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Ursula Goldenbaum/ Alexandra Kosenina (Hg.)
Berliner Aufklärung

Kulturwissenschaftliche Studien Band 1
Wehrhahn Verlag, Hannover 1999

Die Beschäftigung mit der Aufklärung als einer spezifischen geistigen Bewegung im 18. Jahrhundert hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Durch die Diskussionen um die Postmoderne und deren scharfe Attacken gegen die Aufklärung zeitweise in die Defensive gedrängt, wächst das wissenschaftliche Interesse an dieser Zeit wieder stärker an. Das ist um so bedeutungsvoller, als wir es hier mit einer europäischen Entwicklungsetappe zu tun haben, die viele wichtige geistig-kulturelle Aspekte in den europäischen Einigungsprozeß einbringen kann, der heute oft nur oder vorwiegend aus politischer und ökonomischer Sicht betrachtet wird.
     Es ist erfreulich, daß in diesem Zusammenhang auch die Berliner Aufklärung ins Blickfeld rückt. Die Berlinische Monatsschrift hat seit ihren ersten Heften 1992 eines ihrer wichtigen Anliegen darin gesehen, das Ansehen gerade dieses Teiles der Aufklärung in Deutschland zu behandeln und aufzuwerten. Denn allzu lange haben sich die Vorurteile gehalten, wie sie vor allem von Repräsentanten der Klassik und Romantik vorgetragen worden waren: daß es sich bei den Berliner Aufklärern um bloße »Popularphilosophen« handele, daß diese Spätaufklärung als »Aufkläricht« abgetan wurde.
     Die kulturwissenschaftlichen Studien zur Berliner Aufklärung, die hier mit einem ersten Band vorliegen, wollen zu einer Schriftenreihe werden, in der die Entwicklung der Wissenschaften und der Künste, der Institutionen und des Buchhandels im Berlin und Brandenburg des 18. Jahrhunderts untersucht werden.

»Die wiedererlangte geistige und politische Freiheit und Bedeutung Berlins vor Ablauf des 20. Jahrhunderts ist ein guter Anlaß, die vielleicht glanzvollste, aber auch weit aus dem Bewußtsein entschwundene Epoche dieser Hauptstadt im Zeitalter der Aufklärung nach und nach historisch besser zu erschließen«, heißt es im Vorwort der Herausgeberinnen. Den Auftakt machen zehn Beiträge von Wissenschaftlern aus Berlin, Rostock und den USA. Im Mittelpunkt stehen Untersuchungen zu Persönlichkeiten der Berliner Aufklärung wie Lessing und Mylius, Sulzer und Moehsen, Moritz und Bendavid. Darüber hinaus gibt es einen interessanten Beitrag von Peter Weber über den Berliner Gesangbuchstreit von 1781 sowie von Claudia Albert einen Überblick über Prostitution und Bordellwesen, wie es sich in zeitgenössischen Reiseberichten über Berlin darstellte. Alle Artikel zeugen von Detailkenntnis der Autoren, nutzen neue Quellen und belegen akribisch die einzelnen Aussagen.
     Das gilt für die Darstellung des Briefwechsels zwischen dem Pädagogen Johann Julius Hecker und G. A. Francke - einem Sohn des Hallischen Pietisten August Hermann Francke -, in der Friedrich-Franz Mentzel den spezifischen Einfluß des Pietismus in der Bildung und Erziehung Berlins nachweist. Das wird auch deutlich in dem faktenreichen Bericht von Johan van der Zande über Leben und Schaffen des Schweizer Philosophen Johann Georg Sulzer. Als ein Beispiel aufgeklärter Medizinhistoriographie interpretiert Hans-Uwe Lammel die Analyse von Johann Carl Wilhelm Moehsen über die schillernde Figur des Leonhard Thurneisser. Und Yvonne Pauly unternimmt den Versuch, auf der Grundlage ihrer Kenntnisse über Karl Philipp Moritz zu rekonstruieren, was er in seinen Vorlesungen über Antike und Moderne gesagt haben könnte. Christof Wingertszahn informiert über bisher unbekannte Autographen von Moritz. Und Liliane Weissberg analysiert Bendavids Selbstbiographie.
