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Bernhard Meyer
Eine Gartenstadt für Kranke

1906 wurde das Virchow-Krankenhaus eröffnet

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verlor das Krankenhaus im Deutschen Reich endgültig den Geruch einer Arme-Leute- Verwahranstalt. Der naturwissenschaftlich bedingte Fortschritt der Medizin, allmählich erwachendes Gesundheitsbewußtsein und vermehrte soziale Leistungen durch die allmählich zur Wirkung kommende Sozialversicherung ermöglichten es der arbeitenden Bevölkerung, Krankenhausbehandlungen gezielter und sozial verträglicher in Anspruch zu nehmen. Auch durch die ständig wachsende Wohnbevölkerung geriet der Magistrat von Berlin zunehmend in Zugzwang, diesem Trend durch gesundheitsdienliche städtische Zweckbauten angemessener Größenordnung und Ausstattung zu entsprechen.
     Die Stadt verfügte zur Jahrhundertwende lediglich über drei städtische Einrichtungen - das Krankenhaus im Friedrichshain (1874), das Krankenhaus Moabit (1875) und das Krankenhaus Am Urban (1890). Zudem nutzte der Magistrat 300 Belegbetten in der Charité gegen Bezahlung und verwies des weiteren die Bevölkerung auf konfessionelle Häuser

sowie zahlreiche, zumeist kleinere Privatkrankenhäuser.
     Im Norden Berlins, auf dem Wedding, dort, wo sich in den letzten Jahrzehnten Großbetriebe wie die Schering AG, Osram und die AEG niedergelassen hatten und sich folgerichtig Arbeiter ansiedelten, fehlte ein in seinen Dimensionen großflächig angelegtes und in seinen Strukturen modernes städtisches Versorgungskrankenhaus. Andererseits war der Wedding keine stationäre Wüste, denn es existierten bereits das Kaiser- und- Kaiserin-Friedrich- Kinderkrankenhaus (das erste seiner Art in Berlin, 1890) in der Reinickendorfer Straße, die evangelischen Häuser Lazarus (1873) in der Bernauer Straße und das Paul-Gerhardt- Stift. 1914 siedelte noch das Jüdische Krankenhaus in die Iranische Straße um. Und Stadtbaurat Ludwig Hoffmann (1852-1932) gestaltete aus hygienischen Gründen eigenhändig das Stadtbad Wedding, eine Oase für jene zahlreichen Einwohner, die in ihren Mietwohnungen kein Bad hatten.
     Seit der Eröffnung des baulich seinerzeit auch international anerkannten Friedrichshainer Krankenhauses war immerhin mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen. Die Stadtoberen mehrerer Generationen taten sich beim Bau städtischer Gesundheitseinrichtungen immer wieder schwer, die noch gültige preußische Regulatur von 1835 mit Leben zu erfüllen, wonach Städte über 5000 Einwohner eine ausreichende Zahl Heil- und Pflegeanstalten in eigener Regie zu unterhalten haben.
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Bisher brauchten sie stets mehrere Anläufe und viele Jahre, um die Gelder für ein städtisches Krankenhaus zu bewilligen. In Friedrichshain dauerte es von der Idee bis zur Einweihung immerhin 22 Jahre, im Wedding 17 Jahre. Dringend wurde der Krankenhausneubau um die Jahrhundertwende zweifellos durch den schnellen Aufstieg des Berliner Gemeindewesens zu einer 1,9-Millionen- Stadt (1900). Den medizinischen Zwängen einer derartigen Entwicklung konnten sich der Magistrat, der Staat Preußen und die umliegenden Städte auf Dauer nicht entziehen. So begann eine Krankenhausbautätigkeit, wie sie die Reichshauptstadt und die angrenzenden Gemeinden bis dato noch nicht erlebten: Bau der II.Irrenanstalt in Herzberge 1893 und der III.Irrenanstalt mit 40 Gebäuden sowie des Genesungsheims mit 30 Gebäuden und einem Alte-Leute- Heim mit 21 Gebäuden 1907 in Buch, von 1897 bis 1914 der Um- und Neubau der Charité mit dem Pathologischen Museum 1899, der Nervenklinik 1901, der Kinderklinik 1903 und der Chirurgischen Klinik 1904 sowie den beiden Inneren Kliniken 1907 bis 1912 und der modernsten Universitätszahnklinik Europas 1912, die Krankenhäuser in Neukölln 1909, in Lichtenberg (Oskar-Ziethen- Krankenhaus) 1912, in Charlottenburg- Westend 1904, Köpenick 1914, Pankow 1906, das Humboldt- Krankenhaus Reinickendorf 1906 und das Auguste-Viktoria- Krankenhaus Schöneberg 1906.
