83   Geschichte und Geschichten Berlin vor 100 Jahren  Nächstes Blatt
Horst Wagner
Berlin vor 100 Jahren
Kaisertreffen und Straßenbahnerstreik

Zwei Ereignisse vor allem bestimmten im Mai 1900 die Schlagzeilen der Berliner Zeitungen; das eine mehr höfischer, das andere eher verkehrsmäßiger Natur. »In festlichem Schmuck prangen die Straßen der Stadt, in freudiger Stimmung harrt die Bürgerschaft des erlauchten Gastes«, jubelte die »Vossische Zeitung« am Freitagmorgen, dem 4. Mai, anläßlich des Besuches des österreichischen Kaisers Franz Joseph I. in Berlin. Den Schulkindern war auf allerhöchsten Erlaß für diesen Tag freigegeben worden. Die Berliner Rettungsgesellschaft in der Mauerstraße 23 hatte aus diesem Anlaß zusätzlich Krankentransportwagen bereitgestellt, »um bei etwaigen größeren Unglücksfällen, die in der Nähe der Einzugstraße sich ereignen sollten, sofortige Hilfe zu leisten«. Der hohe Gast aus Wien traf um 8.00 Uhr in Frankfurt/Oder und pünktlich 10.00 Uhr auf dem Potsdamer Bahnhof in Berlin ein, wo er von seinem deutschen Amtskollegen, Kaiser Wilhelm II., willkommen geheißen wurde. »Die Monarchen wechselten«, wie der Reporter der »Vossischen« zu berichten wußte, »wiederholt Kuß und Händedruck«.

Auf dem tribünengesäumten Pariser Platz wurden dann beide Herrscher von den Magistratsmitgliedern, den Stadtverordneten, »Berliner Finanzgrößen« und anderen geladenen Gästen begrüßt. Zu Ehren Franz Josephs hatte Wilhelm II. gegenüber dem Brandenburger Tor einen dreitürmigen Triumphbogen errichten lassen. Durch diesen ging es über die »durch Banner, Wimpel, gelbe Masten, grüne Tannenzweiggewinde, bunte Wappenschilder« geschmückten, Ehrenbataillongesäumten Linden zum verspäteten Frühstück ins Schloß.
     Ausführlich berichteten die Zeitungen auch in den nächsten Tagen über Höhepunkte dieses Kaisertreffens: Die abendliche Illumination, bei der, so das »Berliner Tageblatt«, eine »vieltausendköpfige Menschenmasse die Linden durchflutete«, sich »zu einer lebenden Mauer« vereinigte, »die nur schrittweise vorwärts kommen konnte« zum Pariser Platz, wo »sieben Scheinwerfer von den Wachgebäuden und dem gegenüberliegenden Torflügel eine Flut weißen Lichts herabwarfen«. Der große Zapfenstreich, zu dessen Beginn »ein Admiral im Galopp aus dem Schloßthor nach dem Denkmal Friedrich des Großen ritt, wo die Tete des Musikkorps stand«. Längere Berichte natürlich auch vom Ausflug der Majestäten zu einer Truppenübung bei Jüterbog am 5. und von der Verabschiedung des österreichischen Kaisers am Abend des 6. Mai, zu der, wie die »Vossische« schrieb,
BlattanfangNächstes Blatt

   84   Geschichte und Geschichten Berlin vor 100 Jahren  Voriges BlattNächstes Blatt
das Gebäude des Potsdamer Bahnhofes »mit Gassternen prächtig erleuchtet« war, »als die beiden Kaiser kurz vor 10 Uhr in offener, mit herrlichen Rappen bespannter Kalesche vorfuhren, im Glanze rothen und grünen bengalischen Lichtes«.
     Das andere die Berliner bewegende beziehungsweise ihre Bewegung einschränkende Ereignis war der »Generalstreik der Angestellten der Großen Berliner Straßenbahn«, der am Sonnabend, dem 19. Mai, um halb vier Uhr früh »durch zwei von über 6000 Personen besuchten Nachtversammlungen einstimmig beschlossen worden« war. »So wäre denn mit dem heutigen Tage die pferdebahnlose, die schreckliche Zeit für die Reichshauptstadt hereingebrochen«, begann das »Berliner Tageblatt« noch in der Sonnabend- Morgenausgabe seinen besorgten Bericht, beruhigte dann aber, daß »trotz der Ausstandszeit ... einige Linien von West nach Ost und von Südwest nach Nordost, wenn auch in beschränktem Maße, in Betrieb« seien. Anlaß für den Streik war u.a. die Forderung der Straßenbahner nach einem zehn(statt zwölf-) stündigen Arbeitstag und Gehältern zwischen 100 und 150 Mark. Die Straßenbahngesellschaft setzte neueingestellte, also nicht ausgebildete Kräfte sowie Angestellte aus der Verwaltung als Streikbrecher ein. »Daß mit diesem Personal nicht alles klappte«, so das »Tageblatt« am Sonnabend- Abend, »bedarf keiner Erklärung«. So kam es in der Invalidenstraße zum Zusammenstoß zweier Pferdebahnwagen, bei dem die hintere Plattform des einen zertrümmert wurde.
In der Köpenicker Straße rammte ein Fahrneuling einen Müllwagen. Zwischen Dönhoffplatz und Spittelmarkt wurden einem Straßenbahnkutscher von zornigen jungen Burschen die Pferde ausgespannt und in der Kronenstraße hoben die »Tumultanten« sogar »einen elektrischen Wagen aus den Schienen, so daß er, beide Gleise sperrend, quer über die Schienen zu stehen kam«. Am Montagabend schließlich kam es durch Vermittlung des Oberbürgermeisters zu einem streikbeendenden Kompromiß zwischen Straßenbahngesellschaft und Ausständischen.
     Was sonst noch geschah in diesem Mai 1900? Gleich zu Beginn berichtete die »Vossische Zeitung«, daß es in Potsdam am 1. Mai zu einem »allgemeinen Ausstand der Bauarbeiter« gekommen war. Grund: »Der dortige Arbeitgeberverband hatte den Arbeitern in voriger Woche mitgeteilt, daß alle diejenigen, die am 1. Mai der Arbeit fernblieben, nicht am 2. Mai sondern erst am Montag, 7.Mai wieder in Arbeit genommen werden würden … Die Ausständischen wollten die Arbeit erst dann wieder aufnehmen, wenn ihnen eine Lohnerhöhung als Entschädigung für den entgangenen Arbeitsverdienst zu theil wird.« Am 3. Mai beschäftigte sich die Stadtverordnetenversammlung u.a. mit einem Antrag des Magistrats zur »Verschönerung des Friedhofes der Märzgefallenen«. Dabei wurde vom Stadtverordneten Rosenow gerügt, daß der Magistrat »von der Aufstellung einer Tafel mit den Namen der auf dem Friedhof Beerdigten Abstand nehmen wolle«.
BlattanfangNächstes Blatt