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In dem leider sehr knappen Vorwort der beiden Herausgeberinnen, in dem die Aufklärung in Berlin skizziert wird, kommt es zu einigen wenigen Ungereimtheiten. So heißt es etwas überschwenglich, daß die »deutschsprachige Aufklärung in Berlin seit Ende der 40er Jahre ihre eigentliche Blüte« erlebt und daß die »Allgemeine deutsche Bibliothek« von Friedrich Nicolai »für Jahrzehnte zur richtungsweisenden Instanz der Berliner Aufklärung« wurde (S. 8), während doch aber vorher die zwischen 1783 und 1796 erscheinende »Berlinische Monatsschrift« zum »Zentralorgan der Berliner Aufklärung« (S. 7) erhoben wird. Auch daß die Berliner Mittwochsgesellschaft zu einer Geheimgesellschaft gemacht wird, scheint übertrieben. Und die Einschätzung, wonach die Aufklärung in Berlin derart etabliert war, daß sie die Wöllnersche antiaufklärerische Politik überstehen konnte, ist fraglich, löste sich doch in dieser Zeit die Mittwochsgesellschaft auf; und die »Berlinische Monatsschrift« stellte gerade wegen des Drucks von oben ihr Erscheinen ein.
     Diese Wertungen im Vorwort stehen auch im Widerspruch zum Beitrag von Anneliese Ego (»Nicolaiismus am Beispiel der >Arzneygelahrtheit<«), in dem noch prononcierter von der »Allgemeinen deutschen Bibliothek« behauptet wird, daß sie die Berliner Aufklärung geschaffen habe, dann aber eingeschätzt wird, daß die Berliner Aufklärung bereits Anfang der 80er Jahre ein »auslaufendes Modell« gewesen sei (vgl. S. 134).
     Vielleicht sollte in einem zweiten Band die Frage diskutiert werden, wie denn die Berliner Aufklärung zeitlich einzuordnen ist, welcher Platz den sogenannten Spätaufklärern um die »Berlinische Monatsschrift« und die Mittwochsgesellschaft zusteht und wie das Verhältnis der Berliner Aufklärung zu den anderen Zentren der Aufklärung in Deutschland einzuschätzen ist.
     Für alle jene, die an der Berlingeschichte interessiert sind, wird die weitere Bearbeitung der Berliner
Aufklärung noch viele neue Erkentnisse und Entdeckungen bringen. Insofern ist es wünschenswert, daß dem Band 1 bald neue Arbeiten folgen und sich die »Berliner Aufklärung« zu einer langlebigen Schriftenreihe entwickelt.
Eberhard Fromm

 

Kleines historisches Ortslexikon Bezirk Weißensee von Berlin

Teil 3: Zeittafel zur Geschichte des Ortsteils Weißensee, Herausgeber Weißenseer Heimatfreunde e.V., Berlin 1998

Der fleißige Heimatverein des Nordostberliner Verwaltungsbezirks erfreut die interessierten Einwohner desselben in regelmäßigen Abständen mit Publikationen zur Ortsgeschichte. U.W. begann die Serie 1994 mit Teil 1 des »Kleinen historischen Ortslexikons«, das Daten zu Wirtschaft und Verwaltung des Ortes Weißensee bis in die Gegenwart enthielt; er wurde gefolgt von Teil 2, der im Folgejahr vorgestellt wurde und Auskunft über Flächen, Einwohnerzahl und Bebauung gab. 1996 brachten die Heimatfreunde eine kleine Biographie des preußischen Beamten Carl Gottlob von Nüßler heraus, der von 1745 bis 1776 als Rittergutsbesitzer von Weißensee fungierte (vgl. die Rezension in BM 12/1996). 1997 erfreute der Verein seine Mitglieder und Freunde mit dem Nachdruck des Kapitels »Weißensee« aus dem im Erscheinungsjahr 1892 als eine Art Standardwerk angesehenen Werk »Rund um Berlin. Unsere Vororte und ihre Zukunft« von Johannes Bloch.
