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Eberhard Fromm
Die Kaiserstadt formt ihr eigenes Gesicht

Berlin hatte sich seit der Gründung des Kaiserreiches 1871 deutlich verändert. Nach der Hochkonjunktur und dem Gründerkrach, nach der Konzentration von Hauptstadtfunktionen und dem Zuzug damit verbundener Einrichtungen, nach der Thronbesteigung Wilhelms II. und der Entlassung Bismarcks als Reichskanzler, nach der schnellen industriellen Entwicklung und dem damit verbundenen Bauboom war Berlin eine moderne Großstadt geworden. Zwar konnte sie sich immer noch nicht mit den großen und geschichtsträchtigen europäischen Metropolen wie Paris und London messen; aber Berlin war auf dem Wege, ein ganz eigenes Gesicht zu entwickeln. Denn wenig bedrängt durch historisch gewachsene Traditionen oder gar Vorbehalte gegen Neuerungen, konnte die Stadt zu einem Experimentierfeld moderner Stadtentwicklung werden.
     Als Stefan Zweig (1881-1942) als Zwanzigjähriger aus Wien nach Berlin kam, war sein erster Eindruck enttäuschend. Dann aber erkannte er, wie in Berlin das Neue gesucht wurde. Seit 1870, da Berlin aus der recht nüchternen kleinen und durchaus nicht reichen

Hauptstadt des Königreichs Preußen die Residenzstadt des deutschen Kaisers geworden war, hatte der unscheinbare Ort an der Spree einen mächtigen Aufschwung genommen ... Die großen Konzerne, die vermögenden Familien zogen nach Berlin, und neuer Reichtum, gepaart mit einem starken Wagemut, eröffnete der Architektur, dem Theater hier größere Möglichkeiten als in einer anderen großen deutschen Stadt. Die Museen vergrößerten sich unter dem Protektorat Kaiser Wilhelms, das Theater fand in Otto Brahm einen vorbildlichen Leiter, und gerade, daß keine richtige Tradition, keine jahrhundertealte Kultur vorhanden war, lockte die Jugend zum Versuche an. Es war, wie Zweig bemerkte, der Zeitpunkt des Übergangs von der bloßen Hauptstadt zur Weltstadt.1)
     Das Gesicht einer Stadt wird entscheidend von den Menschen geprägt, die sie bewohnen. Sie bestimmen den Rhythmus und bilden das jeweils ganz eigene soziale Klima der Stadt aus. In Berlin gab es die wachsende Zahl der Reichsbeamten, hier gab es den kaiserlichen Hof mit seinem Anhang, hier gab es nach wie vor eine Konzentration der Militärs. Und doch wurde die lebendige Psyche der Stadt immer stärker von der arbeitenden Bevölkerung geprägt. Das zeigte sich besonders deutlich im wachsenden Einfluß der Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei, die bald alle anderen politischen Parteien in der Hauptstadt überflügelt hatte.
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Bei den Reichstagswahlen 1903 gewann die Sozialdemokratie fünf der sechs Berliner Reichstagssitze, eine Position, die sie bei den folgenden Wahlen 1907 und 1912 erfolgreich verteidigen konnte. Als Wilhelm Liebknecht (1826-1900) am 7. August 1900 in Berlin starb, gaben ihm am 12. August in einem mehrstündigen Trauerzug mehrere hunderttausend Menschen das letzte Geleit. Das Wort vom »roten Berlin« hatte immer mehr Berechtigung. Nicht ganz zu Unrecht sprach man vom »Gegenkaiser« August Bebel. Und der wachsende Widerspruch zwischen diesen neuen gesellschaftlichen Kräften und dem Kaiser als Repräsentanten imperialen Machtstrebens prägte viele Entscheidungen dieser Zeit.
