten, Heimstättengärten, öffentliche Parkanlagen und eine Vielzahl von Spiel und Sportplätzen waren Bestandteil des Generalfreiflächenplanes. Eine 20620 ha große Fläche wies geschützte Baumbestände und »Naturschönheiten« aus. Der Freiflächenplan stellte als Mindestanforderung pro Kopf der Bevölkerung an Park, Spiel und Sportanlagen, Dauerkleingärten und Dauerwald zwischen 17 und 29 Quadratmeter, je nach Dichtigkeit und Höhe der Bebauung in den verschiedenen Bauklassen.
Der »Bevölkerungsplan der Stadtgemeinde Berlin« vom November 1928 lieferte Vorstellungen über die künftige Entwicklung der Bevölkerung im Rahmen des Generalsiedlungsplanes. Damit wurde eine Bevölkerungsentwicklung auf zehn Millionen Einwohner der Planung zu Grunde gelegt. Der Generalsiedlungsplan für die Stadtgemeinde »Berlin« - vergleichbar mit einem Generalbebauungs oder Flächennutzungsplan -, konnte bis 1933 nicht fertig gestellt werden.

Ein Regierungsviertel im Spreebogen

Für die generelle Neuordnung Berlins hatte Martin Mächler 1917 in einer Planungsstudie Vorschläge für eine schematische Masseneinteilung des Großraumes Berlin unterbreitet, die das gesamte Gebiet weit über Oranienburg, Königs Wusterhausen und Potsdam umfasste. In einem Kreis von sechs Kilometer Radius um den Berliner Rathausturm sollten alle Bauten der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Repräsentation angesiedelt werden. Ein späterer Detailentwurf Mächlers von 1919 entwickelte eine Nord-Süd- Achse, die alle Gebäude aufnehmen sollte, die Berlin als Haupt- und Weltstadt repräsentieren. Sie sollte wesentliche verkehrstechnische, strukturverbessernde und erschließende Funktionen erfüllen.

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Beispielsweise stellte sie sowohl als Straße wie auch als unterirdische Eisenbahnlinie eine Verbindung zwischen einem neuen Kreuzungsbahnhof anstelle des Lehrter Bahnhofs und einem neuen Südbahnhof anstelle des Potsdamer und Anhalter Bahnhofs dar und verband alle betroffenen Stadtteile miteinander. Schließlich brachte sie den bisher abseits liegenden Platz vor dem Reichstag und damit das ganze für den neuen Regierungssitz vorgesehene Terrain in unmittelbare Verbindung zum Stadtgebiet.
     Zur Gestaltung des neuen Regierungssitzes der Weimarer Republik reichten Städtebauer und Architekten wie Poelzig, Behrens und Häring Vorschläge ein, die auf der Großen Berliner Kunstausstellung 1927 ausgestellt wurden. Den bedeutendsten Entwurf, der an Mächlers Ideen anknüpfte, hatte Hugo Häring entwickelt. Er schlug in der Hauptachse des Reichstages, senkrecht zur Nord-Süd- Achse, die »Straße der Republik« vor, an der die Neubauten der Reichsministerien als freistehende und untereinander verbundene Zeilenbauten geschaffen werden sollten. Anstelle der Siegessäule und des Bismarckdenkmals, die auf den Großen Stern versetzt werden sollten, wurde ein großes politisches Forum mit einer Tribünenanlage auf dem Platz der Republik vorgeschlagen. Die Nord-Süd- Verbindungen sollten unterirdisch als Tunnel vom Tiergarten - nördlich der Siegesallee (heute Straße des 17. Juni) - in Richtung Lehrter Bahnhof, jedoch südlich des Spreebogens, errichtet werden.
Diese Ideen des zwanzigsten Jahrhunderts werden erst im 21. Jahrhundert mit dem Parlaments und Regierungsviertel im Spreebogen Wirklichkeit. Bauaufgaben, die Berlin als Hauptstadt der Weimarer Republik erwuchsen, wie die Erweiterung des Reichstagsgebäudes, die Neugestaltung des Platzes der Republik als zentraler Bereich der Regierungsgebäude und der Straßendurchbruch durch die Ministergärten, wurden nicht durchgeführt. Die Gestaltung eines neuen Zentrums der Republik für Politik, Wirtschaft und Kultur an einer Nord-Süd- Achse kam nicht über das Stadium von Ideen und Wettbewerbsentwürfen hinaus. Reichstag, Reichspräsident und Regierung standen der Gestaltung eines repräsentativen Forums völlig gleichgültig gegenüber. Die Ironie wollte es, dass der erste Bau der neuen Regierung die Reichsschuldenverwaltung wurde (Alte Jakobstraße).

