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Kurt Wernicke
Schlitterpartie in den Weltkrieg

Die latenten Gegensätze zwischen den europäischen Großmächten waren bei etlichen Krisen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts immer wieder friedlich- schiedlich beigelegt worden, hatten aber keine endgültige Lösung gefunden: Im Prinzip standen sich auf dem Kontinent seit der Zeit um 1900 zwei Mächtegruppierungen gegenüber - Deutschland und Österreich- Ungarn auf der einen Seite (mit Italien als höchst unsicherem Verbündeten) und eine russisch-französische Allianz auf der anderen Seite. Jedoch sorgte das traditionell gute Verhältnis von Deutschem und Russischem Reich über diesen Gegensatz hinweg für immer wieder verfügbare Entspannungsmöglichkeiten, die in zugespitzten Krisenzeiten mehrmals zum Einsatz kamen. Der von den christlichen Balkanstaaten 1912 gegen das Osmanische Reich vom Zaun gebrochene Balkankrieg brachte die wohl ernsthafteste europäische Krise des bis dahin noch nicht sehr alten Jahrhunderts, weil der Gegensatz zwischen der österreichisch- ungarischen Doppelmonarchie und Rußland in der von beiden Seiten angemaßten Einflußnahme auf dem Balkan die beiden Kontrahenten bis zur Weißglut trieb.

Im November 1912 war man jedenfalls in Wien (der Unterstützung durch das in »Nibelungentreue« verbundene Berlin sicher, das - ganz anders als unter Bismarck - nun bereit war, in so ziemlich jedes Balkanabenteuer der Wiener Brüder mit hinein zu stolpern) und St. Petersburg schon zum großen Waffengang bereit. Aber der russische Generalstab meldete dem Zaren ernsthafte Mängel in seiner Armee, dem russischen Allianzpartner Frankreich war der Balkan gleichgültig, und in Deutschland und Österreich- Ungarn mögen gewaltige Friedensdemonstrationen einigen Einfluß auf die Entscheidung ausgeübt haben, abzuwiegeln: Der Balkan- Konflikt blieb für diesmal noch begrenzt. Er endete im Sommer 1913 mit einer Verdoppelung des serbischen Territoriums und dem von den Großmächten verordneten Entstehen eines Staates Albanien - der eigentlich nur aus der Taufe gehoben wurde, um den Serben den Zugang zum Meer zu verschließen. Die Großmächte hingegen schöpften noch einmal Atem in der ihnen eigenen Weise: In Wien, St. Petersburg, Berlin und Paris wurden die Rüstungsanstrengungen erheblich forciert. Im Frühsommer 1914 hatte das deutsche Landheer z. B. eine Stärke von 748 000 Mann, das waren etwa 2,25 Prozent der männlichen Reichsbevölkerung, vom Säugling bis zum Greis.
     Am 28. Juni 1914 wurde der österreichisch ungarische Thronfolger Franz Ferdinand (1863-1914) in der Hauptstadt der - seit 1908 - österreichischen Provinz Bosnien, Sarajewo, von einem Attentäter erschossen.
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Franz Ferdinand war energischer Verfechter eines südslawischen Teilstaates innerhalb der Doppelmonarchie, der zweifellos das kulturelle Zentrum der Südslawen nach Agram (heute: Zagreb) verlegt und der serbischen Hauptstadt Belgrad wohl auch politisch das Wasser abgegraben hätte. Serbische Drahtzieher hinter dem Attentäter und seinen Helfern waren damals zu vermuten und sind später offenkundig geworden. Wien sah nun die Chance, das 1912/13 vergrößerte Potential Serbiens wieder zurückzuschrauben und ein für allemal mit der serbischen Bedrohung Schluß zu machen. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. ließ am 5. Juli durch den österreichischen Botschafter nach Wien mitteilen, man könne sich dort auf die deutsche Bundestreue verlassen - aber, gewarnt durch die »Daily-Telegraph- Affäre« von 1908, verwies er auf die nötige Zustimmung des deutschen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg (1856-1921). Die kam prompt am nächsten Tag. Mit dieser Zusicherung im Rücken stellte Wien nun an Belgrad hochgeschraubte Forderungen, denen zu entsprechen dort weitgehend zugesagt wurde, wenn auch nicht bis zum Letzten. Die Wiener Kriegspartei erklärte sich durch die serbische Antwort voller Arroganz dennoch nicht befriedigt und erklärte am 28. Juni Serbien den Krieg. Die deutsche Außenpolitik war prinzipiell entschlossen, den Sommer 1914, sollte Rußland an Serbiens Seite eingreifen, nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, um