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Charles Huard
Berlin, wie ich es sah. Reisebilder von der Jahrhundertwende

Verlag Karl-Robert Schütze, Berlin 1999, 200 Seiten.

Es gibt viele gute Gründe, dieses Büchlein zu empfehlen: Erstens ist es ein kurzweilig zu lesendes und dabei zur Suche nach Spuren der Vergangenheit anregendes Buch, befördert durch die liebevoll gezeichneten Details von Gebäuden, Denkmalen, Straßenszenen usw. Natürlich hat der Leser dabei in Kauf zu nehmen, daß Huard seinen französischen Adressaten im Auge hatte, dem er beruhigt nach Hause berichtete, daß die Zeugnisse Berliner Kunst und Architektur, wenn sie denn nicht französischen Ursprungs sind, den Besucher nicht gerade euphorisch stimmen. Mit einer Ausnahme von Potsdam und Sanssouci, wo er geradezu schwärmerisch feststellte, daß hier »Französische Kunst und Geschmack triumphieren« würden. Damit klingt schon an, was einen weiteren Reiz dieses Berlinführers um die Jahrhundertwende ausmacht: Er ist von einem Franzosen für Franzosen nach dem Krieg von 1870/71 und dem Verlust von Elsaß- Lothringen geschrieben, d. h., der Weltenbummler Huard ist natürlich mit flotter Feder dabei, nicht nur Treffendes, sondern auch manches Vorurteil über die Deutschen im allgemeinen und die Berliner im besonderen an den »Tatsachen« bestätigt zu sehen. Auf Zeugnisse des preußischen Militarismus traf er bei seinen Sparziergängen auf Schritt und Tritt. Der Bogen seiner Beobachtungen reicht dabei von Kindern, die sich ohne Lärm tummeln, weil der Schutzmann nicht weit sei bis hin zu der uns nicht fremden Erscheinung: »In keinem anderen Land wird den Schildern mit Aufschriften wie: Rechts gehen, Links gehen, Eingang, Ausgang«

eine derartige Bedeutung beigemessen, die Deutschen seien so diszipliniert, daß sie bei Vorhandensein von zwei Türen sich ausschließlich durch die drängeln, auf der Eingang steht. Schließlich seien die Behörden, Fabriken und Handelshäuser wie Regimenter organisiert. Viel mehr davon in seinem Tiergartenartikel.
     Drittens piekt der geübte und zu dieser Zeit bereits in Frankreich namhafte Karikaturist mit spitzen Strichen weitere spezifische Merkmale der Deutschen auf: Diese schmücken sich stolz mit jedem noch so unbedeutenden Titel und stellen ihn ihrem Namen voran. Noch komischer ist, daß selbst die Frauen sich mit den Graden, Titeln und Funktionen ihrer Ehemänner schmücken. Und über die Männer heißt es: Sie »sind in der Regel von hohem Wuchs, breitschultrig, haben riesige Hände, Füße und Bierbäuche und tragen Anzüge, die ihnen die Form von grobgehauenen Holzklötzen verleihen«. Doch noch mehr schockierte den echten Franzosen die Vulgarität und Stillosigkeit der vollkommen reizlosen deutschen Frauen. Besonders schlecht kommt die Berliner Ehe- und Hausfrau bei ihm weg, die er mit Heine so charakterisiert: »Der deutsche Mann hat keine Ehefrau, sondern eine Haushälterin, und er führt im Kreise seiner Familie sein Junggesellendasein fort.« Die Berlinerinnen strahlen für Huard keinerlei Charme aus. »Sie verheißen eine einfache Liebe, vorgewärmte Pantoffeln. Eingemachtes, mehrfache Mutterschaft und andere häusliche Freuden« und »Ist es nicht bezeichnend, daß in allen Kaufhäusern die Delikatessenabteilung - hauptsächlich die für Wurstwaren - größer und stärker besucht ist als die für Wäsche?« Bei seinen Streifzügen durch die Berliner Bierlokale stieß er auf die seiner Ansicht nach liebste allabendliche Beschäftigung der Berliner: trinken, essen, rauchen und verdauen. Die nicht ganz so vermögenden Berliner, die Kleinbürger, Angestellten und Arbeiter, traf Charles Huard in Kneipen des alten Berlin, wie der »Zum Nussbaum«.
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In Gaststätten dieser Art traf er auf eine gewisse Art Auserwählter unter den Gästen: die Spiessbürger, denen ein sorgsam bewachter Tisch - der Stammtisch - reserviert wird, dessen Plätze erst mit dem Tod eines Inhabers durch besondere Auswahl seitens der Überlebenden neu besetzt wird. Kein Wunder, daß Huard bei solchen Beobachtungen vom »unersättlichen Appetit der Deutschen«, die er dauernd essend antraf, die nur essen würden um sich »die Bäuche zu füllen und selig zu verdauen«, schockiert war. Der sich als Feinschmecker betrachtende Franzose beklagte resignierend, daß es in Berlin solche wie ihn nicht geben würde.
     Und schließlich reihte sich Huard in den Chor derjenigen ein, die in Berlin eine riesige und bis zum Exzeß blühende Stadt sahen, die, einem gierigen Ungeheuer gleich, immer mehr Landschaften und Dörfer verschlucken würde und die zugleich vom alten Berlin nichts Bedeutsames mehr übriglasse. Vieles von dem Verlorengegangenen hat er uns mit seinen Skizzen erhalten. Und doch ist Huards Buch eine Liebeserklärung an Berlin, wenngleich diese Liebe nicht immer ins Auge springt und das Positive mit Blick auf die Landsleute natürlich gleich relativiert werden muß. So auch, wenn er resumierend anerkennt, daß die Deutschen mit ihren Eigenschaften wie Scharfblick, Fortschrittsdenken und Disziplin dazu beigetragen hätten, Deutschland zur führenden Industrie- und Handelsmacht zu machen. Die Erklärung dafür lag für Huard natürlich auf der Hand: da den Deutschen mangelnder Erfindungsgeist kennzeichnen würde, müßten sie deshalb Ideen und Patente von woanders herholen. Woher? Natürlich aus Frankreich!
     Hans-Jürgen Mende
Claudia Wilke
Die Landräte der Kreise Teltow und Niederbarnim im Kaiserreich.

