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Wolfgang Helfritsch
»Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft ...«

Der Komponist Paul Lincke (1866-1946)

Vor rund 100 Jahren feierte Paul Lincke, der »Vater der Berliner Operette«, nicht nur in seiner Geburts- und Heimatstadt, sondern weit über die Kommunal- und Landesgrenzen hinaus regelrechte Triumphe. Als Berlins populärster Komponist traf er haargenau den Nerv des Publikums aus den sogenannten unteren Schichten. Zeitungsjungen und Kindermädchen pfiffen oder trällerten seine Melodien auf den Straßen und machten sie zu Ohrwürmern: »Hinterm Ofen sitzt `ne Maus«, »Schenk` mir doch ein kleines bißchen Liebe«, »Bis früh um fünfe, kleine Maus«, »Heimlich, still und leise kam die Liebe«. Die Leierkastenmänner kurbelten sich auf den Hinterhöfen schier die Arme aus den Schultern, und von den Kapellen in den zahlreichen Berliner Freiluftgaststätten, in denen weniger betuchte Familien zu volkstümlichen Klängen selbst ihren Kaffee brühen durften, wurden die eingängigen Weisen nicht weniger reichlich strapaziert. Des Kapellmeisters »Berliner Luft« avancierte sogar zu einer Art Stadthymne und

gehörte im Sportpalast und anderen hauptstädtischen Arenen zum ständigen Repertoire.
     Es erscheint wie ein Gegensatz: Trotz seiner Popularität gerade in den unteren Bevölkerungsschichten, die ihn liebevoll »Papa Lincke« nannten, legte der Komponist gesteigerten Wert auf sein Image als elegantester Dirigent Berlins. Er achtete peinlich auf eine vornehme Erscheinung, zeigte sich in der Öffentlichkeit mit elegantem Krückstock, im Smoking, mit Zylinder und in blitzenden Lackschuhen und sorgte sich um seinen korrekt hochgezwirbelten Schnurrbart.
     Als Paul Lincke am 1. Mai 1899 zur Premiere seiner »Frau Luna«, die seine beliebteste und bekannteste Operette werden und bleiben sollte, ans Dirigentenpult trat, sich stolz vor dem zahlreich erschienenen Publikum verneigte und seinen silbernen Taktstock hob, erschollen im Apollo-Varieté begeisterte Ah- und Oh-Rufe. Am altehrwürdigen »Ausstattungs- und Ballett-Theater Apollo« in der Friedrichstraße war Lincke seit 1893 zunächst als Kapellmeister auf Probe angestellt. Er hatte die wechselnden Varieté-Programme mit dem Hausorchester zu begleiten und konnte dabei seine musikalischen Phantasien ausleben. Davon machte er offensichtlich auch regen Gebrauch, denn sein mitreißender musikalischer Schwung und sein Einfühlungsvermögen in die artistischen Darbietungen brachten ihm bald die Berufung zum Ersten Kapellmeister ein.
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Wer war dieser Paul Lincke, dessen Melodien bei der besseren Gesellschaft ebenso ankamen wie beim sprichwörtlichen Mann auf der Straße?
     Ganz im Gegensatz zu Claire Waldoff, zu Otto Reutter oder zu Pinselheinrich Zille - die, häufig als Urberliner identifiziert, dennoch aus den unterschiedlichsten deutschen Landschaften nach Berlin gekommen waren - war Lincke mit echtem Spreewasser getauft. Geboren wurde er am 7. November 1866 als Karl Emil Paul Lincke im Kiez Holzgartenstraße in Berlin-Mitte, und das befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem berühmtesten aller fließenden Berliner Gewässer.

