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Eberhard Fromm
»Oxford in Berlin«

Die Kaiser-Wilhelm- Gesellschaft in ihren ersten Jahren

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts existierte in Berlin ein vielfältiges Geflecht wissenschaftlicher Einrichtungen, aus denen die Universität und die Akademie der Wissenschaften sowie die in Charlottenburg ansässige Technische Hochschule herausragten. Was jedoch fehlte, waren Institutionen, die sich vor allem oder sogar ausschließlich der Forschung widmen und damit dem enormen Schub des wissenschaftlichen Fortschritts dieser Zeit entsprechen konnten. Das spürte die Großindustrie, das empfanden besonders auch die Wissenschaftler, wobei hier die Vertreter der technischen und der Naturwissenschaften an der Spitze marschierten.
     Ein äußerer Anlaß, sich intensiv mit diesem Thema zu befassen, bot sich, als die Pläne zur Aufsiedlung der Domäne Dahlem immer aktueller wurden. In verschiedenen Denkschriften an den Kaiser plädierten Berliner Wissenschaftler für eine Ansiedlung wissenschaftlicher Einrichtungen in Dahlem. So wandten sich Ende 1906 sieben Professoren der Berliner Universität mit einer Immediateingabe an Wilhelm II. Der Astronom Arthur von Auwers (1838-1915),

der Altphilologe Hermann Diels (1848-1922), der Chemiker und Nobelpreisträger von 1902 Emil Fischer (1852-1919), der Kirchenhistoriker Adolf Harnack (1851-1930), der Zoologe Oskar Hertwig (1849-1922), der Mitbegründer der physikalischen Chemie und spätere Nobelpreisträger Walther Nernst (1864-1941) und der Mediziner Wilhelm Waldeyer-Hartz (1836-1921) sprachen sich darin für die Gründung großer Forschungsinstitute ohne Lehraufgaben aus und schlugen als Platz dafür Dahlem vor. Dabei handelten sie im Einverständnis mit Friedrich Theodor Althoff (1839-1908), vielleicht sogar auf seine Initiative hin. Denn der wichtigste Mann im Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal- Angelegenheiten setzte sich seit langem für eine konzentrierte Wissenschaftsstätte, für ein »deutsches Oxford« ein.
     Vorher kamen ähnliche Vorschläge auch von einzelnen Wissenschaftlern und zu einzelnen Forschungsinstituten, so z. B. der Vorschlag von Walther Nernst, eine eigenständige Chemische Reichsanstalt zu gründen. Nach dem Tode Althoffs wurden seine Überlegungen 1909 von Friedrich Schmidt-Ott (1860-1956), dem Nachfolger Althoffs im Ministerium, in einer Denkschrift »Althoffs Pläne für Dahlem« zusammengefaßt. Auf dieser Grundlage erhielt noch im gleichen Jahr ein Mitarbeiter von Schmidt-Ott den Auftrag, eine umfassende Denkschrift zum Problemkreis eigenständiger wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen anzufertigen.
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In ihr waren bereits alle wichtigen Fragen der weiteren Entwicklung abgesteckt.
