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Ruth Freydank
Weit über die Mauern dieser kleinen Insel

Berlin als Theaterhauptstadt/ Die Entwicklung in den Westsektoren

Mit dem offiziellen Rückzug der Alliierten aus den Geschäften der Stadt und der Einführung der D-Mark hatte sich die unter dem unmittelbaren Einfluß der Nachkriegsverhältnisse entstandene Theaterlandschaft zu wandeln begonnen. Die allgemeine Geldverknappung im Osten wie im Westen wirkte sich auf die Besucherzahlen der Theater aus. Zahlreiche der nach dem Kriege entstandenen Bühnen verschwanden. Unmittelbar nach der Währungsreform gab es in West-Berlin drei Theater, die sich in öffentlicher Hand befanden: das Hebbel-Theater, das Schloßpark- Theater und die Städtische Oper. Das Renaissance- Theater, die Komödie, die Tribüne und das Theater am Kurfürstendamm, Bühnen, die nach der Verordnung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda vom 31. Dezember 1942 von Goebbels in staatlichen Besitz umgewandelt worden waren, wurden reprivatisiert. Das Theater am Kurfürstendamm stand von 1949 bis 1963 unter der Verwaltung der Freien Volksbühne e. V.

Erich Alexander Winds, als Intendant in Wuppertal unmittelbar beteiligter Zeitzeuge, charakterisierte die damalige Lage der Theater: »Die mit dem 1. Mai 1949 einsetzende Gewerbefreiheit führte zur Restauration der Kapitalverhältnisse im westdeutschen und Westberliner Theaterbetrieb, in deren Folge zum Theatersterben, dem Verlust vieler Arbeitsplätze sowie zum Starunwesen und zu sinnloser Unterhaltungskunst auf westlichen Theatern«, wie Henning Müller in seiner Dissertation, Freie Universität Berlin 1976, zitiert. In West-Berlin kam es in dieser Situation im Dezember 1950 zur Gründung der »Berliner Künstlerhilfe«, einer Initiative, die die Beschäftigung der vielen arbeitslos gewordenen Künstler organisieren half. Die Politiker waren entschlossen, ihre Stadthälfte zum »Bollwerk für Freiheit und Demokratie« auszubauen. Berlin war das kulturelle Zentrum Deutschlands. Der westliche Teil sollte diesen gesamtdeutschen Anspruch durch seine kulturelle Leistungsstärke unter Beweis stellen. So fanden die seit Anfang der fünfziger Jahre nach Berlin fließenden Bundeshilfen und die Mittel aus internationalen Fonds zu einem Gutteil den Weg in den Auf- und Ausbau kultureller Einrichtungen.
     Im Zeichen dieser auf die Wiedervereinigung, bei gleichzeitiger Integration in das westliche Bündnis, orientierten Kulturpolitik stand 1950 der Beschluß zum Wiederaufbau des Schiller- Theaters.
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Das Haus in der Charlottenburger Bismarckstraße war bei einem Luftangriff am 23. November 1943 fast völlig zerstört worden. Anläßlich der Eröffnung am 6. September 1951 sprach der damalige Regierende Bürgermeister Ernst Reuter die Bedeutung dieser Aufgabe an, »die weit über die Mauern dieser kleinen Insel hinausreicht, die ausstrahlen soll nach Westen und nach Osten, und die durch ihre geistige Kraft und Leistung dazu beitragen möge, das Band zwischen Osten und Westen unseres immer noch zerrissenen Vaterlandes allen Gewalten, die uns bedrohen, zum Trotz immer fester zu knüpfen«. Dieses Haus sollte eine zentrale Stätte »europäischer Kunst und echten Theaterlebens« im Sinne eines »echten Nationaltheaters« werden, das »dem Ruf und der Berufung der Spree-Metropole« gerecht werden konnte. Die großzügige Förderung des Schiller- Theaters zwang an anderer Stelle zu Sparmaßnahmen.
Paul Esser, Götz George und Walther Suessenguth in »Wilhelm Tell« von Friedrich Schiller, Schiller-Theater, 6. 9. 1951; Foto: Abraham Pisarek

 