Virchow-Krankenhaus
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Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges verfügte die Stadt Berlin über sechs städtische Krankenhäuser. Der zeitgenössische Kenner des Berliner Gesundheitswesens um 1900, der Arzt Fritz Munk, hielt deshalb fest, mit dem Bau allgemeiner und spezieller Krankenhäuser wurde in Berlin im ersten Dezennium des 20.Jahrhunderts das nachgeholt, was das 19.Jahrhundert versäumt hatte.1)
     Für den Standort Wedding setzte sich vor allem Rudolf Virchow (1821-1901) ein, der an der kommunalen Beschlußfassung wie der Konzipierung baulicher Details und medizinhygienischer Notwendigkeiten als Stadtverordneter von Berlin an allen bisherigen städtischen Häusern maßgeblich mitgewirkt hatte und der vor allem den notwendigen politischen Druck für die Umsetzung erzeugen konnte. Man entschied sich für eine 27,5 ha umfassende baum- und strauchlose Ackerfläche, einen ehemaligen Artillerieexerzierplatz, der von der 1897 angelegten Föhrer Straße und der Amrumer Straße (seit 1899) eingefaßt wurde. Der Haupteingang sollte auf den Augustenburger Platz münden, der 1901 entstand. Als Architekt übernahm Ludwig Hoffmann die Planung der letztlich 57 Einzelgebäude. Unter seiner Leitung wurde mit Baubeginn 1901 und einem Kostenaufwand von 19,1 Millionen Reichsmark das teuerste und zugleich modernste Krankenhaus Berlins errichtet.
Die Bauzeit zog sich über fünf Jahre hin, doch als die Konturen sichtbar wurden, stellte sich allerorts freudige Genugtuung ein, so daß die Einweihung zu einem außerordentlichen Ereignis werden sollte. Den 17. September 1906 erkor man als frühestmöglichen Termin der Einweihung. Dieses Datum akzeptierte allerdings Kaiser Wilhelm II. nicht, da zu diesem Zeitpunkt für ihn noch wichtigeres anlag: die Manöver in Schlesien. So einigte man sich auf eine Besichtigung, die der Kaiser am 2. September vornahm. Bis dahin erlebte er im Jahre 1906 mit seiner Silberhochzeit (27. Februar) und der Eröffnung des Teltowkanals (2. Juni) schon angenehme Ereignisse, ehe am 16. Oktober der Hauptmann von Köpenick sein Militär- und Beamtentum vor der Welt glossierte und am 27. Oktober sein Freund Philipp Fürst zu Eulenburg und Hertefeld (1847-1921) sowie der Berliner Stadtkommandant Kuno Graf von Moltke (1847-1923) der Homosexualität bezichtigt wurden, was für damalige Verhältnisse einem skandalösem Verhalten gleichkam. Schließlich beschränkte ihm der Reichstag am 13. Dezember noch die Mittel für die Fortsetzung des Hottentotten-Krieges in Deutsch- Südwestafrika, so daß er das Parlament kurzerhand auflöste. Der Kaiser mußte also die guten Gelegenheiten nutzen, um der Monarchie den Glanz zu erhalten.
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Da bot sich der Besuch in einem hochmodernen Krankenhaus im proletarischen Umfeld als Ausweis landesväterlicher Fürsorge geradezu an. Und so lobte der Kaiser bei seinem Besuch Architekten und Bauleute und stiftete für die Kapelle des Krankenhauses einen kostbaren Altarbehang.
     Dem Kaiser und seinem Gefolge präsentierte sich die Krönung der Bauten Ludwig Hoffmanns, eine »Gartenstadt für Kranke«. Immerhin blieben zwei Drittel des Geländes unbebaut, so daß sie gärtnerisch genutzt werden konnten. Dem Architekten gelang eine Verbindung zwischen historisierenden barocken Formen und der Strenge des Klassizismus. Virchow setzte sich mit seiner Auffassung durch, wiederum den im Berliner Krankenhauswesen bewährten Pavillonstil zu nutzen. Dadurch gelang eine Auflockerung des gesamten Komplexes, die mit der 425 m langen, auf die Kapelle führenden Mittelpromenade ihren optischen Höhepunkt fand. Die Promenade vermittelte sofort einen fertigen Eindruck, da sie mit den stattlich gewachsenen Kastanien des Tiergartens bepflanzt wurde, die bei der Aufstellung der Denkmäler für die Hohenzollern überzählig wurden. Mehr als jemals zuvor erfuhr das Bestreben der Erbauer Erfüllung, bereits von der äußeren Gestalt und der Anlage der Gebäude her den einem Krankenhaus anhaftenden Schrecken zu nehmen. Es war allerdings auch das letzte Pavillonkrankenhaus ohne Gangverbindung zwischen den einzelnen Gebäuden.