Industrie- und Gewerbebauten

Berlin wies nach der Bildung der neuen Stadtgemeinde räumlich die stärkste Konzentration der Produktionskräfte in Deutschland auf. In der Großindustrie (Betriebe mit über 1000 Beschäftigten) arbeiteten 1925 41,7 Prozent der Erwerbstätigen. In den Jahren 1924 bis 1929 flossen insgesamt etwa 21 Mrd. Mark Anleihen, vor allem aus den USA, nach Deutschland. Mit dieser kräftigen Finanzhilfe wurde auch die ökonomische Entwicklung der Berliner Großbetriebe gefördert.

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Das ermöglichte den Konzernen, ihren technisch überalterten Produktionsapparat nach amerikanischem Vorbild zu erneuern. Damit auf das engste verbunden war eine große Bautätigkeit. Durchschnittlich wurden von 1924 bis 1928 jährlich zwischen 720 und 860 Bauten für gewerbliche und sonstige wirtschaftliche Zwecke fertig gestellt, 1929 waren es 958 Neubauten mit 3,1 Mill. m3 umbautem Raum und 1930 915 Vorhaben mit 2,9 Mill. m3 umbautem Raum. 1931 und 1932 war die Industriebautätigkeit stark rückläufig, es wurden nur noch jährlich Vorhaben mit 1,4 Mill. m3 umbautem Raum fertig gestellt.
     Bei allen inneren Schwankungen der Wirtschaft in den zwanziger Jahren, beim Wechsel der Produktionsprogramme, bei den Veränderungen im Beschäftigtenstand und anderen Bedingungen blieben die Industriestandorte fest bestehen. Die großen Fabrikviertel im neuen Stadtgebiet und in den Randgebieten wurden in dieser Zeit noch vergrößert, dichter bebaut oder räumlich durch andere Bauten ergänzt; die allgemeine Tendenz in der räumlichen Trennung von Industrie und Wohngebieten blieb. Die Elektrifizierung der S-Bahn und die Kopplung von elektrifizierter Vorortbahn und Dampfbahn in den Gebieten außerhalb des S-Bahn- Bereiches verkürzten zeitlich die Wegstrecken der Werktätigen von ihren Wohnorten zu den Arbeitsstätten. Durch die weitere Konzentration der Produktion und Zentralisation des Kapitals kam es zur Angliederung von Werken, ja selbst ganzer ehemals selbständiger Industriestandorte an die großen Monopolvereinigungen.
Das schuf eine gewisse Vereinheitlichung von Standortbedingungen, und spezielle geographische Standortfaktoren verloren ihre Bedeutung. Das wurde besonders sichtbar in der Entwicklung der Berliner Elektroindustrie. Im Rahmen der territorialen Produktionsspezialisierung in Deutschland kam dabei Berlin eine besondere Rolle zu, denn rund 50 Prozent der in der deutschen Elektroindustrie beschäftigten Personen arbeiteten in Berlin, und die Reichshauptstadt war der Sitz der größten Konzerne: Siemens und AEG.
