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Berliner Wandelbilder

Was Berlin an der Wende des Jahrhunderts - nicht ist.

Der Bär
Illustrierte Berliner Wochenschrift.
26. Jahrgang. Sonnabend, 6. Januar 1900. Nr. 1

Der Säkularwechsel ist im Leben der Zeitgenossen jedenfalls eine so vereinzelte Sache, daß er ganz aus dem Rahmen der Erfahrung herausfällt und nicht wie ein willkürlicher, eigentlich nur in unserem Kopfe existierender Zeitmesser, sondern wie ein außerordentliches Ereignis mit wunderbaren Begleiterscheinungen wirkt. Prosit Säkulum muß man natürlich ganz anders rufen, als Prosit Neujahr, für die größere Anstrengung des Organs bedarf es eines außergewöhnlichen Quantums Punsches, und was dann passieren kann, ist unberechenbar.
     Ich habe endgültig beschlossen - wenn ich nicht irre, bei Gelegenheit des ausgebliebenen Weltunterganges, den ich bestimmt erwartet hatte - mich in der Säkularnacht über nichts zu wundern. Sie steht für mich von vorn herein außerhalb des Zusammenhanges von Ursache und Wirkung. Ich kann mir z. B. ganz gut vorstellen, daß die Berolina auf dem Alexanderplatz von ihrem gefahrvoll schmalen Postament