     Nun wurde also unter gleichzeitiger Ankündigung von Teil 4 der dritte Teil des Ortslexikons vorgelegt:

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Er liefert eine Chronik für die Zeit vom Paläolithikum bis Mai 1945 (der Leser geht nicht fehl in der Vermutung, daß der angekündigte nächste Teil zeitlich an dieses Jahr anknüpfen und bis in die Gegenwart führen soll ...) Diese Chronik basiert für die Zeit bis 1905 auf der damals publizierten ersten Ortsgeschichte von Alexander Giertz und kann danach auf Arbeiten von Bruno H. Bürgel, Gustav Berg, Günther Nitschke und Joachim Bennewitz, zuletzt auch auf Arbeiten des Leiters des Weißenseer Stadtmusums, Rainer Kolitsch, und des langjährigen Archivars des Kirchenkreises Weißensee, Heinz Günther, zurückgreifen. Wenn sie so konzentrierten Zugang zu verstreuten und nur unter manchen Schwierigkeiten beschaffbaren einzelnen Arbeiten verschafft - und damit schon erst einmal zu begrüßen ist - wird der Wert der Veröffentlichung noch erhöht durch die Ergebnisse der jahrelangen Forschungen von Rainer Kubatzki, bei denen er sich in umfangreiche Aktenbestände der Gemeindebehörden einzulesen hatte. Ergänzt wurde die so entstandene Faktensammlung noch durch das Einfließenlassen von Erkenntnissen aus der mündlichen Befragung älterer Einwohner durch Barbara Müller, die besonders aus dem Vierteljahrhundert von 1920 bis 1945 manche wertvolle Erinnerung festhalten konnte - und Gott sei Dank nicht auf die verinnerlichten Erinnerungslücken hereingefallen ist, die andernorts (z. B. in Oberschöneweide) das erstaunliche Geschichtsbild zuwege gebracht haben, daß es vor und nach 1933 Nazis allenfalls in allen anderen Familien, aber nie in der eigenen gegeben habe. Endlich wird auch einmal nüchtern festgehalten, daß im Gegensatz zu der nach 1945 kolportierten Legende von der gewaltigen Wirkung der »Bekennenden Kirche« in den Berliner Kirchenkreisen - also auch in dem von Weißensee - die »Deutschen Christen« während der NS-Zeit eindeutig dominierten. Im Ergebnis liegt eine chronikalische Zusammenstellung vor, die abseits der ganz großen Politik viele Einblicke in Alltagsleben und Alltagsquerelen in manchen Kriegs- und vielen Friedenszeiten vermittelt. Wie herrlich eindrucksvoll kann man das Hin und Her in bezug auf die Zusammenlegung von Gutsbezirk Weißensee (seit 1880 Neu- Weißensee) und Dorfgemeinde Weißensee in nüchternen Daten widergespiegelt sehen und muß dabei natürlich an hitzige Streitereien angesichts der Kreisreform von 1994 im Land Brandenburg denken (keineswegs an die Berliner Verwaltungsreform, die im Verhältnis dazu durch Nüchternheit geprägt scheint!) ... Selbst aus den bloßen Daten weht dem Leser die böswillige Blockierung der vielfachen Bemühungen des seit 1905 vereinten Weißensee (1910 ein Dorf mit über 45000 Einwohnern, Straßenbahnen, Gasanstalt, Elektrizitätswerk, Amtsgericht und Stadthalle!) um Erlangung der Stadtrechte durch die preußische Bürokratie wie ein kalter Hauch an, der den verdienstvollen Gemeindebaurat James Bühring schließlich 1915 resigniert ein Angebot aus Leipzig annehmen ließ; und wie plastisch kann man sich vorstellen, daß interne Unstimmigkeiten in der Gemeindeverwaltung den Abgang des engagierten Mannes durch Forderungen an den Scheidenden mit häßlichen Ärgernissen verzierten! Der Bettelbrief von sieben Beamten der Gemeindeverwaltung, die im Oktober 1915 darüber klagen, daß ihre Familien angesichts der kriegsbedingten Teuerung geradezu Hunger leiden - während zwei Wochen später die (endlich!!) eingetroffene herbeigewünschte Garnison in Gestalt von deren Offizieren bei einem Liebesmahl mit Fasanensuppe, Kalbsrücken, Steinbutt und Masthuhn traktiert wird -, illustriert besser als manche statistisch untersetzte soziologische Untersuchung, was denn an der deutschen »Schicksalsgemeinschaft« angesichts des für den Ersten Weltkrieg deklarierten Burgfriedens wirklich dran war. Sehr zu loben sind die vielen Daten beigegebenen Kommentare, die Hintergründe,
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Zusammenhänge und weitere Entwicklungen darlegen und so die Fakten zusätzlich in Prozesse eingliedern. Dem ausdrücklich begründeten Verzicht auf Quellenangaben kann man bei einer Publikation von explizit populärwissenschaftlichem Charakter ohne Einschränkung zustimmen.
