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Bernhard Meyer
Spanische Grippe kam in drei Schüben

Das Jahr 1918 ging als ein politisch bewegtes und Europa veränderndes Jahr in die Geschichte ein. Der von Berlin aus gewollte und mitdirigierte Weltkrieg verfiel in Agonie. Das Deutsche Reich drohte durch Kriegsmüdigkeit und die Lebensmittelrationierung zu paralysieren. Der Krieg fand im November sein offizielles Ende. Die deutschen Arbeiter und Soldaten erhoben sich, beseitigten die Monarchie und jubelten der neuen Republik und ihren Repräsentanten zu. Deutschland und seine Reichshauptstadt wurden in jenem Jahr von einer verheerenden Grippe (Influenza)- Pandemie heimgesucht, die als »Spanische Grippe« bezeichnet wurde.
     Die Anfang 1918 in Spanien aufgekommene Grippewelle erfaßte alle Erdteile und in Europa die kriegführenden Parteien aller Fronten wie auch die neutralen Länder.1)
     Experten vermuten, daß es sich um die wahrscheinlich opferreichste Pandemie (gleichzeitige weltweite Ausdehnung einer Infektionskrankheit) seit Mitte des 14. Jahrhunderts handelte, als die Pest reiche Ernte hielt.

Schätzungen und Hochrechnungen zufolge raffte die Spanische Grippe 1918/19 in aller Welt etwa 15 bis 25 Millionen Menschen dahin. Zum Vergleich: Der Erste Weltkrieg forderte von allen am Krieg beteiligten Ländern zehn Millionen Todesopfer und 20 Millionen Verletzte. Indien bekam mit fünf bis zwölf Millionen Todesopfern die Gefährlichkeit der Infektionskranheit besonders zu spüren. In den USA überlebten 500000 Menschen die Infektion nicht, in Großbritannien waren 112 000, in Frankreich 96000 und in Italien 500000 Opfer zu beklagen.
     Im Deutschen Reich erkrankten 15 Prozent der Bevölkerung, das waren zehn Millionen Bürger. Von den Infizierten starben 186 000 Menschen im Jahre 1918; rechnet man die Opfer von 1919 und 1920 hinzu, so ergibt sich eine Zahl von knapp 300000 Gestorbenen. Dieser Zahl stehen 1,8 Millionen gefallene deutsche Soldaten im Ersten Weltkrieg gegenüber, zu denen noch mindestens 750000 an Unterernährung Gestorbene gezählt werden müssen. Der Aderlaß zwischen 1910 und 1925 führte zu einer Verringerung junger Menschen in Deutschland um ca. 25 Prozent.
     Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die Grippe von Rußland aus verbreitet und erstreckte sich auf 40 Prozent der Weltbevölkerung und auf einen ebensolchen Anteil der deutschen Städtebevölkerung. In Preußen starben damals 34000 Menschen, im Deutschen Reich etwa 50000 Menschen.
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Behörden und Bürger wogen sich durch die seit Jahren nun schon anhaltenden Erfolgsmeldungen der jungen Fachdisziplin Bakteriologie über die Eindämmung und Beherrschung von Infektionskrankheiten und durch eine immer weiter verbesserte Hygiene in Sicherheit. Sie rechneten nicht, daß mit der Wucht einer mittelalterlichen Seuche die ganze Erde zu Beginn des 20 Jahrhunderts überzogen werden könnte.2)
     Die Grippe galt zu Beginn des 20. Jahrhunderts als eine gut erforschte Infektionskrankheit, da die Daten der letzten Grippe- Pandemie von 1889 bis 1892 umfassend ausgewertet wurden. Richard Pfeiffer entdeckte 1892 den Erreger (»Pfeiffer- Bazillus«) der Grippe, auf dessen Grundlage die Viren mit drei Subtypen und mannigfaltigen Untertypen und Varianten gefunden wurden. Im Gegensatz zu anderen Infektionskrankheiten wie Diphtherie und Pocken konnte allerdings wegen der vielen Erregertypen keine übergreifende, dauerhafte Immunität der Bevölkerung erreicht werden, so daß die Anfälligkeit großer Populationen nach wie vor nicht ausgeschlossen werden konnte. Da die Inkubationszeit meistens nur zwei Tage beträgt und die Übertragung von Mensch zu Mensch durch Tröpfcheninfektion erfolgt, waren alle Bedingungen für eine rasche Ausbreitung gegeben, zumal die Anfangssymptome einer einfachen Erkältung gleichen und häufig unterschätzt wurden. Den Pandemien liegt meist eine Variante des Virus-Typs A zugrunde.
