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Wolfgang W. Timmler
Ein Schritt zur Seite und einer nach vorn

Die Zeitungsbibliothek im Berliner Westhafen

Der Westhafen ist die zweitwichtigste Hafenanlage Berlins. Er liegt an der Kreuzung der in Ost-West- Richtung verlaufenden Wasserstraßen Hohenzollernkanal, Westhafenkanal und

Berlin- Spandauer Schiffahrtskanal und verfügt über drei parallele, tief ins Land einschneidende Hafenbecken von 325 und 525 Meter Länge. Mit einer Gesamtfläche von 430000 Quadratmetern ist er einer der größten deutschen Binnenhäfen. Der Westhafen gehört den Berliner Hafen- und Lagerhausbetrieben (Behala), einem Eigenbetrieb der Stadt. Als Güterverkehrszentrum bildet er gemeinsam mit dem Osthafen das Gerüst eines dezentralen Hafensystems.
     Im September 1905 genehmigte die Stadtverordnetenversammlung den Kauf eines achtunddreißig Hektar großen Grundstücks
Der Getreidespeicher im Westhafen
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zur Anlage eines neuen Hafens im Norden Berlins. Das Grundstück lag unweit des Plötzensees und war Eigentum des Evangelischen Johannesstifts, das Johann Hinrich Wichern 1858 gegründet hatte. Der Kaufvertrag zwischen dem Stift und der Stadt wurde im März 1906 geschlossen, aber langwierige Verhandlungen mit der preußischen Staatseisenbahn- Verwaltung über einen Gleisanschluß und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges verhinderten eine zügige Umsetzung des Bauvorhabens.
     Zuständig für die Gesamtplanung war der Stadtbaurat für Tiefbau, Friedrich Krause, der von 1914 bis 1920 auch die Bauausführung leitete. Als der Westhafen am 3. September 1923 dem Verkehr übergeben wurde, besaß die Anlage zwei Hafenbecken, ein Verwaltungsgebäude, ein Wirtschaftsgebäude, einen Zollspeicher, einen Getreidespeicher, drei Lagerhallen, einen Lokomotivschuppen, einen Bahnhof und mehrere Werkstattgebäude. In seinem Entwurf hatte Krause bereits eine Erweiterung des Güterumschlagplatzes vorgesehen. Unter seinem Nachfolger wurden die Arbeiten 1924 in Angriff genommen. In dreijähriger Bauzeit entstanden das dritte Hafenbecken, die Kaianlage am Berlin-Spandauer Schiffahrtskanal und neun große Lagerhallen. Außerdem wurde die Hafenanlage mit zwölf Kränen ausgestattet.
     Für die Hochbauten zeichnete der Privatarchitekt Richard Wolffenstein verantwortlich,
der mit seinem Partner Wilhelm Cremer das Haus des Zeitungsverlags und Anzeigenbüros Rudolf Mosse, die Handelshochschule und die Kaiser-Wilhelm- Akademie in Berlin entworfen hatte. Für den Westhafen schuf Wolffenstein eine kühle solide Architektur, die in ihrer Strenge vom Klassizismus des frühen neunzehnten Jahrhunderts berührt war.
     Zu den stattlichsten Bauten des Westhafens zählt der um 1920 errichtete Getreidespeicher. Mit einer Länge von 115 Metern, einer Breite von 27,5 Metern und einer Höhe von 35 Metern läßt der am Becken I gelegene Massivbau alle anderen Hafengebäude hinter sich zurück. Seine Umfassungswände bestehen aus Ziegelmauerwerk, das im Erdgeschoß mit Werksteinen und in den fünf Obergeschossen mit schwarzbraunen Eisenklinkern verblendet ist. Helle, große Fenster und breite pfeilerförmige Wandvorlagen lassen das langgestreckte Gebäude im Auge des Betrachters höher und leichter erscheinen, als es in Wahrheit ist. Die Zwischendecken sind mit Ausnahme der Kellerdecken aus Stahlbeton, die Stützen aus Walzeisen mit feuerfester Ummantelung. Das Dach ist mit schwarzen Falzziegeln gedeckt. Bei einer umbauten Fläche von 3200 Quadratmetern hat der Getreidespeicher mit zehn nutzbaren Lagerböden ein Fassungsvermögen von 29000 Tonnen.
     Im Gebäude wird schon lange kein Getreide mehr gelagert. Seit 1993 dient es als Kulturspeicher.
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Das Magazin der Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek im Getreidespeicher
Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz bewahrt darin Archivalien und Bücher auf, darunter knapp 100000 Titel, die nach Kriegsende von der Roten Armee aus deutschen Bibliotheken geraubt worden waren. Auf Weisung des georgischen Staatspräsidenten Eduard Schewardnadse wurden die nach Tiflis verschleppten Bücher im August 1996 ohne Gegenleistung an Deutschland zurückgegeben. Sie kamen in die Obhut der Staatsbibliothek zu Berlin, die zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz gehört.
     Die Staatsbibliothek, deren Bestände durch den Zweiten Weltkrieg und die deutsche Teilung zerrissen worden waren,
besitzt neun Millionen Bücher und Zeitschriften, die auf mehrere Standorte verteilt sind. Um die Zeitungsbestände zusammenzuführen, wurde 1993 eine neue Abteilung in der Staatsbibliothek geschaffen, die Zeitungsabteilung. Ihr Auftrag ist der Erwerb, die Erschließung und die Verwaltung in- und ausländischer Zeitungen und die Sammlung von ausländischen Zeitungen im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Systems der Literaturversorgung.
     Die Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek kann auf eine lange Tradition zurückblicken.
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Der Lesesaal der Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek im Getreidespeicher
Die Bibliothek, 1661 von Kurfürst Friedrich Wilhelm (1620-1688, Kurfürst ab 1640) gegründet und bis 1780 im Berliner Stadtschloß untergebracht, begann Ende des 17. Jahrhunderts mit dem Sammeln von Zeitungen, was auch in der Folgezeit fleißig fortgesetzt wurde, so daß die Abteilung heute reiche historische Bestände hat, darunter Schätze wie die »Königsberger Hartungsche Zeitung«, die 1752 von dem Buchdrucker Johann Heinrich Hartung verlegt wurde. Indessen blieben auch nach 1993 die Bestände der Abteilung weiterhin auf die Staatsbibliothek Unter den Linden und Potsdamer Straße verteilt, was nicht nur organisatorisch, sondern auch psychologisch erhebliche Probleme bereitete. Offenkundig ließ sich nur unter großen Spannungen und Reibungsverlusten zusammenfügen, was die Zeit getrennt hatte. Im August 1997 wurde der unhaltbare Zustand endlich dadurch beseitigt, daß die Zeitungsbestände am neuen Standort im Getreidespeicher provisorisch zusammengefaßt wurden.
     »Es ist für alle Beteiligten ein Schritt zur Seite und einer nach vorn«, erklärte ein Mitarbeiter der Staatsbibliothek damals gegenüber einer Berliner Tageszeitung. Obwohl sich der Umzug bis Oktober hinzog, wurde der Lesesaal im Erdgeschoß des Getreidespeichers bereits am 22. September 1997 geöffnet.
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Zu diesem Zeitpunkt waren die Bestände aber nur teilweise nutzbar. Heute kann der Leser uneingeschränkt über 150000 Bände Zeitungen, 45000 Mikrofilme, 12000 Mikrofiches, fünfhundert laufende Zeitungen und zehn Zeitungstitel auf CD-ROM verfügen. Außerdem hat er die Möglichkeit, über das Internet Literatur zu recherchieren.