     Über kleinere Fehler und etliche Ungereimtheiten (z. B.: warum heißt es bis 1905 bei etlichen Daten »anno«, bei anderen nicht?) kann guten Gewissens hinweggesehen werden. Aber die Diskrepanz zum Termin der Umbenennung des Haltepunkts bzw. Bahnhofs Weißensee in »Greifswalder Straße« bedarf dann doch eines milden Tadels: Auf S. 51 erfolgt die Umbenennung »nach 1920«, auf S. 97 richtig und exakt »1946« - wenn man es also richtig wußte, warum nennen die Autoren auf S. 51 ein allenfalls schwammiges Datum? Und bei einem Datum ist der Rezensent regelrecht irritiert: Er wird (S. 40) als mündlicher Gewährsmann für einen Vorgang im Jahr 1848 benannt, der die erste deutsche Klassengewerkschaft »Gutenbergbund« tangiert. Anruf oder Fax hätten genügt, und den Autoren wäre der Fakt plus genauem Datum zugegangen: Der Erste Kongreß des »Gutenbergbundes«, der am 30. September und 1. Oktober 1849 in Berlin getagt hatte, dann aber von der Polizei verboten worden war, kam am 2. Oktober zu seiner Schlußsitzung in Weißensee zusammen, wo er das Bundesstatut beschloß und seinen definitiven Zentralvorstand wählte. Nachlesen kann man das im Kongreßprotokoll in dem Wochenblatt »Gutenberg. Organ für das Gesamtinteresse der Buchdrucker und Schriftgießer Deutschlands«, Nr.41/42 vom 13. 10. 1849 im Landesarchiv Berlin/ Stadtarchiv, wo der komplette »Gutenberg« unter der Signatur Nr. 11 380 vorliegt. Gibt so im Einzelfall die Nichtbeachtung des »Gutenberg« Anlaß zu Kritik, so ist im weiteren Sinne das offenbare Außerachtlassen des »Amtsblatts für den Regierungsbezirk Potsdam« für die Jahre 1816 bis 1919 zu rügen, dessen penible (allerdings zeitaufwendige) Durchsicht zweifellos zusätzliche Daten für Weißensee zu liefern vermag.
Das als Hinweis zur weiteren Eruierung; übrigens ehrt es die Autoren, daß sie sich nicht scheuen, mehrmals auf Forschungsdesiderata hinzuweisen und weitere Sucharbeit zu versprechen. Manche Angabe wäre aber auch schon im Vorliegenden exakter zu bestimmen gewesen - so kann die summarische Angabe »1915« für die Belegung der Stadthalle durch Flüchtlinge aus Ostpreußen unschwer näher bestimmt werden durch »August 1914/März 1915«, denn nur in dieser Zeit waren ostpreußische Flüchtlinge unterzubringen. Nach der Winterschlacht bei den Masurischen Seen strömten sie in ihre wieder befreite Heimat zurück!
