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Bernhard Meyer
Berlin - Stadt der Nobelpreisträger

Von den 1901 erstmalig vergebenen sechs Nobelpreisen entfielen zwei auf Wissenschaftler deutscher Nationalität: Emil von Behring (1854-1917) für Medizin und Wilhelm Conrad Röntgen (1845-1923) für Physik. Keiner der beiden wirkte jedoch zum Zeitpunkt der Preisverleihung in Berlin. Behring verließ die Stadt 1893, um als Ordinarius nach Halle/ Saale und später nach Marburg zu gehen, und arbeitete 1901 in Frankfurt am Main. Der in München ansässige Röntgen hatte keinerlei Sympathien für die Reichshauptstadt und sogar 1895 die Nachfolge von Hermann von Helmholtz (1821-1894) als Präsident der angesehenen Physikalisch- Technischen Reichsanstalt (PTR) ausgeschlagen. Nur einer der sechs Laureaten des Jahrgangs 1901 lebte und arbeitete in Berlin: der niederländische Chemiker Jacobus van't Hoff (1852-1911). Sowohl Behring, dessen Nobelleistung Diphtherieserum in Berlin vollbracht wurde, als auch der Niederländer van't Hoff werden im allgemeinen zu den Berliner Preisträgern gerechnet.
     Berlin hatte sich mit seiner Königlichen Friedrich-Wilhelms- Universität und der Königlichen Akademie der Wissenschaften

bereits den Ruf eines in der Welt anerkannten und geachteten Wissenschaftszentrums erworben und bestimmte mindestens in der Chemie, Physik und Medizin das Weltniveau entscheidend mit. Dafür stehen Namen wie Johann Jacob Baeyer (1794-1885), Robert Wilhelm Bunsen (1811-1899), Heinrich Hertz (1857-1894), Helmholtz, Rudolf Virchow (1821-1902) u. a., die den Aufstieg Berlins zu einer Stätte leistungsfähiger Forschung maßgeblich beeinflußten. Aber auch Vertreter anderer Fachgebiete, wie der Philosoph Wilhelm Dilthey (1833-1911), die Historiker Leopold von Ranke (1795-1886), Theodor Mommsen (1817-1903) und Heinrich von Sybel (1817-1895) oder der Biologe Theodor Schwann 1810-1882) standen für den internationalen Ruf Berlins als Hort der Wissenschaften. Unter diesem Gesichtspunkt ist es schon verwunderlich, daß die schwedischen und norwegischen Nobelpreiskomitees beispielsweise an den in aller Welt geachteten Verdiensten von Robert Koch, dem maßgeblichen Begründer der Bakteriologie, zunächst vorbeigingen.
     Aber es wurden noch reichlich Nobelpreise nach Berlin geholt, und 1918 konnte sogar von der »Stadt der Nobelpreisträger« gesprochen werden. Immerhin 16 von insgesamt 22deutschen Nobelpreisträgern waren, wenngleich auch in unterschiedlicher Weise, mit ihren Leistungen oder ihrer Geburt mit Berlin verbunden. Bemerkenswerterweise erstreckten sich die Ehrungen für die Berliner Wissenschaftler auf alle im Testament von Alfred Nobel (1833-1896) vorgesehenen Fachgebiete:
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sechs Nobelpreise für Chemie, vier für Medizin und Physiologie und jeweils drei für Physik und Literatur. Möglicherweise war es Zufall, vielleicht auch schon Distanz zum imperialen Streben des Deutschen Reiches, daß es keinen deutschen Friedens- Nobelpreisträger in jenen Jahren gab.

Das Reglement begrenzte die Auswahl der Kandidaten

Die seit zwei Jahrzehnten vor allem von Friedrich Althoff (1839-1908) forcierte Wissenschaftspolitik mit dem Kern, die befähigtsten Wissenschaftler in Berlin zusammenzuführen, trug um die Jahrhundertwende besonders viele Früchte. Sein Konzept beförderte, wenngleich äußerst bürokratisch und mit unübersehbaren dogmatischen Zügen behaftet, Forschungsrichtungen, von deren Leistungen die Wirtschaft profitierte und die dem Deutschen Reich beim Streben zum »Platz an der Sonne« zusätzliches Renommee in der Welt verschaffen sollten.
     Die Berliner Wissenschaftslandschaft konnte 1901 durchaus eine Reihe nobelpreiswürdiger Leistungen vorweisen, doch begrenzten einige Bestimmungen des Reglements die Auswahl der Kandidaten.