Das Deutsche Reich erlebte die Grippe- Pandemie in drei Schüben. Im Frühjahr 1918 verzeichneten die Gesundheitsbehörden Berlins noch einen relativ harmlosen Beginn. An jährliche Grippewellen gewöhnt, die alle zwei bis drei Jahre Epidemieausmaße annahmen, gab man sich der Vorstellung einer unvermeidbaren, bald vorübergehenden Infektion der oberen Luftwege hin. Dies um so mehr, weil Grippe im größeren Umfange eher in den letzten Wintermonaten, nicht aber im Frühjahr zu erwarten war. Zum anderen war der Krieg im vierten Jahr, und die Sorgen wuchsen. Zwar schwiegen seit dem 3. März die Waffen an der Ostfront durch den Frieden mit Rußland, besiegelt in Brest-Litowsk. An der Westfront aber wurde am 21. März die große deutsche Frühjahrsoffensive gestartet, die für die Bevölkerung im Mai zur Kürzung der Brotration auf täglich kärgliche 130 Gramm führte.
     Der zweite Schub kam im Sommer über die Bevölkerung und die Soldaten an der Front. Im Juli 1918 waren 500000 Soldaten von der Grippeinfektion erfaßt, von denen über 80000 in Lazaretten aufgenommen werden mußten. Dieses Ausmaß an Erkrankungen konnte normalerweise nicht ohne Einfluß auf die von der deutschen Heeresleitung kommandierten Kampfhandlungen bleiben. Durch die weite Streuung der Infektion, von der auch die Soldaten auf der anderen Seite erfaßt wurden, kam es zwar nicht zu Zusammenbrüchen von ganzen Frontabschnitten, wohl aber zu stabsmäßigen Überlegungen hinsichtlich der Strategie und der kurzfristigen Planung.
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In seinen Memoiren hielt General Erich von Ludendorff (1865-1937), Chef der deutschen Kriegführung, diesbezüglich fest: Die Grippe griff überall stark um sich, ganz besonders schwer wurde die Heeresgruppe Kronprinz Ruprecht betroffen. Es war für mich eine ernste Beschäftigung, jeden Morgen von den Chefs die großen Zahlen von Grippefällen zu hören und ihre Klagen über die Schwäche der Truppen, falls der Engländer nun doch angriffe. Auch die Grippefälle vergingen. Sie ließen oft eine größere Schwäche zurück, als ärztlicherseits angenommen wurde.3) Weder Ludendorff noch andere Militärs und Politiker gingen allerdings so weit, den Zusammenbruch der deutschen Westfront am 8. August auf die Dezimierung und Aushöhlung der Truppen durch die Grippe zurückzuführen.
     Der heftigste Grippeschub setzte im September ein und währte bis Mitte November. Es erkrankte vor allem die Altersgruppe der 20bis 40jährigen, was allerdings für bisherige Grippeverläufe ungewöhnlich war, denn die normalerweise Gefährdetsten waren Kinder und alte Menschen. Mitte Oktober schloß man Schulen, Theater und Kirchen in vielen Großstädten, um so der Ausbreitung vorzubeugen. Es wäre aus Sicht der Berliner Behörden eine günstige Gelegenheit gewesen, wegen der hohen Ansteckungsgefahr politische Kundgebungen und Demonstrationen bis auf weiteres zu untersagen.
Dies geschah allerdings nicht und so versammelten sich z. B. am 23.Oktober mehrere tausend Menschen am Anhalter Bahnhof, um den aus der Haft in Luckau entlassenen Karl Liebknecht (1871-1919) zu begrüßen.
