99   Geschichte und Geschichten Weihnachtsfeier mit Obdachlosen  Nächstes Blatt
Oliver Ohmann
»Ick bin nich besoffen, ick bin unterzuckert!«

Frank Zander feierte mit Berliner Obdachlosen Weihnachten

Beim Einzug jede Menge bekannter Gesichter. Händeschütteln, es steigt aus den Bussen, unüberhörbar mit Kind und Kegel. »Wo isser?« Frank Zander, seit Jahren ein Original in der Unterhaltungsbranche, den Moden entweder fern oder voraus, steht an der Pforte des Estrel-Hotels an der Neuköllner Sonnenallee und begrüßt per Handschlag an die 850 Berliner Obdachlose. Wenn im Winter die 1000 vom Senat bereitgestellten Notübernachtungsmöglichkeiten und Wärmestuben knapp werden, selbst die schäbigen »Läusepensionen« unentbehrlich sind, halten Frank Zander und seine Freunde seit Jahren mit einer Weihnachtsfeier, Gänsebraten und Glühwein dagegen.
     Der Künstler hat ein Jahr Knochenarbeit hinter sich, kann über Beschäftigungsmangel nicht klagen. Seine Idee, ein Geburtstagslied mit jedem gewünschten Namen zu singen, nahm unlängst beängstigende Dimensionen an. Über Dreitausend verschiedene Namen hat er produziert, von Ansgar bis Zorro, das bescherte einen Eintrag ins Buch der Rekorde.

Er selbst betrachtet sich nach wie vor als »oller Straßenköter«, den so schnell nichts umhaut, weder Mißerfolg - noch Erfolg. Wenn auch in der Musikbranche wenig von Dauer ist, die Obdachlosenfete ist von Ehefrau und Managerin Evy auch für das Jahr 2000 notiert. »Aus der Nummer können und wollen wir nicht mehr raus«, sagt sie.
     »Dit is der erste Promi, dem ick die Hand jeschüttelt habe«, sagt einer, und es klingt fast wie ein Stoßgebet. Es ist kurz vor Weihnachten. Auf dem Gang in den Festsaal, wo sonst Kongresse stattfinden, stehen die Helfer Spalier. Auch hier Begrüßung, Schulterklopfen. Sie sind Freunde und Bekannte der Familie Zander, die an diesem Tag im Jahr behilflich sind. Im Vorfeld haben sie bereits die Tische dekoriert, bunte Teller bestückt und allerlei Sachspenden in Empfang genommen und sortiert. Zwei Säcke mit Klamotten gingen gleich in den Müll. Man ahnt nicht, was die Leute glauben, was Obdachlose auftragen sollen.

Rücksprache über Funk mit dem Hotelmanagement

Seit dem frühen Morgen wuselt »Neffi«, Koch und Seele, durch die Hotelhallen. In wenigen Stunden soll hier Gänsebraten serviert werden und vieles andere mehr. Tische rücken, eindecken, Stuhl an Stuhl, Reihe um Reihe.

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Regelmäßig Rücksprache über Funk mit dem Hotelmanagement, das den Saal und vor allem einiges Personal in diesem Jahr abermals zur Verfügung stellte. Helfer hier, Helfer da (auch »Insider« von den bekannten Straßenzeitungen) - jeder braucht eine Aufgabe, die er meistern kann. Neffi beherrscht das Gewirre und findet schließlich auch für den verschlafenen Autor einen Job - Kleiderkammer.
     Zum 5. Mal geht das nun schon so. Es begann 1995 mit 180 Gästen im Schloß Diedersdorf, da war man noch intim, Mundpropaganda verbreitete das Fest von Jahr zu Jahr. Diesmal werden 700 Gäste erwartet,
aber so genau weiß man das nicht, die größte Berliner Tageszeitung hat die Fete unter dem Stichwort »Nächstenliebe« als Veranstaltungshinweis angezeigt. Zanders Sohn, Marcus, der sich seit Wochen und Monaten mit der Organisation beschäftigte, atmet darüber einmal tief - und faßt sich wieder. Sein Vater macht sich indes auf den Weg in die Levetzowstraße, dort wird der Treffpunkt für die Gäste sein. Gegen Mittag trudeln die Künstler zum Soundcheck ein. Das einstündige Programm ist »zielgruppenorientiert« im wahrsten Sinne. Ein Weihnachtsmann, der Zigaretten verteilt, Tischzauberei für die Kinder,
Im Estrel-Hotel an der Sonnenallee
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Frank Zander bei seiner Weihnachtsfeier für Obdachlose
auf der Bühne eine Anheiznummer, dann darf Bernhard Brink einen zum Besten geben, bevor es in die Stimmungs- und Eckkneipenoberklasse geht. Was die Gebrüder Blattschuß hier entfachen werden, ist denkbar und dankbar, der Auftritt von Zander selbst ist längst erprobt, besiegelt und in warme Kissen gehüllt. Heimspiel. Bald kommt Kurt.
     Im Eingangsbereich bin ich einer, der die Kleiderspenden und viele Kisten mit eigens zu diesem Zweck gekauften und überlassenen Sachen sortiert. Windjacken, Pullover, T-Shirts und einiges mehr. Die alten Hasen
der eifrigsten Helferschaft vermissen Schals, Handschuhe und Hosen, »große Nachfrage im letzten Jahr«, dafür sind aber Handtücher da, Kinderanoraks, vor allem Schlafsäcke. Susi, Gitta und Britt wissen, wie man die Kleidung präsentiert, »damit es auch ins Auge fällt und am Ende nicht übersehen wird«.
     Ein Hotelpage liefert Bügel, von irgendwoher kommen Tische, sein Schweizer Messer hat Jens immer dabei und schneidet Kartons auf, Marcus steigt auf die Tische und dreht die Lampen zur Ware und rückt alles in besseres Licht. Auch helfen will gelernt sein.
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Dann sind sie da. Wer dachte, hier marschiert Berlin von der traurigen Gestalt zur Armenspeisung ein, wird eines Besseren belehrt. Erwartungsfroh und erhobenen Hauptes promeniert die freundliche Meute in den Saal. Die ersten plazieren sich nah bei der Bühne, zur Begrüßung für jeden einen Aperitif: Glühwein. Die meisten kennen den Ablauf, kommen jedes Jahr. Nach einer Viertelstunde brummt es. Laßt »Tout Berlin« auf den Presseball. Dieses »Betriebsfest« hat die wirkliche Prominenz, hier ist heute Abend Zilleball, und der olle Pinselheinrich hätte seine Freude an den vielen zufriedenen Motiven.