So wurde das Hebbel-Theater, dessen geographische Lage im Arbeiterbezirk Kreuzberg in unmittelbarer Nähe zur Sektorengrenze wenig Attraktivität besaß, ungeachtet der Proteste von Vertretern des Westberliner Kulturlebens, die sich für eine Erhaltung dieses Theaters in städtischer Hand aussprachen, zu Beginn der Spielzeit 1951/52 privatisiert.1)
     Als Leiter für das Haus in Charlottenburg hatte man sich zunächst um Gustaf Gründgens bemüht. Dieser war von 1934 bis 1944 Generalintendant des
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Schauspielhauses am Gendarmenmarkt gewesen und empfahl sich als der prominenteste Kandidat für dieses Amt. Nach seiner Entlassung aus einem sowjetischen Internierungslager hatte Gründgens seine künstlerische Tätigkeit in Berlin wieder aufgenommen. Neben schauspielerischen Aufgaben führte er auch wieder Regie. Seine Inszenierung des »Schatten« von Jewgeni Schwarz im April 1947 in den Kammerspielen wurde von den Kritikern hoch gelobt. Fritz Erpenbeck bezeichnete sie als den »unstreitbar stärksten künstlerischen Erfolg« seit »Wiederbeginn des Berliner Theaterlebens«. Gründgens jedoch lehnte ab und zog es vor, die Leitung des Theaters seiner Heimatstadt Düsseldorf zu übernehmen. Die Entscheidung des Senats fiel dann für Boleslav Barlog. Barlog war 1945 mit der Leitung des Schloßpark- Theaters beauftragt worden und hatte sich mit erfolgreichen Aufführungen als Garant für eine publikumswirksame Theaterarbeit empfohlen. 1951 trat er die Intendanz des Schiller-Theaters an. Daneben führte er seine Arbeit am Schloßpark- Theater fort, zu der 1959 die Schiller- Theater- Werkstatt hinzukam. Einer, der die fast sechsundzwanzig Jahre währende Tätigkeit Barlogs beobachtend begleitet hat, war der Kritiker Friedrich Luft. Im Vorwort zu »25 Jahre Theater in Berlin« schreibt er 1972:
     »Barlog hat hausväterlich Theater gemacht. Sein Spielplan war kaum literarisch
ausgepicht oder auf Novitäten versessen.
     Er hat ein bürgerliches Publikum, ohne es durch Ambitionen zu strapazieren, bedient. Er selber, ein Regisseur des Handfesten, vornehmlich der ausgefeilten oder kräftigen Komödie oder gar Farce, hat es verstanden, ein treues und verläßliches Ensemble um sich zu sammeln und es bei seinem Hause zu halten. Hier sind aber immerhin zuerst auf einer deutschen Bühne auch Beckett und Albee und Harold Pinter zu Wort gekommen. Hier sind ziemlich alle Anouilhs und Giraudoux' der fünfziger Jahre amüsant und effektiv gespielt worden, meist mit Martin Held in den Hauptrollen. Günter Grass gehörte zu Barlogs Hausautoren, und Peter Weiss hat man am Schiller-Theater und in dessen Werkstatt-Theater zuerst entdeckt und gespielt.«
     Anläßlich des 25jährigen Jubiläums würdigte der damalige Senator für Wissenschaft und Kunst, Werner Stein, Barlogs Tätigkeit als einen entscheidenden Beitrag zur »Erhaltung der kulturellen Hauptstadtfunktion des westlichen Teils der geteilten Stadt«. Die Berliner Kritik hingegen glaubte, im Verlaufe von Barlogs Wirken auf Elemente der künstlerischen Erstarrung und eine fehlende Programmatik hinweisen zu müssen, die Friedrich Luft als »restaurative Züge« bezeichnete.
     Den bei Barlog als Mangel empfundenen Mut zum zeitkritischen Theater demonstrierte in West-Berlin ein Gast.
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Fritz Kortner, einst gefeierter Schauspieler auf den Berliner Bühnen der Weimarer Republik, Jude und Emigrant, war im Frühjahr 1950 zu einem dreimonatigen Gastspiel an das Hebbel-Theater verpflichtet worden. Kortner wiederholte hier die mit Erfolg in München und Hamburg gelaufene Inszenierung von Strindbergs »Der Vater«, spielte unter der Regie von Helmut Käutner in Arthur Millers »Tod eines Handlungsreisenden« und inszenierte später selbst Schillers »Don Carlos«. Die Premiere am 3. Dezember 1950 »entfachte den ersten großen Theaterskandal nach dem Krieg ... Hatte man im Fall des Miller-Stücks dem Theater noch die Aufgabe, erregendes Forum, >Augenöffner<, Menetekel und Protest zu sein, zugestanden, so schlug diese Bereitschaft bei vielen Zuschauern und Kritikern in empörte Ablehnung um, als Kortner Schillers >Don Carlos< inszenierte«, schreibt Klaus Völker in seinem