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Bernhard Meyer
Oskar Vogt seziert das Gehirn Lenins

Ein Kapitel deutscher Außenpolitik in der Weimarer Republik

Vom letzten Tag des Jahres 1924 datiert ein Brief an den deutschen Hirnforscher Oskar Vogt (1870-1959, BM 8/98), Lenins Gehirn cytoarchitektonisch in Moskau zu untersuchen. Absender war der russische Neuropathologe Lazar Solomonowitsch Minor (1855-1942), der diesen Wunsch im Auftrag der Regierung der Sowjetunion an seinen Berliner Kollegen übermittelte. In dem noch unentschiedenen Gerangel um die Nachfolge Wladimir Iljitsch Lenins (1870-1924) waren sich die damaligen Führer der Kommunistischen Partei der Sowjetunion zumindest darin einig, die Unsterblichkeit Lenins zu veranlassen, indem eine Konservierung und die Errichtung eines Mausoleums angestrebt wurden. Bestandteil dieser Absichten war eine umfassende Gehirnanalyse.

Im Interesse künftiger Beziehungen

Man berief in Moskau eine Kommission für die Koordinierung der anatomischen Untersuchungen des am 21. Januar 1924 verstorbenen Staatsgründers.

Nestor der Kommission war Minor, der durch Vorträge und Publikationen die Aufmerksamkeit seiner deutschen Fachkollegen erregte. Er kannte Vogt persönlich spätestens seit 1923, als beide zusammen mit Wladimir Michailowitsch Bechterew (1857-1927) an einem wissenschaftlichen Kongress in der Sowjetunion teilgenommen hatten. Vogt wurde von dem Angebot nicht überrascht und sagte zu, zumal er sich der wohlwollenden Unterstützung der deutschen Regierung sicher sein konnte.
     Der deutsche Botschafter in Moskau, Graf Ulrich von Brockdorff- Rantzau (1869-1928), hatte dem Auswärtigen Amt die Absichten der Sowjetregierung signalisiert und warb für eine Zustimmung im Interesse künftiger weitergefasster gegenseitiger Beziehungen. Der Botschafter erläuterte dem Präsidenten der Kaiser-Wilhelm- Gesellschaft, Adolf von Harnack (1851-1930), sowie Beamten mehrerer Reichsministerien im Mai 1925, »dass eine Förderung der russischen Pläne im politischen Interesse läge, und dass er es daher sehr begrüßen würde, wenn Herr Professor Vogt ... die Leitung des Hirnforschungsinstituts in Moskau übernehme. ... Prof. Vogt verfüge über die besten Beziehungen zu hervorragenden russischen Gelehrten, die deutsch- freundlich seien, und auch die maßgeblichen Persönlichkeiten der russischen Regierung brächten den vorgebrachten Plänen das größte Interesse entgegen. Man müsse alles tun, um eine Verbindung von deutschen Gelehrten und russischen Gelehrten, deutscher Wissenschaft und russischer Wissenschaft zu fördern,
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da von Seiten Frankreichs außerordentliche Anstrengungen unternommen würden, um seine Positionen auf kulturellem Gebiet in Russland wiederzugewinnen. Er hoffe daher, dass von Seiten des Reiches Mittel aufgebracht werden könnten, die es Herrn Prof. Vogt ermöglichten, seine Mitarbeit in Russland zur Verfügung zu stellen.« (J. Richter: Oskar Vogt - sein Vermächtnis ... Berlin 1976. S. 136/137)
     In gleicher Weise äußerte sich der einstige Nachfolger von Friedrich Althoff (1839-1908) und nunmehrige Präsident der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, Friedrich Schmidt-Ott (1860-1956), hinsichtlich der für 1927 geplanten Naturforscherwoche in Berlin, da sie für die Anknüpfung »wirtschaftlicher Beziehungen auf dem Wege über die wissenschaftlichen« von Wichtigkeit seien. Diese Auffassungen fügten sich in die Politik der beiden Länder ein, die am 16. April 1922 mit den von den Außenministern Walther Rathenau (1867-1922) und Georgi Wassilewitsch Tschitscherin (1872-1936) unterzeichneten Verträgen von Rapallo zum beiderseitigen Vorteil (Herstellung diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen, Verzicht auf Reparationen) begonnen wurde und die es auszugestalten galt. Die wissenschaftliche Zusammenarbeit der jungen Sowjetmacht mit Deutschland erfolgte daher auch mit dem Ziel, aus der internationalen diplomatischen Isolierung herauszukommen.
Schon frühzeitig gehörte der sozialdemokratisch orientierte Vogt 1923 zu den Gründungsmitgliedern der »Gesellschaft der Freunde des Neuen Russland«, einer von der KPD angeregten Organisation. Im September 1925 gehörte Vogt einer hochrangigen, von Max Planck (1858-1947) geleiteten, deutschen Gelehrtendelegation zur 200-Jahr- Feier der Russischen Akademie der Wissenschaften in Leningrad an, an deren Rand weitere Einzelheiten der Gehirnsektion Lenins besprochen wurden.
     Bestandteil all dieser Vorhaben zur Durchlöcherung des von der Mehrzahl der deutschen Intellektuellen als ungerecht empfundenen Versailler Friedens waren die vielfältigen Beziehungen der Mediziner aus beiden Ländern. Verwiesen sei nur auf die seit 1925 (bis 1928) erschienene »Deutsch- russische medizinische Zeitschrift«, die vom Ordinarius der II. Inneren Klinik der Charité, Friedrich Kraus (1858-1936), und dem Volkskommissar für Gesundheitswesen der Sowjetunion, N. A. Semaschko (1874-1949), in deutscher und russischer Sprache herausgegeben wurde. Unter den vielen auswärtigen Assistenten und Gasthörern beim Chef der Charité- Chirurgie August Bier (1861-1949) befanden sich eine Reihe jener Chirurgen, die im Zweiten Weltkrieg höchste militär- medizinische Ränge in der Roten Armee einnahmen.
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Spekulationen und unterschiedliche Aussagen