Drei Komponisten beim Skat;
von links: Hugo Hirsch, Paul Lincke und Siegfried Translateur
     Sein Vater war gelernter Maler, arbeitete als Magistratsdiener und half gelegentlich in kleineren Kapellen als Geiger aus. Offensichtlich vererbte er dem Sohn nicht nur das musikalische Talent, sondern auch den praktischen Verstand und die nicht zu unterschätzende Fähigkeit, klug mit den Obrigkeiten umzugehen.
     Die Mutter Emilie Auguste hatte nicht wenig Mühe, mit dem knappen Familienetat der Linckes auszukommen. Vor allem, als der Vater 1871 an den schwarzen Pocken starb und der Witwe außer Paul
noch einen weiteren Sohn und eine Tochter zurückließ.
     So wuchs der künftige Erfolgskomponist in einer Familie auf, in der die Sorge um das tägliche Brot an der Tagesordnung und Schmalhans Küchenmeister war. Und das Verständnis für die Sorgen und Nöte der von den Lebensumständen nicht gerade Begünstigten verließ Lincke offensichtlich auch nicht, als er im Zenit des Ruhmes und der öffentlichen Anerkennung stand und materielle Probleme längst kein Thema mehr für ihn waren.
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Schon von Kindesbeinen an zeigte Paul großes Interesse für die Musik, und wenn eine Militärkapelle auf der Straße im Gange war - und das kam bei der Vielzahl von Kasernen und Soldaten im damaligen Berlin täglich mehrmals vor -, preschte der Dreikäsehoch los und marschierte seelig lächelnd neben oder hinter der Musik her. Als er aus der Schule kam, wußte er genau: Er wollte Musiker und möglichst Militärmusiker werden.
     Und er hatte Glück, denn er fand 1880 eine Lehrstelle bei der renommierten Stadtkapelle von Wittenberge. Als Lincke 1884 nach Berlin zurückkam, erlebte er zunächst eine bittere Enttäuschung: Wegen Schmalbrüstigkeit wurde ihm die gewünschte Laufbahn als Militärmusiker verwehrt. Nachdem er sich zunächst mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten versucht und das kulturelle Klima von Rixdorf und Pankow durch seine Mitwirkung in Tanzkapellen befördert hatte, fand er im damaligen Central-Theater in der Alten Jakobstraße eine Anstellung als Fagottist. Das Central-Theater war zwar alles andere als ein exquisites Etablissement, aber hier konnten sich auch solche Berliner einen Steh- oder billigen Sitzplatz leisten, die die gehobeneren städtischen Kulturbollwerke ihr ganzes Leben lang nur von außen bewundern durften.
     Dann konnte Lincke als Korrepetitor ans Ostende-Theater wechseln. Hier lernte er die bildhübsche und temperamentvolle, gerade 16jährige Soubrette Anna Müller aus dem Prenzlauer Berg kennen,
der er nach den Vorstellungen abkürzende Heimwege durch den lauschigen Friedrichshain wies. Vielleicht hat er auf diesen nächtlichen Schleichpfaden auch die Anstöße für sein »Glühwürmchen-Idyll« empfangen, das er später in seiner Operette »Lysistrata« verarbeitete und das die Berliner zeitweise bis zur Heiserkeit rekapitulierten. Selbst die berühmte russische Tänzerin Anna Pawlowa tanzte nach dem Glühwürmchen- Motiv. Als Lincke 1902 die »Lysistrata« vorlegte, war die Ehe mit Anna allerdings schon ein Jahr geschieden.
     Am Ostende-Theater begegnete Paul Lincke auch seinem späteren Librettisten und Freund Heinz Bolten-Baeckers, der dort als Schauspieler angestellt war. Mit ihm und einem älteren Cellisten kloppte er in seinem Stammcafé in der Großen Frankfurter manchen deftigen Skat. Einmal, im November 1889, sprang Lincke mitten im Spiel plötzlich auf, eilte zum Zeitungsständer, riß ein Stück vom Rand der »Berliner Abendpost« ab und schrieb Noten darauf. Bolten-Baeckers wurde neugierig, und Paul mußte ihm auf dem Kneipenklavier seinen Einfall vorspielen. Daraufhin riß sein Skatkumpan ebenfalls ein Stück Zeitungsrand ab und schrieb genau auf Linckes Melodie den Text:
Ach Schaffner, lieber Schaffner, was haben Sie getan? Sie hab'n mich nach Berlin gebracht, ich sollt' nach Amsterdam!
     Und diesen Gassenhauer sang ein paar Wochen später ganz Berlin.
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1887 wurde Lincke Kapellmeister am Königsstädtischen Theater am Alexanderplatz. In dieser Zeit waren seine musikalische Vielseitigkeit und sein kreatives Können besonders stark gefordert. Er komponierte Lieder und aktuelle Couplets, und im nachfolgenden Engagement am Parodie-Theater am Moritzplatz bewies er dazu sein Gespür für musikalische Parodien auf bekannte Opern.