die französischrussische »Umklammerung« zu zerbrechen. Der seit 1913 amtierende Leiter des Auswärtigen Amtes, Gottlieb von Jagow (1863-1935), teilte dem deutschen Botschafter in London seine Überzeugung mit, daß England und Frankreich zu diesem Zeitpunkt den Krieg nicht wünschen würden und Rußland erst in einigen Jahren zum Schlagen bereit sei. Mit solchen fatalen Fehleinschätzungen wankte das Reich in der Woche vom 27. Juli bis zum 2. August 1914 in den Krieg. Als Rußland am 30. Juli angesichts des österreichisch- ungarischen Einfalls in Serbien die allgemeine Mobilmachung verkündete, verlangte die deutsche Regierung die Rücknahme der Maßnahme bis 1. August. Als ihrer Forderung nicht nachgekommen wurde, ließ sie am Abend dieses Tages in St. Petersburg die Kriegserklärung überreichen. Nur in der Nacht vom 29. zum 30. Juli war momentan bei Wilhelm II. Unsicherheit eingezogen, als er aus London hörte, dort werde man bei einem österreichisch- russischen Krieg neutral bleiben, bei einer Ausweitung desselben auf Deutschland und Frankreich hingegen nicht. Wilhelm II. tobte und bombardierte Wien mit Telegrammen, es solle Zurückhaltung üben.
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Aber schon am Nachmittag des 30. Juli war dieser Moment kaiserlicher Unentschlossenheit vorüber: Der Generalstab hatte ihm versichert, daß die angelaufenen Militärvorbereitungen der deutschen Seite für den Krieg nun nicht mehr aufzuhalten seien ...
     Jetzt rächte sich mit Nachdruck der fehlende Parlamentarismus in der Reichsverfassung, denn die militärischen und die politischen Kompetenzen waren streng getrennt und nur vom Kaiser zu koordinieren. Wilhelm II. mit seinem Hang zu großen Worten, aber zögernden Taten, war mit dieser Koordinierung überfordert und wagte natürlich schon gar nicht, in dieser Krisensituation ausgerechnet die hohen Militärs, diese halbgötterähnlichen Repräsentanten der immerzu gerühmten »schimmernden Wehr«, zu demütigen. Man drückt uns das Schwert in die Hand, teilte er mindestens 50000 Berlinern mit, die am späten Nachmittag des 1. August vor das Kaiserschloß geströmt waren und sich an ihren eigenen patriotischen Liedern berauschten. Natürlich war mit »man« das Ausland gemeint, die »Neider überall«. Tatsächlich war es aber die verhängnisvolle Automatik deutscher Generalstabsplanung, die unter dem Alpdruck des schrecklichen, damals von Militärs zu verantwortenden Fehlers von 1870/71 - der Annexion von ElsaßLothringen - entstanden war: der um die Jahrhundertwende angesichts der russisch- französischen Allianz ausgearbeitete, 1905 in seine letzte Form gegossene Plan des damaligen Generalstabschefs Alfred von Schlieffen (1833-1913) verlangte automatisch zunächst die machtvolle Offensive zur Niederwerfung Frankreichs, um sich erst nach dem Sieg im Westen mit voller Kraft gegen die Russen zu wenden.
Die Kriegserklärung an Rußland hätte also durchaus Zeit gehabt, und ein Hinauszögern um einige Tage (Wien überreichte seine Kriegserklärung an Rußland erst am 5. August und ging schon am nächsten Tag in die - katastrophal mißglückte - militärische Offensive) vielleicht die russischen Angriffshandlungen verzögert. Aber die über das Ziel hinausschießende deutsche Antwort auf die russische Mobilmachung - die ihrerseits nur als Antwort auf die österreichisch- ungarische erschien - hatte eine ausgesprochen innenpolitische Richtung: Nur so war sich Reichskanzler Bethmann Hollweg sicher, daß er auch die Sozialdemokratie in den Reihen der Einheitsfront der Vaterlandsverteidiger finden werde. Ein führender Funktionär aus dem rechten Spektrum der deutschen Sozialdemokratie, Albert Südekum (1871-1944), hatte ihm am 29. Juli versichert, aus dieser politischen Richtung sei keinerlei Aktion gegen einen Krieg mit Rußland zu erwarten. Tatsächlich ging der Plan voll und ganz auf. Das Argument, der Krieg werde nun zur Verteidigung der Kultur gegen den blutbefleckten Zarismus und den asiatischen Despotismus geführt, schlug auch bei einem großen Teil der sozialdemokratisch gestimmten Massen durch. Am 2. August beschloß die Vorständekonferenz der Gewerkschaften, die deutsche Mobilmachung zu unterstützen und für die Dauer des Krieges alle Lohnkämpfe abzusetzen.