Einige, wie zum Beispiel Hermann von Helmholtz, lebten nicht mehr, die preiswürdigen Leistungen anderer, wie die Zellularpathologie Virchows Ende der 50er Jahre, lagen schon Jahrzehnte zurück.
     Schließlich gehörten zahlreiche Fachgebiete, die das Bild der Humboldtschen Vision der Universitas litterarum ausmachen sollten, wie Mathematik, Philosophie, Biologie, Philologie, Geographie und Archäologie, nicht zu denen, für die Nobelpreise vorgesehen waren.
     So beginnt der Reigen der »echten« Berliner Nobelpreisträger 1902 mit dem Chemiker Emil Fischer (1852-1919) und dem Historiker Theodor Mommsen (1817-1903). Fischer erhielt den Preis für seine bahnbrechenden Arbeiten über Kohlehydrate und Purine. Damit war er fast am Ziel seines Traumes als junger Wissenschaftler, eines Tages sein Frühstück zu synthetisieren, das heißt Zucker, Eiweiß, Fett und Koffein chemisch im Labor herzustellen. Er kam 1892 als Nachfolger von August Wilhelm von Hoffmann (1818-1892) auf den Berliner Lehrstuhl und galt als penibler Experimentator. Seine außergewöhnliche Leistungsfähigkeit und die zu erwartenden Forschungsergebnisse veranlaßten Althoff, den Neubau des Chemischen Instituts in der Hessischen Straße zu forcieren, so daß im Jahre 1900 an Fischer ein hochmodernes Gebäude samt Ausstattung übergeben werden konnte.
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Urkunde der Nobelpreisverleihung ...
Fischer war es auch, der eine maßgebliche Rolle bei der Gründung des chemischen Instituts der Kaiser-Wilhelm- Gesellschaft spielte. Die Stadt Berlin ehrte den Nobelpreisträger u. a. mit einem Denkmal, das 1921 auf dem heutigen Robert-Koch- Platz in unmittelbarer Nähe seiner Wirkungsstätte aufgestellt wurde.
     Theodor Mommsen hatte gerade am 30.November die Feierlichkeiten anläßlich seines 85. Geburtstags bewältigt, als er sich wenige Tage später nach Stockholm begab, um als Historiker den Nobelpreis für Literatur entgegenzunehmen. In der Laudatio findet sich die Begründung dafür, denn er wurde als »größter lebender Meister der historischen Darstellung« charakterisiert. Sein Hauptwerk, die fünfbändige »Römische Geschichte«, gilt bis heute als eine außergewöhnliche historiographische Leistung. Eben für diese Spezialrichtung berief man ihn 1861 auf den Lehrstuhl nach Berlin, den er überaus produktiv mit mehr als 1 500 Publikationen verwaltete.
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Mit vielen Orden und Ämtern geehrt, als Mitbegründer der linksliberalen Fortschrittspartei und Abgeordneter des Preußischen Landtags und des Deutschen Reichstags, gehörte er zu den bekannten und angesehenen Bürgern der Stadt Berlin. Wie Virchow, den er zu seinen politischen Freunden zählte, verfocht Mommsen demokratische Auffassungen und stand mit seinen Vorstellungen über die Einheit Deutschlands im schroffen Gegensatz zu Bismarck.
     Die beiden anderen Literaturnobelpreise gingen an die Schriftsteller Paul Heyse (1830-1914) und Gerhart Hauptmann (1862-1946), deren literaturkritische Bewertung wohl kaum unterschiedlicher ausfallen konnte. Heyse, von Geburt Berliner, dann aber seit 1854 in München lebend, erhielt den Preis 1910 »in Anerkennung der vollendeten, von Idealismus durchleuchteten Kunst«. Zu seiner Zeit als Lyriker und Romanschriftsteller viel gelesen, von einigen als der größte deutsche Dichter seit Goethe gefeiert, konnte sein Werk sein Leben kaum überdauern.

... für Robert Koch 1905
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Aus heutiger Sicht ruft diese hohe Bewertung Heyses Erstaunen hervor. Ganz anders dagegen die Wirkung des Werkes von Hauptmann damals und heute, der mit seinen naturalistischen Dramen seinerzeit äußerst umstritten war. Dennoch bewogen sie das Komitee 1912, »sein fruchtbares und vielseitiges Wirken im Bereich der dramatischen Dichtung« anzuerkennen.