     Linckes zündende Melodien und seine musikalische Flexibilität hatten sich mit der Zeit weit über Deutschland hinaus herumgesprochen und -gesungen. So kam schließlich ein zweijähriges Engagement in Paris zustande, wo er das berühmte Orchester des Théâtre Folies Bergères dirigierte. Lincke reizte das musikalische Fluidum der Metropole an der Seine, und auch die Pariserinnen - zumindest einige - hatten es ihm offensichtlich angetan. Und so kam es zu einem Vorfall, der für Schlagzeilen in der Boulevardpresse des Nachbarlandes sorgte. Seine Angetraute, die er einst im Berliner Friedrichshain nicht schutzlos der Dämmerung überlassen wollte, erschien eines Tages ohne Vorankündigung in einer Vorstellung, schlich sich zur Orchesterbrüstung und tippte ihrem Dirigentengatten von hinten zart auf die befrackte Schulter. Und als der sich erwartungsvoll umschaute, verpaßte sie ihm vor dem Publikum eine laut schallende Ohrfeige. Lincke bewies auch in dieser schwierigen Situation Berliner Schlagfertigkeit. Er verbeugte sich galant und setzte sein Dirigat fort.
Die verständnisvollen Pariser sollen wie wild applaudiert haben.
     Lange hielt es Lincke in Paris allerdings nicht. Er strebte zurück in sein Spreeathen, wo sein Librettist bereits mit neuen Ideen und Vorschlägen ungeduldig wartete. Berlin hatte sich in diesen Jahren mehr und mehr zur Weltstadt gemausert. Eine richtige Vergnügungsindustrie und ein Theater nach dem anderen waren um die Friedrichstraße herum entstanden, der Konkurrenzkampf der Bühnen verlangte nach aktuellen Stoffen und schmissigen Melodien.
     Hinzu kam, daß die Gründerjahrzehnte einen beachtlichen industriellen und technischen Fortschritt bewirkten. Die ersten Automobile holperten über die dafür nicht ausgestatteten Straßen, elektrische Bahnen nahmen quietschend ihren Betrieb auf. Die Ära der tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten wurde eingeleitet, im Brandenburgischen bezahlte der Flugpionier Otto Lilienthal seinen Wagemut mit dem Leben.
     Das war das Umfeld für die Träume von Flügen auf den Mond und auf andere ferne Planeten und für die Ballon-Konstruktionen des Berliner Tüftlers Fritze Steppke, einer Hauptfigur der bis in die Gegenwart hinein immer wieder auferstehenden Lincke-Operette »Frau Luna«. Da segelten also im Jahre 1899, erfunden von Bolten-Baeckers und musikalisch beflügelt vom Kompositeur Lincke, quirlige Berliner auf das silberne Gestirn und brachten das halbe Himmelreich in Bewegung.
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»Schlösser, die im Monde liegen«, »Lose, muntre Lieder«, »Wenn die Sonne schlafen geht« oder »Laßt den Kopf nicht hängen« bereicherten das Klanghorn des Berliner Volksgesangs. Die »Frau Luna« blieb das Flaggschiff des Linckeschen Operettenschaffens. Abgesehen von Ouvertüren und einzelnen Titeln aus anderen Werke, so aus der »Lysistrata«, aus »Im Reiche des Indra« oder aus der »Liebesinsel«, die auf das spreeumspülte Eiland in Treptow gemünzt war, gerieten andere Werke schnell in Vergessenheit oder erlebten ihre Uraufführung auf Bühnen fernab von Berlin. Selbst die »Berliner Luft«, die 1904 noch in Berlin Premiere hatte konnte nicht annähernd an den Publikumserfolg der Mondgöttin anknüpfen.
     Nach dem Ersten Weltkrieg wurde es still um den Meister. Lincke komponierte mit Ausnahme des »Liebestraumes« kein Bühnenwerk mehr. Weder mit dem Tango noch mit dem Foxtrott konnte er sich anfreunden. Er nahm gelegentlich Gastdirigate wahr und kümmerte sich um den von ihm gegründeten »Apollo- Verlag«.
     Lincke wurde Zeuge der »goldenen« Zwanziger und der braunen Dreißiger und mußte schließlich mit ansehen, wie ihm gut bekannte Komponistenkollegen und Operettenstars über Nacht Deutschland verließen, um ihr Leben zu retten: Victor und Friedrich Hollaender, Rudolf Nelson, Jean Gilbert, Robert Stolz und Emmerich Kálmán, Fritzi Massary, Richard Tauber und Paul Graetz.
Lincke, der inzwischen auf die 70 zuging, hielt sich den Machthabern gegenüber zurück. Auch das war sicherlich einer der Gründe dafür, daß seine »Frau Luna« wieder auf die Bühne kam und er 1941 zum Berliner Ehrenbürger ernannt wurde.
     1943 wurde der Komponist eingeladen, in Marienbad noch einmal seine Erfolgsoperette zu dirigieren. Er folgte dem Ruf, und das war sein Glück, denn kaum hatte er Berlin verlassen, gingen seine Wohnung und sein Verlagsgebäude im Bombenhagel unter.
     Das Kriegsende verschlug ihn nach Hahnenklee im Harz. Hier bereitete er sich trotz seines hohen Alters und seiner angeschlagenen Gesundheit auf eine neue Tournee vor. Selbst einen neuen Frack hatte er in Auftrag gegeben. Mit letzter Kraft betrieb Lincke seine Rückkehr in die zerbombte Stadt Berlin, kämpfte um Wohnraum und die Zuzugsgenehmigung. Nach vielen Bemühungen traf am 4.September 1946 die Wohnungszuweisung ein - einen Tag, nachdem der Komponist im Krankenhaus verstorben war. Auf dem Friedhof von Hahnenklee fand er seine letzte Ruhestätte.
     Wenn das Publikum nicht will, schrieb Paul Lincke einmal, können tausend Kapellen täglich das gleiche Lied spielen - es wird nie ein Schlager daraus werden. Beim Vater der Berliner Operette wollte das Publikum.

Bildquelle: Archiv Autor

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 4/2000
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