     Die hungernde Bevölkerung, die vielen durchreisenden kriegsmüden Soldaten, das Desaster an den Fronten, die umstürzlerischen Meldungen aus Rußland und die hektische Betriebsamkeit der deutschen Politiker - all das verwandelte Berlin in einen brodelnden Kessel. Die in den ersten Novembertagen zum Siedepunkt strebenden politischen Konflikte und die damit verbundene Massenbewegung, der Generalstreik am 9. November, die Abdankung Wilhelms II. und die Ausrufung der Republik durch Scheidemann (1865-1939) und Liebknecht, die zahlreichen Zusammenkünfte der Arbeiter- und Soldatenräte - all das vollzog sich auf dem Höhepunkt der Grippewelle in Berlin. Die historische Beschreibung der deutschen Novemberrevolution und des zum Kriegsende führenden Waffenstillstands am 11. November läßt die Spanische Grippe und deren Auswirkungen völlig unberücksichtigt.
     Unerklärlicherweise steht neben der umfänglichen klinischen Aufarbeitung durch Brugsch/Kraus und andere und der sozialmedizinischen durch Möllers keine Statistik des Grippegeschehens für Berlin zur Verfügung. Das amtliche Statistische Jahrbuch der Stadt für das Jahr 1918 weist zwar Zahlen zu einigen Infektionskrankheiten aus, wobei Grippe/ Influenza völlig fehlt.4)
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Die Spanische Grippe war durch eine schwere Symptomatik und eine relativ hohe Sterblichkeit gekennzeichnet. Etwa ein Prozent der Erkrankten verstarb an den Folgen der Infektion, zumal die Ärzte weitgehend machtlos waren. Da Impfstoffe noch nicht zur Verfügung standen, die bei der vorletzten Welle erworbene Immunität nur kurzzeitig wirkte und die Grippeviren auch seinerzeit in stets neuen Varianten auftraten, blieb den Gesundheitsbehörden nur die althergebrachte Empfehlung, eine Maske zur Abwehr der durch Tröpfchen übertragenen Erreger anzulegen. Die Grippevariante von 1918 begann gewöhnlich plötzlich mit hohem Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen sowie Schüttelfrost, wodurch sich schnell Schwäche, Ermüdung und Depression beim Betroffenen einstellten. Häufig kam es gleichzeitig zu Lungenentzündungen, deren Schwere oft ebenfalls zum Tode führte. Für die meisten Zeitgenossen kaum erkennbar, herrschten in Deutschland noch zwei weitere Epidemien - die Kinderlähmung und die infektiöse Gehirnhautentzündung (australische Enzephalitis).
     Im Deutschen Reich befiel die Krankheit eine durch den Krieg weitgehend unterernährte Bevölkerung. Allein im letzten Kriegsjahr starben 300000 Menschen an deren Folgen. Auch ein Wiederansteigen der Tuberkulose war durch die schlechte Ernährung bedingt. Sie forderte nun 23 Todesopfer unter 10000 Einwohnern, im letzten Friedensjahr waren es 14 gewesen.
Zusammengerechnet gab es in allen kriegführenden Ländern sieben Millionen Kriegsgefangene. Sie waren meist in Lagern untergebracht, in denen sich Infektionskrankheiten leicht ausbreiten konnten. Der Hygieniker Bernhard Möllers vom Reichsgesundheitsamt in Berlin faßte als Kenner des Geschehens das Ausmaß so zusammen: Die gewaltige Grippeepidemie des Jahres 1918, welche die ganze Welt heimsuchte, (stellte) an Kranken- und Todesopfern selbst die gefürchtetsten Kriegsseuchen weitaus in den Schatten ...5)

Quellen:
1 Vgl. Manfred Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, Augsburg 1999, S. 270
2 Hans Thalmann, Die Grippeepidemie 1918/19 in Zürich, Zürich 1968, S. 5 3 Erich von Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen, 1914-1918, Berlin 1919, S. 540
4 Vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin 34. Jg, (1915 bis 1919), Hrg. H. Silbergleit, Berlin 1920 S. 153 ff.
5 Bernhard Möllers, Gesundheitswesen und Wohlfahrtspflege im Deutschen Reiche, Berlin 1923, S. 369

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 4/2000
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