     Noch im gleichen Jahr wurde nunmehr Adolf Harnack beauftragt, für den Kaiser eine Denkschrift anzufertigen, die er im Dezember 1909 vorlegte. Oft wird dieses Papier als eigentliches Gründungsdokument der späteren Kaiser-Wilhelm- Gesellschaft angesehen. Dagegen stellt Lothar Buchardt in seiner Untersuchung zur Entstehung der Kaiser-Wilhelm- Gesellschaft fest: So markiert die Harnacksche Denkschrift keineswegs den Anfang der Gründungsgeschichte der Kaiser-Wilhelm- Gesellschaft, ja kaum eine Zäsur. Im Grunde faßte sie das schon Gesagte nochmals zusammen. Indem sie es in sprachlich und emotional wirkungsvollere Formen kleidete, mag sie freilich nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, das Projekt am Hof und in der Industrie populärer zu machen.1)
     Harnack fand offensichtlich die richtige Sprache, um den Kaiser zu überzeugen, daß eine solche Konzentration der Forschung erforderlich sei. Durch die regelmäßigen Kontakte, die Harnack mit Wilhelm II. hatte, wußte er besser als andere, welche Argumente man in den Vordergrund stellen mußte. So verwies er darauf, daß man im Ausland die Zeichen der Zeit erkannt habe und die Naturwissenschaften verstärkt fördere, während man in Deutschland diese Entwicklung versäumt habe.
Das damit angesprochene Prestigedenken führte zu Erfolgen. Nach zähen Verhandlungen und Spendenaufrufen wurden 1910 von insgesamt 150 Stiftern etwa 10,4 Millionen Mark aufgebracht, wobei 7,75 Millionen von 47 Vertretern der Industrie und der Banken kamen. Beim Gründungsjubiläum der Berliner Universität im Oktober 1910 nutzte Wilhelm II. seine Ansprache, um auf die baldige Gründung der Gesellschaft hinzuweisen, der er seinen Namen gab.
     Am 11. Januar 1911 wurde im großen Sitzungssaal der Akademie der Künste die »Kaiser-Wilhelm- Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften« gegründet. In der ebenfalls an diesem Tag verabschiedeten Satzung wird im ersten Paragraphen als Zweck der Gesellschaft formuliert, die Wissenschaften, insbesondere durch Gründung und Erhaltung naturwissenschaftlicher Forschungsinstitute, zu fördern. Der Aufnahmebeitrag betrug 20000 Mark, der jährliche Mitgliedsbeitrag 1000 Mark. Die Struktur der Gesellschaft sah einen Senat vor, der von mindestens zehn Senatoren gebildet werden sollte, die jeweils vom Kaiser zu bestätigen waren. Aus den Reihen des Senats war ein Verwaltungsausschuß zu wählen, dem der Präsident der Gesellschaft, seine beiden Vizepräsidenten sowie der Schatzmeister und Schriftführer mit je einem Stellvertreter angehören sollten.
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Die Hauptversammlung der Gesellschaft mit all ihren Mitgliedern sollte einmal im Jahr zusammentreten.
     Am 23. Januar 1911 wählte der Senat der Gesellschaft den Verwaltungsausschuß. Adolf Harnack wurde Präsident und der Industrielle Gustav Krupp von Bohlen und Halbach (1870-1950) sein 1. Vizepräsident. Die ersten Generalsekretäre waren von 1911 bis 1912 Ernst von Simson und von 1912 bis 1920 Ernst Trendelenburg.
     Daß ein Kirchenhistoriker zum Präsidenten einer Gesellschaft gewählt wurde, in deren Mittelpunkt die naturwissenschaftliche Forschung stehen sollte, erscheint auf den ersten Blick recht verwunderlich. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man erfährt, welchen hohen Stellenwert Harnack der ältesten Geschichte beimaß.