     Der Siemenskonzern entwickelte konzentriert die Siemensstadt und Gartenfeld im Bezirk Spandau. 1931/32 betrug die Nutzfläche der baulichen Anlagen des Konzerns an diesem Produktionskomplex 379000 m2. Die Anzahl der Beschäftigten erhöhte sich von 30303 im Jahre 1920 auf fast 60000 im Jahre 1929. Sein charakteristisches Bild erhielt dieser Industriestandort zwischen 1920 und 1930 durch den Bau der Hochhäuser, Stahlskelettbauten mit roter Klinkerverkleidung und der zwischen 1929 und 1932 gebauten Großwohnsiedlung (Leitung: Hans Scharoun). Die neuen Fabrikbauten des Siemenskonzerns wurden vom werkseigenen Baubüro unter Leitung von Hans Hertlein entworfen und errichtet. Das Wahrzeichen dieser nach Siemens benannten Stadt bildete der 70 m hohe Siemensturm, der als Wasserturm und zugleich als Schornstein der Heizanlagen diente.
     Der AEG-Konzern baute schwerpunktmäßig ausgedehnte Industrieanlagen in Ober und Niederschöneweide im Bezirk Treptow sowie südlich des Humboldthains im Bezirk Wedding.
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Im Industriebau blieben die bahnbrechenden Leistungen der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg Ausgangspunkt für die weitere bauliche Gestaltung. Ein Beispiel für die repräsentative und expressionistische Architektur im Industriebau schuf der Ullstein Verlag mit einem der größten Fabrikbauten der zwanziger Jahre. Ausgehend von der Forderung des größten Zeitungs und Zeitschriftenkonzerns Europas an das Vorhaben, dass der monumentale Bau als Repräsentant einer modernen industriellen und geistigen Großmacht, der Presse, ein besonderes Gepräge erhalten müsse, entstand die »IndustrieKathedrale«. Bei keinem anderen Industriebau in Berlin wurde die Forderung, dass das Bauwerk die Bedeutung erfüllt, wie beim Bau des Ullstein- Druckhauses im Bezirk Tempelhof in den Jahren 1925/26 gestellt. Das tragende Gerüst war ein Stahlbetonskelett, die Fassade wurde mit Klinkermauerwerk ausgeführt. Sie verlieh dem Gebäude die vom Konzern geforderte »Monumentalität«. So sah das Ullsteinhaus einem Rathaus ähnlicher als einem Fabrikbau. Auch beim Bau von anderen Industriebauten wurden neue Wege beschritten. Diese Richtung umriss Ludwig Mies van der Rohe 1923 in seinen Arbeitsthesen: »Helle weite Arbeitsräume, übersichtlich, ungeteilt, nur gegliedert wie der Organismus des Betriebes. Größter Effekt mit geringstem Aufwand an Mitteln. Die Materialien waren Beton, Eisen, Glas, Eisenbetonbauten sind ihrem Wesen nach Skelettbauten.« Das Verbandshaus der deutschen Buchdrucker (1925) im Bezirk Tempelhof und die KonsumGroßbäckerei (1929-1931) im Bezirk Spandau von Max Taut sind Beispiele dieses Bauens. Die umfangreiche Industriebautätigkeit, vor allem in der Zeit von 1924 bis 1930, umfasste neben der Elektroindustrie alle Industriezweige. Weitere Schwerpunkte waren die chemische Industrie und die Nahrungs und Genussmittelindustrie. Die Kraftwerke Klingenberg und West, die Hochbauten des Westhafens und des Flughafens Tempelhof sowie die Ausstellungshallen mit Funkturm zählen zu den bedeutendsten Vorhaben der zwanziger Jahre.