Buch über Kortner aus dem Jahre 1987. Kortner selbst erblickte in den ihm entgegengeschlagenen Protesten vor allem antijüdische Ressentiments und brach das Gastspiel vorzeitig ab. Die Theaterkritikerin Dora Fehling schrieb, die Ereignisse kommentierend: »Spricht es gegen Kortner, daß Berlin seit fünf Tagen über seine >Don Carlos<- Inszenierung spricht? Es spricht einzig und allein für ihn. Was ist es, daß diese in allen politischen Dingen so elastische und leicht zu begeisternde Stadt im Künstlerischen so lahmt? Sie verliert in Kortner wieder eine große Chance. Ausgebügeltes Gleich- und Mittelmaß - die wenigen schönen Ausnahmen geben nur die Regel: Ist es das, was eine Stadt braucht, die als die aufgeschlossenste der Welt galt?«
     Kortners Beurteilung des politischen Klimas in der Stadt fand eine fatale Bestätigung. Ein fast zeitgleich stattfindendes Gastspiel des Wiener Burgtheaters mit Ibsens »John Gabriel Borgmann«, in dem Werner Krauß die Titelrolle spielte, führte zu heftigen Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit. Wegen seiner Mitwirkung in dem antisemitischen Tendenzfilm »Jud Süß« war Krauß in den Augen aller Nazi-Gegner zum Prototyp des Künstlers geworden, der aus Opportunismus und Karrierismus sein überragendes Können verbrecherischen Zielen zur Verfügung zu stellen bereit ist. Während sich im Saal des Kurfürstendamm- Theaters Krauß-Gegner und Krauß- Befürworter in Rededuellen stritten, demonstrierte draußen eine erregte Menge gegen die Fortsetzung des Gastspiels und erhob den Vorwurf gegen den Berliner Senat, mit diesem Gastspiel Tendenzen einer restaurativen Politik Vorschub geleistet zu haben. Friedrich Luft bezeichnete diese durch ein Theaterereignis ausgelöste Auseinandersetzung auf dem Kurfürstendamm als die »erste des später mit politischen Demonstrationen leidig gepflasterten Boulevards«.
     Die mit der politischen Abspaltung sich abzeichnende Entwicklung veränderte grundlegend die gesellschaftlichen Bedingungen für eine
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geistige Erneuerung des Theaters, wie es in der denkwürdigen Nathan-Inszenierung am 7. September 1945 den Anschein gehabt hatte. Unser Land wurde nicht nur politisch, es wurde auch ideologisch in zwei Lager gespalten. Das Theater geriet in den Sog des jeweiligen Propagandaapparates. Es hatte mit seinen Mitteln die herrschende Ideologie zu repräsentieren. Diese Stellvertreterfunktion ließ nicht oder nur in dosiertem Umfang zu, daß das Theater sich mit den inneren Widersprüchen seiner Gesellschaft beschäftigte. Vielmehr hatte es Wirkung nach außen zu zeigen.
     Berlin wurde zum Zentrum dieser Konfrontation. Die Theater beider Seiten hatten ihren Part dabei zu spielen. Mit dem Bekenntnis zu den geistigen Traditionen des Abendlandes gingen die Theater West-Berlins daran, den dringenden Nachholbedarf der Deutschen nach der dramatischen Literatur des westlichen Auslandes aufzuholen. Ästhetisch orientierte man sich an den künstlerischen Leistungen des Theaters der Weimarer Zeit, auch an der Theaterarbeit von Gründgens und Hilpert, und setzte damit die Traditionen eines spätbürgerlichen Bildungstheaters fort. Obwohl einzelne herausragende Inszenierungen zustandekamen und große schauspielerische Einzelleistungen die Aufmerksamkeit auf Berlin lenkten,
fehlte diesem Theater der Atem der Großstadt. Im sicheren Schoß eines hochsubventionierten Theaterbetriebes geriet West-Berlins Theaterlandschaft in Gefahr, »uninteressant und einseitig« zu werden, wie Friedrich Luft hervorhob.

Anmerkungen:
1 Seit 1936 waren das Hebbel-Theater und das Theater am Nollendorfplatz der Intendanz der Volksbühne zugeordnet worden. Der erzwungene Rücktritt des Vorstandes des Vereins Freie Volksbühne im Februar 1935 hatte deren Haus an das Reich, vertreten durch das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, fallen lassen. Mit ihrer Unterstellung unter die Intendanz der Volksbühne waren damit auch Hebbel-Theater und Theater am Nollendorfplatz durch einen Verwaltungsakt in staatlichen Besitz übernommen.
Bildquelle: Stadtmuseum Berlin

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 3/2000
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