Lenin erkrankte Ende 1921 ernsthaft und verstarb nach über zwei Jahren an den Folgen hirnarteriosklerotischer Veränderungen. Über die diesen Prozess auslösende bzw. begleitende Krankheiten gibt es nach wie vor Spekulationen und seitens beteiligter Ärzte unterschiedliche Aussagen. Zu den neurologischen Funktionsstörungen, die mit der Zerstörung großer Teile der linken Großhirnhemisphäre verbunden waren, wurden zahlreiche Spezialisten herangezogen. Unter den 25 namhaften internationalen Ärzten befanden sich sieben deutsche Mediziner: Otfried Förster (1873-1941), Georg Klemperer (1865-1947), Borchardt Moritz (1868-1948), Max Nonne (1861-1959), Oskar Minkowski (1858-1931), Oswald Bumke (1857-1950), Adolf Strümpell (1853-1925), deren Spezialgebiete vor allem Neurologie und Neurochirurgie waren.
     Als Lenin am 22. Mai 1922 eine akute Durchblutungsstörung im Gehirn (zerebraler Insult) erlitt, riefen die Moskauer Führer auf Empfehlung der Mediziner im Juni den Breslauer Neurochirurgen Otfried Förster an das Krankenbett Lenins. Förster, der das Vertrauen seines Patienten erwarb und von diesem freundschaftlich verehrt wurde, blieb fast ununterbrochen eineinhalb Jahre, also bis kurz vor dem Ableben Lenins, am Krankenlager in Moskau und später in Gorki.