Das Virchow- Krankenhaus verfügte bei seiner Einweihung über 2000 Betten, wobei für jedes Bett ein Kostenaufwand von 9000 Mark entstand. In jedem Pavillon befanden sich zwei große Krankensäle mit je 20 Betten. Die Bettenstrukturierung erfolgte unter Berücksichtigung der in der Arbeiterbevölkerung des Wedding besonders verbreiteten drei Volkskrankheiten Tuberkulose, Alkoholismus und Syphilis. Über die größte Bettenzahl verfügte dennoch die Chirurgie mit 564 Betten, dann aber gefolgt von den Kliniken für Haut- und Geschlechtskrankheiten mit insgesamt 520 Betten, die als einzige in einem mehrstöckigen Haus einquartiert wurden, und der Inneren Klinik mit 500 Betten. Bemerkenswert die Infektionsabteilung mit sieben Pavillons und 178 Betten, darunter ein Haus für Diphtheriekranke, ein Quarantänehaus und ein eigenes Obduktionshaus. Zu den zeitgenössischen Besonderheiten gehörten das Badehaus mit der Physiotherapie (»Medikomechanisches Institut«), das Röntgenhaus und das Haus für »Unruhig Kranke«. Auch die technischen Anlagen wie die Dampfkessel, das Elektrizitätswerk, das Wasserwerk und die Wäscherei wiesen einen hohen Standard auf. Diese Wirtschaftsgebäude wurden so angelegt, daß sie keine Berührung mit den üblichen Krankenwegen besaßen. Außer Sichtweite der Pavillons bewegten sich auch die Trauerzüge zur Kapelle.
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Schon 1908 konnte das Krankenhaus durch eine Schwesternschule komplettiert werden, die jährlich 60 junge Mädchen aufnahm.
     Als Ausdruck sich entwickelnder sozialer Leistungen wurden für unverheiratete Pfleger und Krankenschwestern sowie technische Mitarbeiter 700 Wohnungen gebaut. Heirateten Schwestern oder Wärter, so wurden sie entlassen. Für verheiratete Ärzte waren 25 Wohnungen vorgesehen. Eine Schwester erhielt nach der Gehaltsordnung von 1907/08 jährlich 420 bis 600 Mark bei freier Unterkunft und Verpflegung. Schwesternschülerinnen bekamen ein monatliches Taschengeld von 10 bis 15 Mark. Die Oberschwester wurde mit 600, die Oberin mit 1200 Mark im Jahr vergütet. Assistenzärzte konnten über ein Jahresverdienst von 1200 bis 1500 Mark verfügen, während Chefärzte bis zu 7000 Mark verdienten. Ärztinnen befanden sich damals nicht auf den Gehaltslisten. Insgesamt sorgten sich 700 Mitarbeiter verschiedenster Berufe um das Wohl der Kranken, für die ein Tag im Krankenhaus 2,50 Mark kostete, der von der Sozialversicherung oder der Armenkasse der Stadt getragen wurde.
     Die offizielle Einweihung des Krankenhauses fand am 17. September in Anwesenheit des Oberbürgermeisters Martin Kirschner (1842-1912), des Stadtverordnetenvorstehers und Arztes Paul Langerhans (1820-1909), des Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg von Trott zu Solz (1855-1928) und zahlreicher Honoratioren statt.