gegenüber dem Polizeipräsidium mit dem Schlage zwölf herabsteigt, sich in der bekannten Sphinxstellung quer über die Straße legt und jeden Vorübertaumelnden bis zum ersten Hahnenkrähen mit metallisch dröhnender Stimme fragt: Wer und was bin ich?
     Auf alles Wunderbare genügend vorbereitet, steige ich furchtlos auf ihren breiten Rücken, lege meinen Arm um ihren Hals und flüstere ihr in das wohlgeformte große Ohr: Liebe Berolina, Deine Frage ist in der für Selbsterkenntnis besonders geeigneten Säkularnacht durchaus natürlich, aber thöricht. Ich weiß es von meinem ersten philosophischen Semester her, daß das wirkliche Eindringen in das Wesen der Dinge beinahe zu den Unmöglichkeiten gehört. Aber es giebt einen Umweg, der zu einem annähernd gleichwertigen Resultat führt, die Definition. Definition heißt Eingrenzung, Beschränkung, und so will ich es denn versuchen, Dir zu erklären, was Du beim Beginn des Jahres 1900 nicht bist oder noch nicht bist. Die gewaltigen Züge der liegenden Statue behielten jenen Ausdruck monumentaler Gedankenlosigkeit, den wir an ihr in ihrer gewöhnlichen Position bei Tage bemerken, aber ich hatte nun einmal ihr Ohr und gedachte, die Situation auszunutzen, selbst auf die Gefahr mangelnden Verständnisses hin.
     Also zunächst und vor allem, liebe Berolina, eine Weltstadt bist Du nicht. Es giebt zwei Typen dieser Spezies, die durch London und Paris vertreten sind.
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London hat seine Docks, Paris seine Boulevards, für die Du doch zur Geltendmachung Deiner Ansprüche unmöglich den Packhof und die Bülowstraße mit ihren Fortsetzungen, der Kleist- und Yorkstraße, ins Treffen führen kannst. Eine Weltstadt liegt entweder, wie London am Meere, oder wie die Lutetia Parisiorum - im Schlamm. Beides ist Dir trotz des großen Kanal-Projekts und wegen Deiner allgemein anerkannten Reinlichkeit versagt. In einer Weltstadt sind Weltarbeit, Weltelend und Weltlust neben einander gehäuft. Das trifft für Dich, meine liebe Berolina, nicht zu. Dir fehlen die City, die Seven Dials und der Opernball. Auch die Weltausstellung 1900 hast Du Dir entgehen lassen, und so wird Dir nichts anderes übrig bleiben, als noch ein Säkulum zu warten, bis Du Dich gleichberechtigt neben Paris und London stellen darfst. Daß Kirschner nun endlich als Oberbürgermeister bestätigt ist, ändert nichts an dieser Thatsache.
     Und dann, liebe Berolina, eine Kunststadt bist Du auch nicht! Mit Gerhard Hauptmann und Sudermann, mit Max Halbe und Otto Erich Hartleben, mit Arno Holz und Richard Dehmel hattest Du einen ganz hübschen Anlauf genommen. Aber dann ging Dir die Richtung verloren, Deine Protegés waren Dir unversehens aus der Bahn gebrochen. Hauptmann schrieb den Florian Geyer, Sudermann den Johannes, Max Halbe den Amerikafahrer; Hartleben veröffentlichte ein Goethebrevier, und Holz und Dehmel gaben das Prinzip der gereimten Ungereimtheit auf.
Es ist ein harter Schlag, wenn eine angehende Litteraturstadt ihre Richtung verliert! Was von der Litteratur gilt, läßt sich mutatis mutandis auch vom Theater sagen - Sigmund Lautenburg hatte mit der Pflege der französischen Posse den kühnen Sprung in das Ungewisse der Weltlitteratur gewagt, mit der Firma Blumenthal- Kadelburg sind wir wieder ängstlich in die lokale Beschränktheit zurückgewichen. Wenn sie sich auch bis ins Hochgebirge hinein versteigen, sie bleiben doch immer berlinisch, und das genügt nicht, um das Werden der Theaterstadt zu beschleunigen. Und nun erst die bildende Kunst! Kurz vor dem Thoresschluß des Jahrhunderts hast Du Dir erst eine Sezession angeschafft, liebe Berolina. Das war zu spät, Du hast die Konjunktur verschlafen. Man muß früher aufstehen, wenn man eine Kunststadt werden will.
     Ich hatte mich in eine Art heiligen Eifers hineingeredet und hatte noch manches auf dem Herzen. Da wandte die Sphinx-Berolina ihr ehernes Haupt über die Schulter und sah mich an, lange und schmerzensstarr, als wollte sie fragen: Ja, wer und was bin ich denn eigentlich? Mitleid krampfte mir das Herz zusammen, und ich sprach begütigende Worte.
     Laß Dich nicht verblüffen, ehrsame Stadtjungfrau! Im Grunde genommen hast Du es gar nicht nötig, vor Ablauf des kommenden Jahrhunderts etwas anderes zu werden, als Du schon bist. Deine Mauerkrone hat sich innerhalb zweier Säkula mit den Insignien der Kur-, der Königs- und der Kaiserwürde geschmückt.
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Das will schließlich auch etwas bedeuten, und der Titel der Reichshauptstadt muß eigentlich Deiner weiblichen Eitelkeit genügen. Wenn Du Dir dabei ein gut Teil Deiner märkischen Eigenart wahrst, so kann das gar nichts schaden. Was Dich lieb hat, wird in Dir eine Weltdame nicht vermissen und an Deiner soliden Hausbackenheit seine herzliche Freude haben. Wirst Du dann im Laufe der Jahrhunderte zu einer würdigen Matrone, so laß Dich diese naturgemäße Entwicklung nicht gereuen. Mögen die alten Koketten, Paris und London, um die Gunst der ganzen Welt buhlen, Du bleibst das tugendsame Hausmütterchen, geehrt und geliebt von seiner nächsten Umgebung.
     Und vor allem, liebe Berolina, werde um Himmels willen keine Kunststadt! Wir haben in Deutschland ein Elb-, ein Ilm- und ein Isar-Athen, das ist reichlich genug! Bleibe vornehm zurückhaltend. Laß die Künstler zu Dir kommen und an der täglichen, bescheidenen Tafel Platz nehmen. Lade sie nicht ein zu einem üppigen Prunkmahl, um sie später hungern zu lassen. Ehe Du sie aber rufst, schaffe Dir ein kunstverständiges und kunstliebendes Publikum, das nicht aus Blaustrümpfen, Premierentigern und Ausstellungsmardern besteht, sondern aus soliden Bürgern, die in der Kunst den rechten Lebensschmuck sehen und sie als solchen zu schätzen wissen.
Meine leisen Worte waren allmählich in ein leidenschaftliches Flüstern übergegangen:
     Und dann, liebe Berolina, muß ich Dir noch ein persönliches Geständnis machen! Seit fast dreißig Jahren bin ich Dir treu geblieben und habe Dich lieb gehabt, wie Du warst. Wenn ich bisweilen mit Dir geschmollt habe, so geschah es immer aus herzlicher Zuneigung, die ich unverändert in das neue Jahrhundert hinüber nehme.
     Verschwunden war die eherne Sphinx. Vor mit stand eine stattliche, nordische Jungfrau im Gretchenkostüm, etwa ähnlich der heiligen Gertraudt auf der Gertraudtenbrücke, die dem fahrenden Schüler den Willkommenstrunk darbietet. Kosend hatte sie den Arm um mich geschlungen und drückte mir einen Kuß auf die Stirn.
     Siehst Du, so habe ich Dich gern! Und nun wollen auch wir unser Säkularfest feiern. Komm mit mir, Du wirst es nicht bereuen!
     Ihre Augen leuchteten verheißungsvoll, und ich folgte ihr.
     Was weiter mit mir geschehen ist, weiß ich nicht. Als ich im Jahre 1900 erwachte, lag metallische Schwere über meiner Stirn, und es war mir unmöglich festzustellen, ob ich den Kopfschmerz dem ehernen Kuß der Stadtjungfrau oder der gefährlichen Mischung von Porter und Sekt zu danken hatte.
Georg Malkowsky
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 4/2000
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