     Der Streit um das Jahr, in dem die Königchaussee (heute Teil der Berliner Allee) ihren Namen erhielt, wird durch die Zeitangabe 1910 (S. 170) um eine weitere Variante bereichert; man möchte hoffen, daß es sich um einen Druckfehler (für 1810 ?? für 1880 ??) handelt. Um weiteren Spekulationen auf diesem Feld zu begegnen, wäre eine intensive Auswertung nicht nur des schon angeführten Amtsblatts, sondern auch des »Niederbarnimer Kreisblatts«, der »Niederbarnimer Zeitung« und allen verfügbaren Kartenmaterials zu empfehlen.
     Der Vertrieb der Publikation erfolgt sowohl über den Verein Weißenseer Heimatfreunde, Parkstr. 9, 13086 Berlin, als auch über das Stadtgeschichtliche Museum, Pistoriusstr. 8, 13086 Berlin. Der geringe Preis von 7,- DM ist nur möglich angesichts der finanziellen Unterstützung durch zwei Sponsoren, bei denen sich Autoren und Herausgeber auf der allerletzten Seite ihres Werks sicherlich mit Recht bedanken.
Kurt Wernicke
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Enno Kaufhold
Berliner Interieurs

Photographien von Waldemar Titzenthaler
Nicolaische Verlagsbuchhandlung Beuermann GmbH, Berlin 1999

»Im Verhältnis zu der Größe des Zimmers waren die Möbel nicht zahlreich. Der runde Tisch mit den dünnen, geraden und leicht mit Gold ornamentierten Beinen stand nicht vor dem Sofa, sondern an der entgegengesetzten Wand, dem kleinen Harmonium gegenüber, auf dessen Deckel der Flötenbehälter lag. Außer den regelmäßig an den Wänden verteilten, steifen Armstühlen gab es nur noch einen kleinen Nähtisch am Fenster und, dem Sofa gegenüber, einen zerbrechlichen LuxusSekretär, bedeckt mit Nippes.
     Durch eine Glastür, den Fenstern gegenüber, blickte man in das Halbdunkel einer Säulenhalle hinaus, während sich linker Hand vom Eintretenden die hohe, weiße Flügeltür zum Speisesaale befand. An der anderen Wand aber knisterte, in einer halbkreisförmigen Nische und hinter einer kunstvoll durchbrochenen Tür aus blankem Schmiedeeisen, der Ofen.«
     Thomas Mann begann seine >Buddenbrooks<, über mehrere Seiten des ersten Kapitels verteilt, mit der ausführlichen Beschreibung der einzelnen Bestandteile des Hauses in der Lübecker Mengstraße, und gerade die Schilderung des »Landschaftszimmers« war es, die dem Rezensenten in den Sinn kam, als er sich in ein Buch vertiefte, das mit seinem Titel und seinem Umschlagbild Interesse geweckt hatte. Wie auch mit dem Namen des Fotografen, gehörte dieser doch neben F. Albert Schwartz und Max Missmann zu den Repräsentanten der BerlinFotografie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.

Eine Bildersammlung aus einer vergangenen Zeit tut sich auf. So vergangen, daß man ihre Existenz kaum zu glauben vermag, wenn man die Innenansichten Berliner Wohnungen betrachtet, die Waldemar Titzenthaler, den man bisher eigentlich nur als Schilderer Berliner Exterieurs kannte, für eine (damals) bekannte Frauenzeitschrift schuf. Eine vage Beschreibung für ein Blatt, das sich schon mit seinem Namen - DIE DAME - einer festen Klientel verpflichtet sah und daraus folgernd die abgebildeten Räumlichkeiten, Stil und Lebensweise begrenzter Personenkreise wiederzugeben hatten. Industrielle, Bankiers, Schauspielerinnen, Maler, Musiker, Architekten und neben anderen ein - noch 1925 - »Kaiserlicher« Gesandter waren es daher auch, die ihre Wohnungen für die Darstellung der ars vivendi der zumeist in Grunewald, Steglitz oder Schmargendorf Lebenden zur Verfügung stellten. Über 20 Jahre lief die fast schon als Serie zu bezeichnende Folge der Wohnungsdarstellungen, dabei Ende der Monarchie, Revolutionstage und weite Teile der Weimarer Republik einschließend.