Wilhelm II. als Ehrendoktor der Universität Oxford
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Der Schwerpunkt des Faches Kirchengeschichte liegt in der Kirchen- und Dogmengeschichte der ersten sechs Jahrhunderte, schrieb er schon 1888 in einer Denkschrift an das preußische Unterrichtsministerium. Ich rede hier nicht pro domo; es ist vielmehr in weiten Kreisen anerkannt und wird hoffentlich bald zur allgemeinen Anerkennung kommen, daß man ohne gründliche Kenntnisse der alten Kirchengeschichte so wenig wirklicher Kirchenhistoriker ist, wie ohne Kenntnis des goldenen Zeitalters der griechischen und römichen Literatur ein klassischer Philolog ... Nicht Exegese allein und nicht die Dogmatik wird uns zu gesundem Fortschritt und zu immer reinerer Erkenntnis des Ursprünglichen und wirklich Wertvollen anleiten, sondern die besser erkannte Geschichte.2)
     Harnack, der 1888 an die Universität nach Berlin kam, 1890 Mitglied der Akademie der Wissenschaften wurde und 1905 mit der Leitung der Königlichen Bibliothek beauftragt worden war, gehörte bald zu jenem Personenkreis, der regelmäßigen Kontakt mit Wilhelm II. hatte. Vor allem bei der Vorbereitung und Durchführung der 200-Jahr-Feiern der Akademie der Wissenschaften hatte er großes wissenschafts- organisatorisches Geschick bewiesen.
Als ausgewiesener Wissenschaftler und vorzüglicher Organisator übte Harnack in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg maßgeblichen Einfluß auf die Wissenschaftspolitik der Berliner Akademie, ja der preußisch- deutschen Regierung aus ... Allmählich wuchs Harnack in die Rolle des überragenden Repräsentanten des deutschen Wissenschaftssystems hinein.3)
     Es gab also mehrere Gründe, Adolf Harnack, der 1914 geadelt wurde, zum Präsidenten der Kaiser-Wilhelm- Gesellschaft zu wählen. Das war einmal die Nähe zum Kaiser, dem Protektor der Gesellschaft; das waren zum anderen seine Fähigkeiten als Wissenschaftskoordinator; schließlich wurde damit auch ausgeschlossen, daß die eine oder andere Naturwissenschaft bevorzugt behandelt wurde, was bei einem Präsidenten aus den Reihen der Naturwissenschaftler wohl als eine latente Gefahr angesehen wurde.
     Harnack übte das Amt des Präsidenten bis zu seinem Tode am 10. Juni 1930 aus. Anfänglich führte er die Geschäfte von der Königlichen Bibliothek aus, seit 1922 waren die Geschäftsräume der Gesellschaft im Schloß untergebracht. 1921 wurde das Protektorat des Kaisers abgeschafft, während man jedoch den Namen der Gesellschaft beibehielt. In den ersten Jahren nahm die Anzahl der Mitglieder der Gesellschaft stetig zu.
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Waren es im April 1911 schon 142 Mitglieder, so hatte sich ihre Zahl bis Ende 1918 bereits mehr als verdoppelt.
     Als erste Kaiser-Wilhelm- Institute wurden im Oktober 1912 in Dahlem in Anwesenheit des Kaisers das KWI für Chemie und das KWI für physikalische Chemie und Elektrochemie eingeweiht. Das KWI für Chemie stand unter der Leitung von Ernst Otto Beckmann (1853-1923). Hier arbeiteten u. a. Lise Meitner (1878-1968), Otto Hahn (1879-1968) und Richard Willstätter (1872-1942). Das KWI für Chemie wurde von Fritz Haber (1868-1934) geleitet. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges entstanden weitere Kaiser-Wilhelm- Institute in Berlin und in anderen Städten: das KWI für Arbeitsphysiologie (1913), für experimentelle Therapie (1913), für Kohleforschung (Mülheim 1914), für Biologie (1915), für Deutsche Geschichte (1917) und das KWI für Eisenforschung (Aachen 1918).
     Die Kaiser-Wilhelm- Institute entwickelten sich schnell zu Zentren der wissenschaftlichen Forschung. In Berlin wurde Dahlem zu einer wissenschaftlichen Hochburg. Viele namhafte Naturwissenschaftler und künftige Nobelpreisträger wirkten hier über längere oder kürzere Zeit als Mitarbeiter oder Direktoren der verschiedenen Institute. Es war die Zeit, in der Deutschland auf naturwissenschaftlichem Gebiet eine Vorrangstellung übernahm, sagte Fritz Stern in seiner Jerusalemer Rede 1979 zum 100. Geburtstag von Albert Einstein.4)
Daß und in welchem Umfang an den KWI nicht nur Grundlagenforschung betrieben wurde, sondern auch militärische Aufgaben erfüllt wurden, daß und wie sich die Kaiser-Wilhelm- Gesellschaft zukünftig weiterentwickelte und heute in der Max-Planck- Gesellschaft ihre Nachfolgeorganisation gefunden hat - das sind neue Themen der Berliner Wissenschaftsgeschichte.

Quellen:
1 Lothar Burchardt, Wissenschaftspolitik im Wilhelminischen Deutschland. Vorgeschichte, Gründung und Aufbau der Kaiser-Wilhelm- Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Göttingen 1975, S. 34
2 Zit. nach Stefan Rebenich, Theodor Mommsen und Adolf Harnack. Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Berlin/New York 1997, S. 49
3 Ebenda, S. 76
4 Fritz Stern, Einsteins Deutschland, in: Fritz Stern, Der Traum vom Frieden und die Versuchung der Macht, Berlin 1999 (1987), S. 46

Bildquelle: Die Woche. Moderne Illustrierte Zeitschrift, Bd. I, Nr. 13, 28. März 1908

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 4/2000
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