Heute kellnern hier Stars und Sternchen

Eine Art Regierungsumzug mit Musik - denn auch hier regieren Cliquen. Hier hat zum Beispiel Kalle was zu sagen, der haut dir auf die Pfoten, wenn Du »zu ville säufst«, hier wird dem Fräulein nicht an die Wäsche gegangen und der Gänsebraten kleingeschnitten - für Frida, die keine Zähne mehr hat. (»Wär' zu teuer !«) Zwischen den Tischen kellnern Stars und Sternchen, auch für die laufenden Kamera-Nasen. Aber Kalle kann die junge Blondine höflich und behende von der Presse ablenken und ein Tablett Bier für seine Runde in Empfang nehmen. Das Fest wird gefeiert - und heute darf sogar gefallen werden, Ärzte sind vor Ort.

Jeder zehnte läßt sich untersuchen, für einige geht's gleich ins Krankenhaus, vorsorglich. Da wird mancher Spießbürger blaß und schiebt alles auf den Schnaps. Allein es nützt ihm nichts, wenn Gert aus Weißensee seine Geschichte erzählt. Berührungsangst? Nicht seine Sache ! Studium in Heidelberg - das kann nicht jeder von sich sagen, dann Alkoholprobleme, das klingt schon vertrauter, Frau weggelaufen - »Dit ooch noch !« kommt in den besten Familien vor.
     Man muß den Nächsten hier nicht lieben, aber man darf nach dem Essen ein Tänzchen wagen. Wer nach Ansicht des Kinofilms »Sonnenallee« einen aufs Parkett legen möchte, muß sich an denen hier messen lassen. Die »Kreuzberger Nächte« werden eine lange fröhliche Polonaise aus 800 Kehlen, und spätestens nachdem »Franky« die Bühne betreten hat, mit Pyroknall und Bühnennebel und alledem, weiß man, daß Zander seine Zielgruppe eingekreist hat, allesamt ohne Kaufinteresse. Wer diesen Saal »spielen kann«, taugt nicht mehr für den Presseball, man wirkt vor dem Geschmeide irgendwie nicht mehr glaubhaft. Zander im Frack ist nur mit falschen Vampirzähnen denkbar.
     Danach werden Hunderte von Beuteln mit Geschenken verteilt, und es geht, wie jedes Jahr, zum Kleideraussuchen. Susi, Gitta, Britt und ich präsentieren unsere Arbeit. Das ist wie Jahrmarkt, nein, das ist wie
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Sommerschlußverkauf, nur um vieles notwendiger. Am Ende hat fast jeder etwas gefunden, die Sachen sind an den Mann, die Mutter und das Kind gebracht, einigen drängte man mehr auf, anderen weniger. Aufdrängen? Sie staunen? »Ich habe eigentlich alles, ich bräuchte nur Socken.« Bescheidenheit, Freundlichkeit und Kinderstube verliert sich nicht mit dem Obdach. Wer anderes behauptet, hat zu oft weggesehen. Wie in den tollen Tagen auch hier ein wenig Hauen und Stechen, dabei schnappte ich dann auch die Überschrift auf und alle haben ein wenig geschmunzelt. Mit den Bussen fahren die Gäste, und als solche haben sie sich verstanden, zurück zum Treffpunkt in Tiergarten - die Zurückgebliebenen sind bereits am Aufräumen, nach einer knappen Stunde kann Neffi den Saal schadlos übergeben.

Da wurden die Helfer plötzlich nachdenklich

Zum Abschluß der Show sangen alle den Song, der auch eine Fußballhymne geworden ist, »Nur nach Hause geh'n wir nicht !« Da wurden sie plötzlich nachdenklich - vor allem die (sagen wir es ruhig) tapferen Helferlein. Aber bei aller Spekulation, das bißchen gesunden Mutterwitz, das man braucht, um die Liedzeile auf die eigene Kappe zu nehmen, hat sich hier jeder erhalten.

»Dem Zander, hör mal, dem Zander nehm ick's ab !« Manch anderer hätte sich hier die Zähne ausgebissen und wäre seinem Publikum nur dadurch näher gekommen. Auch Frida hat es wieder sichtlich gefallen, und nachdem Susi ihr einen Schal umgeschlagen hat, trottet sie vergnügt mit den anderen in die lange Winternacht.
     Heute, liebe Passanten, hat man mal über euch hinweggesehen, hat mal blau gemacht von der Straße, ohne daß jemand über Gebühr in den Himmel gehoben worden wäre »und so'n Brimborium«. Das war auch gar nicht Sinn der Sache.
     Vater Zille, beim nächsten Mal könnteste dir eigentlich wieder mal sehen lassen!

Fotos: Elgin von Lühmann

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 2/2000
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