Verlag für Berlin- Brandenburg. Potsdam 1998, 306 Seiten.

In vielen Ortsteilen - allerdings ausschließlich solchen, die vor 1920 nicht zu Berlin gehörten - der Bundeshauptstadt tragen Straßen und Plätze Namen von Landräten von Niederbarnim bzw. Teltow aus der Kaiserzeit: Achenbach, Busch, Handjery, Scharnweber, Stubenrauch, Treskow, Waldow und Graf Roedern. Sie wirkten in der Zeit, wo Berlin zur Metropole von Weltrang mutierte - auf Kosten und dank seines Umlandes. In der auch zu dieser Zeit ambivalenten Beziehung der Stadt Berlin zu ihrem Umland, die schließlich 1920 mit der Eingemeindung von sieben Stadtgemeinden, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirken eine wichtige Entwicklungsstufe erreichte, kam den Landräten dieser beiden Landkreise Teltow (Berlin südlich) und Niederbarnim (Berlin nördlich umschließend) eine große Bedeutung zu. Sie hatten erheblichen Einfluß sowohl auf die Beförderung der sich herausbildenden vielfältigen gemeinsamen Interessen zwischen Berlin und dem Umland als auch auf die Behinderung der Entwicklung der Großgemeinde Berlin und der Sicherung der territorialen Einheit des Kreises. Die Literatur über diesen Zeitraum ist zwar vielfältig, gleichwohl fehlte bisher eine leicht zugängliche, auf neuesten Forschungsergebnissen beruhende Darstellung des Lebens und Wirkens der Landräte des Berliner Umlandes.

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Dieser Aufgabe - bezogen auf die Kaiserzeit -, verbunden mit der Darstellung des Funktionswandels des Amtes und seiner Träger andererseits, hat sich Claudia Wilke in ihrer Promotionsschrift gestellt, die nun, erfreulicherweise, vorliegt.
     Der interessierte Leser erfährt eine Fülle von Informationen über die Teltower Landräte Prinz Nicolaus Handjery, Ernst von Stubenrauch - der als »Vater des Kreises Teltow« galt und dem die Randberliner noch heute die beschränkte Bebauungsfähigkeit ihrer Grundstücke verdanken, und Adolf von Achenbach, der sich als »Kämpfer« für den territorialen Erhalt des Kreises einen Namen gemacht hatte. Georg Scharnweber war der Landrat von Niederbarnim, der genau fünfzig Jahre in diesem Amt wirkte (1842-1892), gefolgt von Wilhelm von Waldow, Sigismund von Treskow, Graf Siegfried von Roeder (der es wie von Waldow zum Staatssekretär brachte) und Felix Busch. Jeder der Landräte wird in einer biographischen Skizze vorgestellt, wobei ihr Wirken gemessen wird an den Leistungen, die sie auf den Gebieten der kommunalen Leistungsverwaltung wie Verkehrswesen, Wirtschaftspflege, Wohlfahrtspflege, Hygiene, Kulturpflege, Kredit- und Versicherungswesen erbrachten. Mit dieser am Wirken der Landräte festgemachten Entwicklung der Landkreise werden dem Leser eindrucksvolle Bilder sowohl über die konkrethistorischen Wechselbeziehungen von Berlin und Umland und die Grenzen der Entfaltungsmöglichkeiten von Landkreisen im Umfeld einer Weltmetropole als auch über die Möglichkeiten der Einflußnahme der Landräte auf diesen Prozeß vermittelt. Eindrucksvoll dabei ist die Vielzahl von Quellen, die C. Wilke für ihre Erkundungsarbeit nutzen konnte und belegt hat.
Ein großer Born an Orientierungshilfen für alle, die sich noch intensiver mit diesem Gegenstand beschäftigen wollen.
     Bemerkenswert auch der Nachweis an Hand vieler Beispiele, wieviel vom fachlichen Können, dem Interesse der jeweiligen Landräte an ihrem Aufgabengebiet und ihrem Integrations- und Durchsetzungsvermögen abhängig war. Am Rande sei nur vermerkt, daß der Sitz der beiden Landratsämter während der Kaiserzeit in Berlin war.
     Nach Abschluß der Lektüre kann der Rezensent sich des Gefühls nicht erwehren, daß die angestrebte objektive Darstellung des Lebens und Wirkens der Landräte ein wenig apologetisch im Sinne des konservativen Selbstverständnisses des Amtes und der Amtsinhaber geraten ist. Sichtbar wird dies auch an den verwandten und an den wenig berücksichtigten Quellen. Die Würdigung und Wertung ihrer Person und Leistungen erfahren wir meist nur aus Verlautbarungen der staatlichen Hierarchie, Selbstdarstellungen und den Dankesadressen, die meist zum obrigkeitsstaatlichen Ritual gehörten und nur die Meinung eines Teiles der Bevölkerung widerspiegelten. Die durchaus begrüßenswerte Konzentration auf das Leben und Wirken der Landräte hätte gleichwohl einen größeren Informationsgehalt gehabt, wenn die machtpolitischen, ökonomischen und kulturellen Konflikte während der Kaiserzeit berücksichtigt worden wären.
     Hans-Jürgen Mende
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 4/2000
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