   85   Geschichte und Geschichten Berlin vor 100 Jahren  Voriges BlattNächstes Blatt
Am 8. Mai fand in der Neuen Philharmonie in der Köpenicker Straße der 29. Verbandstag der Brandenburgischen Barbier-, Friseur- und Perückenmacherinnungen statt, auf dem Obermeister Wollschläger bekannt gab, daß dem Verband 45 Innungen mit 2470 Mitgliedern, 1789 Gehilfen und 1182 Lehrlingen angehören. 6311 Gehilfen seien mit Unterstützung des Verbands- Nachweisbüros Beschäftigungen nachgewiesen worden. Ausführlich befasste sich der Verbandstag auch mit Fragen der Sonn- und Feiertagsarbeit sowie mit den »Preisverhältnissen in den Barbier- und Friseurgeschäften, welche vielfach noch nicht den erhöhten Anforderungen an den Komfort entsprechen«.
     Am 14. Mai informierte das »Berliner Tageblatt« darüber, daß sich die Berliner Einwohner »anderthalb Millionen Gasflammen leisten«. Der Trend ginge immer mehr zum Gas, »besonders seitdem das Petroleum und die Kohle sich vertheuerten.« Der Mittelstand begnüge »sich meistens mit seinen zwei bis drei Kochgasflammen und der einflammigen Wohnzimmerlampe, während die anderen Flammen höchst ökonomisch nur an hohen Festtagen entzündet werden.« In der Industrie gäbe es inzwischen 1225 Gasmotoren mit insgesamt 7128 PS. Die Zahl der Gaslaternen- Flammen auf den Straßen betrage 27000. Auf die dem Gas erwachsende Konkurrenz hinweisend,

Berliner Tageblatt, 6. Mai 1900

berichtete das Blatt weiter, daß schon »26000 Glühlampen, 11000 Bogenlampen, 561 Apparate und 3500 Motore Strom von den großen elektrischen Werken« beziehen, »die in Berlin in den letzten Jahrzehnten aufgeblüht sind«.

BlattanfangNächstes Blatt

   86   Geschichte und Geschichten Berlin vor 100 Jahren  Voriges BlattArtikelanfang
Die »Negerkarawane« im Flora-Garten

Am 18. Mai konnte man im »Tageblatt« von der Eröffnung der Sommersaison im Charlottenburger Flora- Garten lesen. Außer dem vom Charlottenburger Sinfonieorchester ausgeführten Konzert »bietet die Direktion ihren Gästen jetzt noch etwas Besonderes: die Schaustellung einer Schilluk- Negerkarawane«. Die sechs Männer und sechs Frauen aus diesem im Südsudan ansässigen Stamm, »in Felle von Luchsen und wilden Katzen gekleidet, führen, von drei Stammesgenossen auf der Trommel, dem Gong und der afrikanischen Guitarre begleitet, einen phlegmatischen Kontretanz auf«. Am 22. Mai schließlich berichtete das »Tageblatt« von der »neuesten Spandauer Skandal- Affäre«. Der wegen »sträflichen Umgangs mit den jungen Verkäuferinnen im Geschäft seines Schwagers« gesuchte »28jährige, schon zum zweiten Male verheirathete Kaufmann Benno Savade«, der »unter Mißbrauch seiner Autorität und unter Anwendung von Gewalt« die jungen Mädchen in den Keller gelockt und dort »verführt« habe, sei verhaftet worden, als er mit dem Zug abreisen wollte. »Er wurde sogleich gefesselt nach Moabit transportiert.«

Ehrenbürgerbrief für Stadtverordnetenvorsteher

Nicht unerwähnt darf bleiben, daß am 25. Mai 1900 dem Stadtverordnetenvorsteher Dr. med. Paul Langerhans (1820-1909), anläßlich seines 80. Geburtstages durch den im Dezember 1899 in sein Amt eingeführten Oberbürgermeister Kirschner (1842-1912), der Ehrenbürgerbrief überreicht wurde. In diesem wurden vor allem die Verdienste gewürdigt, die sich Dr. Langerhans in 36jährigem unbesoldeten Ehrendienst in der Gemeindeverwaltung, davon seit nahezu seit 25 Jahren in der Stadtverordnetenversammlung und seit sieben Jahren ununterbrochen als deren Vorsitzender erworben habe. Zu den Gratulanten in der Wohnung des Jubilars gehörte auch eine Deputation des Vereins Berliner Künstler unter Leitung des Historienmalers Anton von Werner (1843-1915).

BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 5/2000
www.berlinische-monatsschrift.de