Literatur:
- Behala (Hrsg): Berlin - Wasserstraßen - Hafenanlagen - Märkische Wasserstraßen. Berlin o. J. (1927)
- Berlin und seine Bauten. Herausgegeben vom Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin. Teil X. Band B: Anlagen und Bauten für den Verkehr (2) Fernverkehr. Berlin 1984
- Georg Dehio - Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler - Berlin. Bearbeitet von Sybille Badstübner-Gröger, Ralph Paschke u. a. München- Berlin 1994
- Kleine Anfrage Nr. 1060 des Abgeordneten Axel Kammholz (FDP) vom 20. 08. 1991 über die »zukünftige Rolle der Berliner Wasserstraßen«. In: Landespressedienst (LPD), 02. 01. 1992, Seite 18-20: Aus dem Abgeordnetenhaus

- Werner Natzschka: Berlin und seine Wasserstraßen. Berlin 1971
- Jörg Raach: Wichtige Ereignisse in der Entwicklung der BEHALA und des Westhafens. In: Behala (Hrsg.): Festschrift »1923-1998 - 75 Jahre BEHALA - Berliner Hafen- und Lagerhausbetriebe - 75 Jahre Westhafen«. Berlin 1998. Seite 21-42
- Staatsbibliothek zu Berlin: Zeitungsabteilung (http://www.sbb.spkberlin.de)
- Wörner, Martin, Mollenschrott, Doris und Karl-Heinz Hüter: Architekturführer Berlin. Fünfte, überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin 1997. XØ7.29.99 7.27.99 9

Fotos: Autor
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 2/2000
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