     Fast nur an einer Stelle kommt dabei die Moderne ins Bild, dargestellt durch die Wohnung in einem 1919 errichteten Siedlungshaus in Wilmersdorf. Dessen Bewohner, der für den UllsteinVerlag tätige Kurt Szafranski, schrieb 1921 in einem Artikel über das »Kleinsiedlerhaus als Künstlerheim«: »Daß also auch mit einfachen Mitteln Siedlungsräume geschmackvoll auszustatten sind, beweist dieses kleine Häuschen. Man muß allerdings den Mut haben, auf Überflüssiges verzichten zu können und all den alten Plunder an Nippes, Draperien, Vorhängen, Sofatroddeln usw. draußen lassen« (Hausrat. Eine Monatsschrift Heft 9/1921). Titzenthaler hatte seinerseits den Mut, die geradezu einfachen, jeder Schnörkel und schwülstiger Übertreibungen aus wilhelminischer Zeit baren Einrichtungen in diesem Haus in die gleiche Darstellungsweise zu ordnen wie die anderen mit den Accessoirs,
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   114   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
die das gehobene Wohnumfeld dieser Zeit beherrschten. Er hatte inzwischen auch die in der Anfangszeit vorherrschende Einbeziehung der Bewohner in die Bildkomposition verlassen, die zumeist anstelle einer lebendigen Wiedergabe des »Wohnens im Heim« auch mehr Staffage dargestellt hatte. Statt dessen gab es nur noch Interieurfotos. Was man, wenigstens wegen des Bildes mit den Töchtern des Geheimrates Dernburg (Seite 41 und Schutzumschlag), bedauern muß. Dieses stellt die beiden jungen Damen, nicht zuletzt wegen ihrer Kleidung, in eine Situation, die das Leben in einer solchen Wohnung klar erscheinen läßt. Klarer und wahrhaftiger als die nicht selten überladenen und doch wohl mehr der Repräsentation oder Museumsähnlichkeit als der Wohnlichkeit dienenden Salons und Fluchten vieler der anderen dargestellten Häuser. Wobei es nicht einmal der Existenz eigener Häuser bedurfte, auch eine betont als »Mietwohnung« deklarierte hebt sich nicht sonderlich von mehreren anderen ab.
     Trotzdem: Das Buch soll offensichtlich nicht etwa eine nostalgische Verklärung dieser Vergangenheit fördern, die in ihren wesentlichen Teilen zuerst zwischen 1933 und 1943, dann folgerichtig in den Jahren 1943, 1944 und 1945 unterging. Das Glossar gibt in vielfältiger Weise Auskunft darüber, auch wenn die sicherlich nicht nur am heutigen Kapelle Ufer nach Kriegsende verbliebenen Ruinen ausgespart werden und daher der Verlust durch die Folgen des Jahres 1933 nicht noch deutlicher werden kann. Der Autor, promovierter Kunstwissenschaftler, Soziologe, Fotograf (im Waschzettel immer mit ph geschrieben, wie auch das ganze Buch den soliden Duft der vorreformierten deutschen Sprache verbreiten darf) bietet von der Vielseitigkeit der Sicht auf das Thema wie durch sein Geburtsjahr durchaus die Gewähr dafür, daß er vor reinen Sentiments geschützt ist und die Leser ebenfalls davor zu bewahren vermag. Das Buch in seiner Gesamtheit ist ein bewundernswert fleißig zusammengetragenes
Kompendium und zeigt lobenswert, daß Bildbände durchaus wissenschaftlichen Ansprüchen genügen dürfen. Und es enthält durch die Sicht des Autors auf gesellschaftliche Bereiche und Prozesse der behandelten Zeiten, sachkundig geschrieben in einer klaren und unprätentiösen Sprache, viel Wissenswertes für jeden Leser. Das hebt dieses Buch weit hinaus über die heute so gern verlegten Hochglanzwerke, die nur Bilderbücher sein wollen und sollen. Es versöhnt dann auch ein wenig mit dem Preis, der eigentlich mehr den Eigentümern der abgebildeten Wohnräume angemessen zu sein scheint denn dem Geldbeutel des potentiellen Käufers. Aber, es ist schließlich auch erstklassig in seiner Gesamtausstattung, und 112 Abbildungen auf 144 Seiten im Format von immerhin 30,5 x 29 cm wollen bezahlt sein.