Über den Namen bestand schon lange Klarheit, denn noch zu Lebzeiten von Virchow hatte die Stadtverordnetenversammlung anläßlich seines 80. Geburtstages im Oktober 1901 beschlossen, seinen Namen mit dieser von ihm initiierten Gesundheitseinrichtung fortleben zu lassen. Seine Witwe, Rose Virchow (1832-1913), und zwei Söhne, so der Charité- Anatom Hans Virchow (1852-1940), nahmen an der Feierlichkeit teil. Die 74jährige Rose schrieb unter dem Eindruck des Erlebten an Ludwig Hoffmann: Von der Besichtigung kehrte ich tiefbewegten Herzens nach Hause zurück in dem Bewußtsein, daß das Virchow-Krankenhaus das herrlichste Denkmal, auch ganz im Sinne des Verstorbenen bleiben werde.2)
     Obwohl sich der Kaiser über den Bau ausgesprochen wohlwollend äußerte und die Gesundheitseinrichtung internationale Aufmerksamkeit erregte, widerspiegelte sich diese Anerkennung nicht in der Wertigkeit der Orden, die anläßlich der Einweihung verteilt wurden. Dem hochgelobten Ludwig Hoffmann überreichte man lediglich den Kronenorden III. Klasse. Die »Vossische Zeitung« empörte sich in ihrem Bericht über die Einweihung dermaßen, daß sie von einem peinlichen Befremden sprach, für einen Künstler ersten Ranges einen Orden auszuwählen, der ansonsten jedwedem Geheimen Rechnungs- und Kanzleirat in den Ministerien angeheftet würde.3) Zimmer- und Maurerpoliere wurden mit allgemeinen Ehrenzeichen bedacht.
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Bevor am 1. Oktober die ersten Patienten die Krankensäle bezogen, bekamen die Berliner Gelegenheit, die neue Sehenswürdigkeit im Norden Berlins zu bewundern. Die Presse berichtete von Völkerwanderungen: Vom frühen Vormittag an wälzte sich ein Menschenstrom heran. Alle in die Nähe des Krankenhauses führenden Straßenbahnen waren überfüllt, es gab einen ununterbrochenen Korso von Droschken, Automobilen und Equipagen, wie ihn dieser Stadtteil niemals zuvor erlebt hat.4) Die Belegung begann mit der Übernahme von 70 Geschlechtskranken aus dem Urban- Krankenhaus. Sie fanden Aufnahme in den beiden Kliniken für Haut- und Geschlechtskrankheiten, denen die Dermatologen Wilhelm Wechselmann (1860-?) und Abraham Buschke (1868-1941) vorstanden. Das Virchow- Krankenhaus konnte sich rühmen, für die Erstbesetzung der Kliniken einige namhafte Berliner Ärzte gewonnen zu haben: die Chirurgen Otto Hermes (1864-1924) und Moritz Borchardt (1868-1948), den Internisten Alfred Goldscheider (1858-1935), den Gynäkologen Alfred Koblanck (1863-1928) sowie den Pathologen David von Hanselmann (1858-1920). Mehrheitlich wirkten sie längere Zeit an der Charité, wo ihnen wegen der begrenzten Anzahl von Lehrstühlen und Oberarztstellen auf Dauer keine adäquate Tätigkeit angeboten werden konnte. So trifft Munk berechtigt die Feststellung, das Virchow- Krankenhaus stelle gewissermaßen eine eigene klinische Fakultät dar.5) Damit prophezeite Munk dem Virchow- Krankenhaus schon bei der Gründung eine akademische Zukunft, die nach dem Zweiten Weltkrieg im gespaltenen Berlin tatsächlich offizielle Formen in den Strukturen der Medizinischen Fakultät der Freien Universität annahm. Sparmaßnahmen des Landes Berlin im akademischen Bereich seit 1990 wurden nach kontroversen und langwierigen Debatten zu dem vom Senat angestrebten Ergebnis geführt, das Rudolf-Virchow- Krankenhaus mit der Charité im Rahmen der Humboldt- Universität in einer Medizinischen Fakultät zusammenzuführen. Die genaue Bezeichnung für das Weddinger Krankenhaus lautet seit dem Zusammenschluß am 1. Januar 1998 nunmehr: Charité, Medizinische Fakultät der Humboldt- Universität zu Berlin, Campus Virchow-Klinikum.

Quellen:
1 Fritz Munk, Das medizinische Berlin um die Jahrhundertwende, München, Berlin 1956, S. 152
2 Hermann Schmitz, Ludwig Hoffmanns Wohlfahrtsbauten der Stadt Berlin, Berlin 1927, S. 13; siehe auch: Rudolf-Virchow- Krankenhaus 1906-1956. Festschrift zum 50. Jahrestag, Berlin 1956, S. 90
3 »Vossische Zeitung« Nr. 436 vom 18. September 1906
4 »Berliner Lokalanzeiger« vom 1. Oktober 1906
5 Fritz Munk, a. a. O., S. 150

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 4/2000
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