Robert Kochs Kampf gegen Tuberkulose gewürdigt

Es gab zwischen 1901 und 1918 acht Jahrgänge (1903, 1904, 1906, 1909, 1911, 1913, 1916, 1917), in denen kein Nobelpreis nach Berlin ging. 1905 erhielt Robert Koch als zweiter deutscher Mediziner den Nobelpreis. So ehrenvoll die Auszeichnung mit der Begründung »für seine Untersuchungen und Entdeckungen auf dem Gebiete der Tuberkulose« war - seine Verdienste hätten schon 1901 für die Auszeichnung gereicht. Dies um so mehr, als die Tuberkulose als Volkskrankheit etwa so im öffentlichen Blickpunkt stand wie heute der Herzinfarkt oder der Krebs. Darüber hinaus war der erste medizinische Nobelpreisträger Behring Schüler von Koch in Berlin, was dessen Verdienste um die selbständige Entwicklung der Serumtherapie jedoch keineswegs schmälern kann.

Drei Jahre später erhielt mit Paul Ehrlich (1854-1915) ein weiterer Schüler Kochs den Nobelpreis für Medizin (gemeinsam mit dem Russen Ilja Metschnikow). Die Voraussetzungen und einen wesentlichen Teil seiner grundlegenden Arbeiten zur Immunologie gegen verschiedene Krankheitserreger schuf er in Berlin, das er 1897 verließ, um nach Frankfurt am Main zu gehen. Die endgültige Formulierung der »Seitenkettentheorie« als theoretische Voraussetzung für die von ihm angestrebte Immunisierung solch gefährlicher Infektionskrankheiten wie Diphtherie und Geschlechtskrankheiten erfolgte erst 1905. Den größten therapeutischen Erfolg erzielte der Begründer der Chemotherapie erst nach der Nobelpreisverleihung, denn mit dem von ihm entwickelten Salvarsan präsentierte er 1910 das erste klinisch wirksame Heilmittel gegen Syphilis. Weit weniger bekannt ist der vierte Berliner Nobelpreisträger für Medizin, Albrecht Kossel (1853-1927). Wie seine drei Vorgänger gehörte er nicht zu den Klinikern, sondern zu den theoretisch- experimentell tätigen Ärzten. Kossel arbeitete als Biochemiker über Nucleinsäuren, Pyrimidine und Purine. Den Preis erhielt er, als seine 12jährige Berliner Zeit schon lange hinter ihm lag und er als Ordinarius für Physiologie in Heidelberg wirkte.
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Nach van't Hoff und Fischer rief man 1905 Adolf von Baeyer (1835-1917) zur Entgegennahme des Nobelpreises für Chemie nach Stockholm. Da lebte er aber bereits über 30 Jahre in München, wo er Pionierleistungen auf dem Gebiet der organischen Chemie vollbrachte, indem er organische Farbstoffe und aromatische Verbindungen synthetisch herstellte. Mit Berlin verband ihn seine Geburt, die Promotion und eine zwölfjährige Tätigkeit ohne Aussicht auf eine Professur. Diese erhielt er 1875 in München ebenso wie die Erhebung in den Adelsstand 1885 durch Ludwig II. von Bayern. Eduard Buchner (1860-1917) als Chemie- Nobelpreisträger von 1907 dagegen wurde in München geboren und entdeckte die zellfreie Gärung vor seiner Berliner Zeit, die von 1898 bis 1909 an der Landwirtschaftlichen Hochschule währte. Nur vier Jahre, von 1911 bis 1915, weilte Richard Martin Willstätter (1872-1942) als Direktor des Kaiser-Wilhelm- Instituts (KWI) für Chemie in Berlin. Zuvor an der Universität Zürich tätig, verließ er die Reichshauptstadt und ging nach München. Den ihm 1915 verliehenen Nobelpreis für Chemie erhielt er für Untersuchungen des Pflanzenfarbstoffs Chlorophyll. Der Abschluß der Arbeiten erfolgte in seiner Berliner Zeit. Plancks Quantentheorie und die moderne Physik