     Als am 4. August der Reichstag die Erklärung des Reichskanzlers anhörte und über die Bewilligung der Kriegskredite zu beschließen hatte, da votierte er einstimmig für den Krieg, der als Verteidigungskrieg eingeordnet wurde.
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Wir Sozialdemokraten lasse in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich! erklärte der sozialdemokratische Parteivorsitzende Hugo Haase (1863-1919) unter tosendem Beifall der Abgeordneten aller Fraktionen. Tags zuvor war die Kriegserklärung an Frankreich bereits ausgesprochen, das neutrale Luxemburg okkupiert und der Einmarsch in das neutrale Belgien begonnen worden. Die Militärs hatten bei ihrem Schlieffen- Plan die politischen Implikationen einer solch brutalen Verletzung des Völkerrechtes nicht zu berücksichtigen gehabt - um die Folgen des militärischen Tuns mußten sich unter wilhelminischen Aspekten immer die Politiker kümmern. In diesem Fall war die Konsequenz, daß die zunächst in der Minderheit befindliche Kriegspartei in der englischen Regierung dort schlagartig die Majorität gewann:
Osteroder Landsturm Unter den Linden, 2. September 1914
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Getreu dem britischen Grundsatz, daß die flandrische Küste nicht in der Hand einer Großmacht sein dürfe, verlangte England - während der Reichstag gerade seine patriotische Kundgebung absolvierte - am 4. August den Rückzug aus Belgien und erklärte, als nichts in dieser Richtung geschah, noch am selben Tag dem Deutschen Reich den Krieg. Nun war klar, daß aus dem Konflikt der Doppelmonarchie mit Serbien ein europäischer Krieg entstanden war. Er sollte sich bald zum Weltkrieg mausern.
     Denn der auf der strategischen Planung des deutschen Generalstabes beruhende Traum vom schnellen Krieg mit dem folgerichtigen Blitzsieg erwies sich innerhalb weniger Wochen als völlig auf Sand gebaut. Zwar gelang ein relativ schneller deutscher Vormarsch durch Belgien und Nordfrankreich fast bis vor die Tore von Paris innerhalb von vier Wochen - wenn auch zu Lasten von Mensch und Tier, die in den letzten Tagen des Vormarschs sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Aber die Offensivkraft des russischen Feldheeres war geradezu katastrophal unterschätzt worden; seit der letzten Variante des Schlieffen- Planes (1905) hatten die Russen mit französischem Geld neue Eisenbahnlinien gebaut, auf denen zwei russische Armeen in kürzester Frist zur deutschen Ostgrenze gelangten. Sie marschierten Anfang August in Ostpreußen ein und drohten binnen kurzem, die ganze Provinz zu überrennen - die ostpreußische Flüchtlingswelle schwappte bis in die Vororte Berlins, wo die verstörten Menschen in Turn- und Stadthallen untergebracht wurden.
Die österreichisch- ungarische Armee erwies sich als ungeeignet für eine Offensive und konnte kaum russische Truppen in nennenswerter Zahl binden. Also mußten vom deutschen Westheer Kräfte abgezogen werden, die zwar Ende August den russischen Angriff spektakulär zerschlugen und die Russen zurückdrängten, die aber bei der Offensive auf Paris fehlten. Italien hatte sich schon am 3. August von seinen Allianz- Verpflichtungen gegenüber Wien und Berlin verabschiedet, so daß die Franzosen alle verfügbaren Truppen gegen die Deutschen werfen konnten. Unerwartet schnell war auch ein - im Schlieffen- Plan gar nicht in Betracht gezogenes - englisches Korps in Frankreich verfügbar, das Anfang September die beiden deutschen Angriffsspitzen teilte und im Verein mit einem französischen Flankenangriff die Deutschen zum Rückzug zwang. Der Krieg ging vom Belagerungs zum Stellungskrieg über - die Blitzkriegsstrategie des Schlieffen- Planes war gescheitert, ein Ende des als kurz gedachten Krieges war nicht in Sicht!

Bildquelle: Michael Bienert/ Erhard Senf, Berlin wird Metropole, be.bra verlag berlin.brandenburg 2000

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 4/2000
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