     Und noch andere Trends wiesen auf einen neuen Lebensrhythmus der Stadt hin. In Steglitz entstand 1901 mit dem »Wandervogel« eine Jugendbewegung ganz eigener Art. In der Frauenbewegung ging es natürlich weiterhin um die großen Ziele der gesellschaftlichen Emanzipation. Aber auch die Persönlichkeit der Berlinerin wandelte sich. In seiner kulturgeschichtlichen Studie des 20. Jahrhunderts feiert Paul Fechter (1880-1958) diese Entwicklung so: Gegen Ende des ersten Jahrzehnts des zwanzigsten Jahrhunderts, so um 1909, ergriff, ausgehend von den Bestrebungen der damaligen Modeschöpfungen, auch für die Frauen etwas grundlegend Anderes, Besseres, Schöneres zu schaffen, ein Impuls die weibliche Welt Berlins, der entscheidend für das Bild des ganzen zwanzigsten Jahrhunderts geworden ist:
der Entschluß nämlich, schöner und zwar so schön wie möglich zu werden.2) Mag diese Bewertung auch überschwenglich sein, so weist sie doch auf eine reale Entwicklung in der Berliner Lebenswelt hin.
     Bedeutungsvoll für die Veränderungen der Stadt war die schnelle wirtschaftliche Entwicklung, insbesondere der Ausbau der Industrie und der Zuzug großer Banken. Mit den Siemenswerken und der AEG produzierten in Berlin zwei führende Unternehmen der zukunftsträchtigen Elektroindustrie. Neben dem Maschinenbau gewann auch die pharmazeutische Industrie einen immer höheren Stellenwert. Die zunehmende Industrialisierung führte zu einer Randwanderung, womit die Frage einer einheitlichen Struktur und Verwaltung des Großberliner Raumes immer dringlicher wurde. Denn bei allen dynamischen Veränderungen hatte es seit 1861 keine bedeutende territoriale Ausdehnung der Stadtgrenzen mehr gegeben.
     Die Zeit zwischen dem Eintritt in das neue Jahrhundert und dem Ersten Weltkrieg mit seinen Folgen wird häufig als »Vorkriegszeit« beschrieben. Unter einem solchen Aspekt stehen dann alle jene Tendenzen im Mittelpunkt, die letztlich zum Krieg geführt haben. Und man kann leicht den Eindruck gewinnen, als wenn die Menschen dieser Zeit wie unter einer stetig wachsenden Kriegsdrohung gelebt hätten. Doch in der realen Lebenswelt der Menschen dieser Zeit war es das vierte Friedensjahrzehnt und eine Epoche dynamischer Veränderungen im Sinne des technischen und auch des sozialen Fortschritts.
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Wie der Schriftsteller Ludwig Marcuse (1894-1971) in seiner Autobiographie »Mein zwanzigstes Jahrhundert« beschreibt, war er ebenso selbstverständlich ein kaiserlicher Deutscher wie ein Warmblüter. Neben meinem alten Vater thronte mein junger Kaiser, gar nicht sorgenvoll.3)
     Berlin formte in diesen Friedenszeiten sein neues Gesicht. Die Anlage der großen Straßen, so der Ausfallstraße vom Schloß über die Linden und durch den Tiergarten über die neue Heerstraße bis nach Döberitz war eine Demonstration großstädtischer Planung. Der Kurfürstendamm erhielt Gestalt. Die ersten U-Bahn- Strecken prägten den innerstädtischen Verkehr. Vor allem aber die vielen neuen Bauten signalisierten, daß hier etwas Neues entstand, eben ein Ort mit Weltstadtcharakter. Erinnert sei an die Einweihung des Berliner Doms 1905 und das neue Preußische Herrenhaus an der Leipziger Straße.