Bau von Wohnungen, öffentlichen Gebäuden und Anlagen

Der Wohnungsbestand erhöhte sich von 1920 bis 1933 von 1151177 auf 1 372992 Wohnungen, das bedeutete einen Zuwachs von 221815 Wohnungen. Die Anzahl der Wohnungen in den neu eingegliederten Verwaltungsbezirken erhöhte sich in dem gleichen Zeitraum um insgesamt 207 167 Wohnungen. Damit wurden 93,4 Prozent aller neugebauten Wohnungen allein in diesen neuen Stadtgebieten gebaut.

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   154   Geschichte und Geschichten Bauen in Groß-Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
Der Städte- und Wohnungsbau zwischen 1919 und 1932 war durch drei verschiedene Phasen gekennzeichnet, die zwar zeitlich ineinander übergehen, jedoch durch ihre Zielstellungen eindeutig voneinander getrennt sind:
     Der erste Abschnitt stand noch ganz unter dem Einfluss der vorkriegszeitlichen Gartenstadtideen, und er fiel mit der Nachkriegskrise zusammen. In dieser Zeit wurden nur 1800 Wohnungen jährlich fertig gestellt, insgesamt 10908 im Zeitraum 1919 bis 1924. Der bedeutendste Abschnitt, der einen fortschrittlichen Städte und Wohnungsbau hervorbrachte, war der seit 1924. Es entstanden Wohngebiete mit mehrgeschossigen Gebäuden, mit neuen Bebauungs und Grundrissstrukturen, mit besonnten und begrünten Wohnhöfen, mit einer Reihe gesellschaftlicher Einrichtungen, wie Kindergärten, Läden, Waschhäusern, Heizstationen usw., und neuen architektonischen Lösungen, wie die Hufeisensiedlung Britz, Waldsiedlung Zehlendorf, Gehag- Siedlung Prenzlauer Berg, Weiße Stadt in Reinickendorf und Siemensstadt. In dieser Zeit wurden jährlich mehr als 23000 Wohnungen fertig gestellt.
     Die letzte Phase war der Bau von Stadtrand und Erwerbslosensiedlungen als eine der Auswirkungen der sich seit 1929 ausbreitenden Weltwirtschaftskrise.
Beim Ausbau des Verkehrsnetzes wurden größere Fortschritte erzielt. Dies wurde erreicht durch die Elektrifizierung der Stadt und Ring sowie Vorortbahnen. Dadurch verdoppelte sich die Zugfolge, und durch den Einbau der selbständigen Streckenblockierung wurde die Verkehrssicherheit wesentlich erhöht. Das Netz der Hoch und Untergrundbahn wurde bis 1932 auf fünf Linien mit 80,4 Kilometern (1920 mit 48,6 Kilometer) und mit 94 Verkehrsbahnhöfen ausgebaut. Auch das strahlenförmige Netz der Straßenbahn wurde erweitert, sodass es 1932 eine Streckenlänge von 638 Kilometern mit 3143 Haltestellen gab. Auch das Straßennetz der neuen Stadtgemeinde wurde von 2303 Kilometern 1922 auf 4042 Kilometer ausgebaut. Die dringend erforderliche Umgestaltung der Verkehrsknotenpunkte Alexanderplatz, AugusteViktoriaPlatz (heute Breitscheidplatz), Potsdamer Platz, Spittel und Molkenmarkt sowie des Halleschen Tores wurden planerisch in Angriff genommen. Realisiert wurde 1929 bis 1932 nur der Alexanderplatz. Auch die Wasserstraßen wurden weiter ausgebaut, um eine Befahrung mit 600bis 1000-Tonnen- Schiffen zu ermöglichen. Nach der Fertigstellung des Westhafens galt Berlin als der zweitgrößte Binnenhafen Deutschlands. Am 8. Oktober 1923 nahm der von der Stadt angelegte Flughafen Tempelhof seinen Betrieb auf und zählte zu den besten Flughäfen der Welt.
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   155   Geschichte und Geschichten Bauen in Groß-Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
Große Veränderungen wurden auch in der Stadttechnik erreicht. Die Städtischen Wasserwerke schufen ein einheitliches Netz durch den Bau neuer großer Hauptleitungen und die Erweiterung des Rohrnetzes von 2856 Kilometern 1922 auf 3784 Kilometer 1932. Auch das Entwässerungsnetz wurde bedeutend erweitert. Nach der Bildung der neuen Stadtgemeinde begann die Stadtverwaltung, die Elektrizitäts und Gaswirtschaft zu vereinheitlichen. Die Zahl der Stromabnehmer stieg von 211317 im Jahre 1922 bis 1932 auf 1065532, die mit Eigen und Fernstrom versorgt wurden. Von 1922 bis 1932 wurden 21 766 Kilometer Kabel verlegt. Als erstes Großkraftwerk entstand Rummelsburg von 1924 bis 1926 nach Plänen von Klingenberg und Nissel. Kurz danach erfolgte der Bau des Großkraftwerkes West. Von 1924 bis 1928 entstanden 14 Umspann und fünf Gleichrichterwerke sowie 365 Netzstationen. Zur Verbesserung der Versorgung mit Gas wurden 6024 Kilometer verlegt.
     Die öffentlichen Grün und Erholungsanlagen konnten um 581 ha vergrößert werden, so vor allem durch die Neuanlage von Parks, wie den Volkspark Rehberge im Bezirk Wedding mit 126 ha und den Volkspark Jungfernheide im Bezirk Charlottenburg. Am 1. April 1933 betrugen die gesamten Grün- und Erholungsflächen 1920 ha und die Waldflächen 16931 ha. Es gab 307 Spiel- und Sportplätze, und die Spielplatzfläche je Kopf der Bevölkerung betrug 1,6 m2 (Mindestforderung 3,0 m2).
Die Sport und Spielplatzfläche stieg von 152 ha im Jahre 1921 auf 950 ha 1930. In den zwanziger Jahren hatten sich auch die Kleingartenanlagen beträchtlich erweitert. Ende 1931 gab es 100 970 Kleingärten mit einer Fläche von 4 466 ha.