Im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs, 1918, wurden nur zwei von fünf möglichen Nobelpreisen vergeben. Und diese erhielten deutsche Wissenschaftler: für Chemie Fritz Haber (1868-1934), für Physik Max Planck (1858-1947). Die Juroren begründeten die Preisverleihung an Haber mit dessen Verdiensten um die Ammoniak-Synthese als Grundlage für die großtechnische Produktion von künstlichen Düngern. Die dafür notwendigen Arbeiten beendete er 1909 weitgehend in Karlsruhe, ehe er 1911 an das KWI für Physikalische Chemie berufen wurde. Die Übergabe der Preise an Haber und Planck erfolgte erst im Juni 1920, da während des Krieges keine Nobelfeiern stattfanden. Haber wurde geehrt, obwohl er sich während des Krieges mit der Verwendung giftiger Gase für Kriegswaffen beschäftigte und 1915 den ersten Einsatz von Giftgas im belgischen Ypern geleitet hatte.
     Max Planck war im betrachteten Zeitraum der letzte Laureat nach den Physik- Nobelpreisen für Wilhelm Carl Wien (1864-1928) 1911 und Max von Laue (1879-1960) 1914.

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Plancks Professorentätigkeit erstreckte sich in Berlin über 37 Jahre von 1889 bis 1926. Gegenstand der Ehrung war die von ihm 1900 bekanntgegebene Quantentheorie, eine der Grundlagen der modernen Physik.
     Für die Anerkennung dieser außergewöhnlichen, die Physik verändernden theoretischen Leistung bedurfte es immerhin 18 Jahre. Zuvor wurde Wien für seine Arbeiten zur Wärmestrahlung (Wiensches Strahlengesetz) geehrt, die er im wesentlichen während seiner Privatdozentur bei Helmholtz zwischen 1892 und 1895 ausführte. Laues Weg charakterisiert nochmals die Schwierigkeiten der lokalen Zuordnung der Nobelpreisleistungen: Studienabschluß, Promotion und Habilitation bei Planck in Berlin, Entdeckung der »Beugung von Röntgenstrahlen bei ihrem Durchgang durch Kristalle« als Leistung für den Nobelpreis 1912 in München und 1914 Ordinarius für Physik an der Universität Frankfurt am Main, ehe er 1919 wieder nach Berlin zurückkehrte.
     Bei etwas weiter gefaßter Auslegung können also zwischen 1901 und 1918 immerhin 16 Nobelpreise mit Berlin in Verbindung gebracht werden. Die Preise verteilen sich auf 13 deutsche Wissenschaftler und zwei Schriftsteller sowie einen ausländischen Wissenschaftler. Lediglich sechs deutsche Nobelpreisträger weisen in ihrer Vita keinerlei Bezug zur Reichshauptstadt auf: Röntgen (1901, Physik), Lenard (1905, Physik), Eucken (1908, Literatur), Ostwald (1909, Chemie), Braun (1909, Physik) und Wallach (1910, Chemie).
Der jüngste Berliner Nobelpreisträger war mit 35 Jahren Max von Laue, der älteste mit 85 Jahren Theodor Mommsen. Letzterer konnte sich nur ein knappes Jahr der Ehrung erfreuen, während Laue nach der Preisverleihung noch 46 Jahre lebte.
     Der Nobelpreis erwarb sich rasch den Status einer einzigartigen Auszeichnung und ließ die bis dahin besonders begehrten Ehrendoktorate und Ehrenmitgliedschaften in ausländischen wissenschaftlichen Gesellschaften in die zweite Reihe treten. Natürlich waren den Ausgezeichneten auch die 150000 Schwedischen Kronen als Preisgeld (1901) willkommen, die etwa 25 Jahreseinkommen entsprachen, finanziell darauf angewiesen war jedoch keiner der Berliner Laureaten. Das öffentliche Gewicht ihrer Stimme stieg an, wenn sie diese für wissenschaftliche und politische Zwecke einsetzten. Unter dem den Ersten Weltkrieg unterstützenden Aufruf »An die Kulturwelt« vom 4. Oktober 1914, den 94 deutsche Intellektuelle unterschrieben, finden sich die Namen von sechs Berliner Nobelpreisträgern sowie drei designierten Laureaten. Es fehlen nur Buchner, Kossel und Laue (Koch, Mommsen und Heyse und van't Hoff waren bereits verstorben).

Bildquelle: Robert-Koch- Institut des Bundesministeriums für Gesundheit

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 4/2000
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