Blick über den Schloßplatz in die Königstraße,
nach 1900
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Es entstanden neue Theater und Kaufhäuser, Hotels und Vergnügungspaläste. Peter Behrens' Montagehalle der AEG-Turbinenfabrik, heute noch in Moabit zu besichtigen, machte die neue Sichtweise im industriellen Bauen deutlich. Es entstand jenes »Berliner Tempo«, das als typischer Teil der Lebensweise des Berliners von nun an immer wieder beschrieben und besungen wurde.
     Wenn wir uns ebendiese Etappe der Berlingeschichte, die Jahre zwischen der Jahrhundertwende und dem Ende des Kaiserreichs, verdeutlichen wollen, bietet sich das steinerne Berlin auch heute noch, nach so vielen Jahren, die voller Zerstörungen und baulicher Veränderung waren, als ausdrucksstarkes Beispiel an.
     Dabei ist es ein Glücksumstand, daß wir mit den Erinnerungen des Stadtbaurats Ludwig Hoffmann (1852-1932, BM 3/99) einen Zeitzeugen befragen können, der der entscheidende Macher in diesen Jahren war und der - fernab von allen kleinen und großen politischen Ereignissen der Zeit - das Gesicht der Hauptstadt formte. Beinahe konsterniert stellte er fest: Es ist erstaunlich, wie wenig bis zum Herbst 1918 der Krieg die städtische Bautätigkeit in Berlin beschränkt hatte. War auch in weiten Kreisen schon längere Zeit zuvor nicht mehr mit einem siegreichen Abschluß des Krieges gerechnet worden, so hatte man doch einen immerhin erträglichen Verständigungsfrieden erwartet.
Und in dieser Erwartung wurden zahlreiche städtische Bauten in Projekten vorgearbeitet, um den zurückkehrenden Kriegern sogleich mit lohnender Beschäftigung bei den Bauausführungen dienen zu können.4)
     Hoffmann hat mit seinem Architektenstab von bis zu 300 Mitarbeitern in diesen Jahren Enormes geleistet. Er selbst zählte über 300 einzelne Bauwerke, die unter seiner Leitung in Berlin entstanden. Er handelte stets nach dem Motto »Kunst ist Takt« und ließ sich auch durch Kritik - weder vom Kaiser noch vom Magistrat oder den Stadtverordneten - nicht von seinen Plänen und seiner Art zu bauen - das betraf auch das Bautempo - abbringen. Davon zeugen die Querelen um den Märchenbrunnen im Friedrichshain, aber auch Diskussionen um das Märkische Museum oder das Stadthaus. Ganz gleich, ob es sich um ein repräsentatives Museum oder um ein Friedhofsportal handelte, für Hoffmann galt stets die Forderung nach Qualität. Ein schlecht gearbeitetes Gesetz kann von einem klugen Juristen leicht geändert werden, eine mißlungene Skulptur mag der Bildhauer verbessern oder zerschlagen und bei einem schlechten Gemälde kann der Maler die Rückseite der Leinwand noch benutzen, schrieb Hoffmann dazu in seinen Erinnerungen. Des Architekten Werk verschwindet nicht so bald, auch kann es nicht leicht verbessert werden.
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Unabänderlich steht es an der Straße und zeigt seine Schwächen Jahre hindurch Jedem, der sie sehen will. Ja, bei großen öffentlichen Bauten mag dies sogar durch Jahrhunderte geschehen.5)
     Charakteristisch waren die Nutzbauten, die die schnell wachsende Stadt dringend benötigte. Dazu gehörten Feuerwachen, die in ganz unterschiedlichem Stil angelegt wurden, ebenso wie Badeanstalten wie die in der Oderberger Straße in Prenzlauer Berg und ein Kinderasyl sowie ein Waisenhaus. Natürlich waren das auch die Krankenhausbauten in Buch und das Rudolf-Virchow- Krankenhaus. Vergessen sollte man auch nicht den Universitätsanbau. Vor allem aber sind es die Schulbauten, mit denen Hoffmann bis heute das Stadtbild in Kreuzberg und Tiergarten, in Friedrichshain und Prenzlauer Berg, in Mitte und in Wedding prägte. Viele dieser Schulen haben den Zweiten Weltkrieg und spätere Straßensanierungen oder Umbauten überstanden. Ob Gemeindeschule oder Gymnasium, stets ging es darum, den Schülern eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. Es entstanden Schulkomplexe, die für ihre Zeit hochmodern waren und bis heute mit ihren hohen und hellen Räumen den langen Aufenthalt der Kinder erträglich gestalten. So war es nicht verwunderlich, daß nicht nur Abordnungen deutscher Architekten und Ausbildungsstätten nach Berlin kamen, um vor allem die sozialen Bauten Hoffmanns zu studieren. Das neue Berlin wurde auch zum Anziehungspunkt und Studienobjekt namhafter Architekten aus England und Frankreich, aus Österreich und den USA.
Die Menschen und ihre Stadt wuchsen in diesen Jahren enger zusammen. Trotz vieler Querelen machte sich die Erkenntnis breit, daß der alte Stadtkern und die verschiedenen Vororte und Städte im engeren Umkreis zusammengehören. Der Zweckverband Groß-Berlin von 1912, in dem sich Berlin, Charlottenburg, Lichtenberg, Neukölln, Schöneberg, Spandau, Wilmersdorf und die Kreise Niederbarnim und Teltow zusammenfanden, war ein erster Schritt in dieser Richtung. Diese Jahre bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren es, an die man später dachte, wenn man mit einer gewissen nostalgischen Verklärung von den »Friedenszeiten« sprach.

Quellen:
1 Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Berlin und Weimar 1990, S. 112 f.
2 Paul Fechter, Das zwanzigste Jahrhundert, in: Mario Krammer, Berlin im Wandel der Jahrhunderte. Eine Kulturgeschichte der deutschen Hauptstadt, Berlin 1956, S. 223
3 Ludwig Marcuse, Mein zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie, Zürich 1975, S. 17 4 Ludwig Hoffmann, Lebenserinnerungen eines Architekten, in: Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, Beiheft 10, Berlin 1983, S. 251
5 Ebenda, S. 165

Bildquelle: Michael Bienert/Erhard Senf, Berlin wird Metropole, be.bra. verlag 2000

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 4/2000
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