Zur Hauptbautätigkeit in der Weimarer Republik

Die Schwerpunkte des Bauens in Berlin in der Zeit der Weimarer Republik lagen in den neu eingemeindeten Verwaltungsbezirken. Dies ist noch heute sichtbar durch die Bauten der Industrie und des Gewerbes, der Stadttechnik und des Verkehrs und nicht zuletzt an den Wohnbauten und öffentlichen Gebäuden.
     Die Bevölkerung der Reichshauptstadt hatte sich auf 4 242 501 Einwohner im Jahre 1933 erhöht. Die bebaute Fläche betrug 16 347 ha am 1. April 1933 mit 135 651 bebauten Grundstücken. Der Hauptzuwachs von 1920 bis 1933 an Bevölkerung mit 540 384 Einwohnern, an bebauter Fläche um 4 666 ha und mit 207 167 neu gebauten Wohnungen lag in den äußeren Verwaltungsbezirken.
     Bei der Bewertung der baulichen Entwicklung Berlins in der Zeit der Weimarer Republik bleibt festzuhalten, dass die Avantgarde des Neuen Bauens nur einen bescheidenen Anteil am Gesamtbaugeschehen hatte. Das alltägliche Baugeschehen war durchgängig von konservativ- traditionellen Auffassungen geprägt.

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Diese Erkenntnis ist wichtig, um unseren Blick für heute und morgen nicht zu verengen. Aus den Erfahrungen der zwanziger Jahre und der Nachkriegszeit sind neue städtebauliche Lösungen gefragt, Ideen dazu gibt es genug. Das Zeitgemäße und Interessante an diesem Zeitraum der Weimarer Republik ist, dass es ähnlich wie heute um das Zusammenwachsen Berlins und um die Nutzung dieser städtebaulichen Chance geht.

Literatur
     Akademie der Künste, Martin Wagner, Wohnungsbau und Weltstadt, Akademie- Katalog 146 (1985)
     Bauer, R, Hühns, E., Berlin - 800 Jahre Geschichte, Berlin: Verlag der Wissenschaften, 1980 S. 215-262
     Berlin und seine Bauten, Teil II, Stadtentwicklung Berlin, München, Verlag W. Ernst u. Sohn, 1964 S. 39-61
     Berlin und seine Bauten Teil IV, Bd. B: Wohnungsbau Berlin, München: Verlag W. Ernst u. Sohn, 1974
     Böß, G., Beiträge zur Berliner Kommunalpolitik Berlin: Neues Verlags Comptoir, 1981 S. 111-134
     Demps, L.; Materna, I. u. a., Geschichte Berlins von den Anfängen bis 1945, Berlin, Dietz, 1987, S. 565
     Geist, J. F.; Kürvers, K., Das Berliner Mietshaus Bd. 2: 1862-1945, München, Prestel, 1984 S. 391-433
     Hegemann, W., Das steinerne Berlin, Kap. 28, 29 u. 30 Berlin, Kiepenhauer, 1930 S. 409-485

     Hüter, K. H., Architektur in Berlin 1900-1933 Dresden, Verlag der Kunst, 1987 S. 84-270
     Lange, A., Berlin in der Weimarer Republik, Kap. 1, 29 u. 27 Berlin, Dietz, 1987
     Lange, F. C. A., Groß- Berliner Tagebuch 1920-1933 Berlin, Bonn, WestkreuzVerlag 1982
     Peters, G., Grundzüge der baugeschichtlichen Entwicklung Berlins, Teil Ill o. 0., 1985, S. 114-144
     Peters, G.: Zur Baugeschichte Berlins 1. u. 2. Auflage Berlin, Berliner Verlag, 1986 u. 1987, S. 107-113
     Peters, G.: Berlin im 20. Jahrhundert, In: Architektur der DDR (1987), 7., S. 44-46
     Peters, G.: Kleine Berliner Baugeschichte, StappVerlag 1995, S. 149-166

Bildquelle: Akademie der Künste,
Archiv Baukunst,
Nachlaß Arthur Köster

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2000
www.berlinische-monatsschrift.de