     Gut ist, daß Kaufhold zwar auf die bekanntberüchtigten Ergebnisse der von der Berliner Allgemeinen Ortskrankenkasse veranstalteten Enquêtes eingeht, es sich jedoch versagt, Bilder aus diesen oder aus Zilles Fotosammlung als Gegenpol einzusetzen. Dankbar muß man ihm jedoch sein, daß er im Text durchaus darauf Bezug nimmt und das in nicht unkritischer Weise tut. Damit vervollständigt er das gesellschaftliche Umfeld der Fotos aus der DAME über deren Beiträge hinaus. Widersprechen muß man ihm aber, wenn er meint, die Fotos würden insgesamt »gewohntes Leben« zeigen. Vielmehr wird beim immer wieder neuen Hinsehen offenbar, daß doch die meisten demonstrativ gestaltet sind. Nicht nur, wenn einzelne Gegenstände mehrmals in verschiedene Sichtachsen gerückt werden, sondern auch gerade dann, wenn Personen »im Spiel« sind. Wohnsituationen vermag man nur wenig zu sehen, zumeist werden die Räume mit lebendem und totem Inventar für Besucher (oder DAME Leser) vorgeführt. Was die Qualität der Titzenthalerschen Inszenierungen in keiner Weise negiert oder nur einengt, denn das Spiel von SchwarzWeiß, von Hell-Dunkel ist faszinierend.
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Ganz hervorragend die Szene, in der Emil Orlik den Raum gerade in dem Moment verläßt, in dem der Fotograf auf den Auslöser drückt. So vervollständigen sich alle Bilder über die Jahrzehnte hinweg zu einem Gesamtkunstwerk, das es lohnte, ein solches Buch herauszugeben - und zu kommentieren, wie der Autor es tat.
     Natürlich haben auch teure und in mehrfacher Hinsicht anspruchsvolle Bücher ihre Probleme: Der Ausleser hat mehrfach nach einer Lothringer Straße in Niederschönhausen gesucht, um dann anhand der angegebenen Bezeichnung des Postamtes bestätigt zu erhalten, daß natürlich die (in Berlin einzige) Straße dieses Namens im Bezirk Mitte gemeint ist. Die Wohnung des - in Niederschönhausen tätigen - Arztes muß direkt am Rosenthaler Platz gewesen sein, also in einer nicht gerade »herrschaftlichen« Gegend. Nach 1945 wurde dieser Straßenzug in die heutige Torstraße einbezogen. Und: Auch nach der »Reform« wird scheintot als Adverb (Seite 29) im Gegensatz zu dem gleichlautenden Substantiv mit einem t am Ende geschrieben.
Hier endlich Klarheit zu schaffen, haben die Kulturminister seinerzeit offenbar versäumt oder sich für das nächste Mal aufgehoben. Und als allerletztes: Thea von Harbou - oder war es gar Fritz Lang - hatte wohl doch eine etwas makabre Wohnumwelt. Auf dem Schrank des Wohn(!)zimmers Schrumpfköpfe von der Südsee und in einem anderen Raum die Truhe mit dem wohl asiatischen Hakenkreuz. Wohnkultur ist eben eng mit Geschmack verbunden, und um den läßt sich bekanntlich nicht streiten.
Joachim Bennewitz
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 2/2000
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