Die Anrufung Oskar Vogts kam also weder für ihn noch für die deutsche Medizin aus heiterem Himmel. Der am 6. April 1870 in Husum geborene Vogt zählte zu den international führenden Hirnforschern. Nach seinem Medizinstudium ab 1890 in Jena, wo Ernst Haeckel (1834-1919) zu seinen Lehrern gehörte, begab er sich in die Schweiz und nach Paris, wo ihn anerkannte Ärzte wie Auguste Forel (1848-1931) und Pierre Marie entscheidend für die morphologisch orientierte Hirnforschung vorbereiteten.
     1898 ließ er sich in Berlin nieder und gründete eine neurobiologische Zentralstation in einem Mietshaus in der Magdeburger Straße 16 und betrieb darüber hinaus eine Privatpraxis. Bereits vier Jahre später wurde seine Gründung in die Universität übernommen und erhielt 1915 den Status »Kaiser-Wilhelm- Institut für Hirnforschung«. In diesem Umfeld entwickelte sich Vogt zum »anerkannten Begründer der wissenschaftlichen Lehre von der architektonischen Gliederung der Großhirnrinde« (J. Richter, S. 136; Architektonik: Anordnung, Zahl und Form der erkennbaren Strukturelemente im Zentralnervensystem - ZNS). Ständig angeregt und wissenschaftlich unterstützt wurde er von seiner französischen Frau Cécile (1875-1962, BM 8/98), geborene Mugnier, die sich an seiner Seite und doch selbständig ebenfalls auf dem Gebiet der Hirnforschung einen beachtlichen Ruf erwarb.
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Vogt galt als ein interdisziplinär arbeitender und denkender Mediziner, der sich in der Hirnanatomie und -pathologie, der Psychologie, Neurologie und Psychiatrie sowie der Biologie bestens auskannte.
     Oskar Vogts Zusage für die Hirnuntersuchung Lenins fiel etwa mit seiner Ernennung zum Auswärtigen Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR 1925 zusammen. Aber er stellte für seine Arbeit eine Bedingung: In der Sowjetunion ist ein Institut für Hirnforschung zu gründen, und dafür sind qualifizierte Mitarbeiter auszubilden. Diesem Wunsch wurde entsprochen, und in Moskau entstand eine 1926 eingeweihte und 1928 offiziell mit Dekret bestätigte wissenschaftliche Einrichtung nach Maßgaben von Vogt. Bis 1930 übte er die Funktion eines Direktors aus, die dann von S. A. Sarkissov, einem der inzwischen herangebildeten Nachwuchswissenschaftler, eingenommen wurde.
     In den Augen von Vogt erschien Lenins Gehirn als das »seltene Wunderwerk der Natur«, das vom Vergehen bewahrt werden muß. Er wollte die Präparation so vornehmen lassen, dass eine medizinisch- wissenschaftliche Analyse auf Dauer möglich sein könnte.
Unter der Anleitung von Vogt fertigte eine Berliner Assistentin in Moskau von Mitte 1925 bis Mitte 1927 mit größter Sorgfalt und Umsicht eine lückenlose Hirnschnittserie Lenins an, die ca. 30000 in Paraffin gefaßte Schnitte umfasste.
     Es entstanden Mikrofotografien des Gehirns eines bedeutenden Staatsmannes in einem bisher nicht dagewesenen Umfang. Histologische Untersuchungen durch Vogt schlossen sich an. Seiner Theorie zufolge sollte die Begabung oder Nichtbegabung von Menschen aus der architektonischen Beschaffenheit des Gehirns ableitbar sein. Das Seelenleben, so meinte Vogt, spiegele sich in der individuellen Rindenarchitektonik wider.
     Zu Schlussfolgerungen über die Beschaffenheit des Leninschen Gehirns, fußend auf seiner profunden medizinischen Grundlagenforschung, äußerte sich Vogt öffentlich nur einmal am 10. November 1929 in Moskau. Er folgerte aus der außergewöhnlichen Größe des Gehirns und des massenhaften Vorkommens von Pyramidenzellen auf die bei Lenin vorhanden gewesene hohe Assoziationsfähigkeit. Er bezeichnete Lenin als einen »Assoziationsathleten«.
     Das entsprach der zeitgenössischen Lehrmeinung. Dennoch stießen diese Schlussfolgerungen sofort auf Widerspruch - auch bei Sarkissov, der zu den in Berlin vorbereiteten Kadern für das Moskauer Institut gehörte.
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Es bestätigen sich die damaligen Einwände auch aus heutiger Sicht, nach der die Schlüsse von Vogt hinsichtlich der Ursachen für die Assoziationsfähigkeit überzogen waren. Es gibt keine Möglichkeiten, aus anatomischen Befunden heraus psychische Leistungen zu erklären. Ungeklärt ist, ob Vogt sich der allgemeinen Lehrmeinung unkritisch anschloss, oder ob er den hochgesteckten russischen Erwartungen voreilig entsprechen wollte. Vogt reagierte jedenfalls nicht öffentlich, und er legte auch keine weiteren bekannt gewordenen Berichte zu dieser Frage vor.
     Nach 1930 beschäftigte sich Vogt offensichtlich nicht mehr mit weiteren Analysen des Leninschen Gehirns. Seine verstärkte Anwesenheit in Berlin war schon deshalb erforderlich, weil endlich ein Institutsneubau im Rahmen der Kaiser-Wilhelm- Gesellschaft anstand. Die Einweihung erfolgte am 2. Juli 1931 unter Anwesenheit des Präsidenten der Gesellschaft, Max Planck, in Berlin- Buch. Eine Rechnung für sein Engagement in der Sowjetunion legte ihm die faschistische Führung 1936 vor, als er die politisch motivierte vorzeitige Entlassung aus seinem Amt zur Kenntnis nehmen musste.
In Neustadt im Schwarzwald gelang ihm der Neuaufbau eines Instituts für Hirnforschung, in dem er von 1937 bis zu seinem Tode erfolgreich gearbeitet hat.
     Am Ende seiner langjährigen wissenschaftlichen Arbeit konnte er auf acht Ehrenpromotionen und die 1932 vollzogene Aufnahme als Mitglied in der Deutschen Akademie der Naturforscher (Leopoldina) zurückblicken. 1922 war er einer der Kandidaten für den Nobelpreis für Medizin. Oskar Vogt starb am 31. Juli 1959 in Freiburg im Breisgau.
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2000
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