87   Geschichte und Geschichten Berlin vor 100 Jahren  Nächstes Blatt
Horst Wagner
Berlin vor 100 Jahren
Schneechaos und Etatdebatte

Mit der Meldung »Eine neue Verbesserung in der Briefbeförderung« überraschte die »Vossische Zeitung« ihre Leser gleich am ersten Februartag des Jahres 1900. »Seit der Einführung der Briefkastenleerung um Mitternacht fand die erste Leerung des Morgens zwischen 7 und 8 Uhr statt.« Die nach Mitternacht eingeworfenen Sendungen seien dann »erst zwischen 10 und 11 Uhr in die Hände der Adressaten in Berlin« gekommen. Nun solle die erste Leerung morgens zwischen 6 und halb 7 erfolgen. »Die zu dieser Zeit ausgehobenen Briefe gelangen schon bei der zweiten Bestellung, die um 8 1/2 beginnt, an die Empfänger.« Die neue Regelung sei bei den Postämtern, »die sie ohne Vermehrung der Beamten einführen konnten«, schon in Kraft getreten. Die anderen würden in den nächsten Tagen folgen.
     Am gleichen Tag informierte das »Berliner Tageblatt« über eine neue Fernsprechgebührenordnung. Diese sei »verzwickt« und »von der erhabenen Einfachheit, die den bisherigen Tarif auszeichnete, sehr weit entfernt«. Es würden nämlich entsprechend der unterschiedlichen Größe der örtlichen Netze

und ihrer Belastung differenzierte »Bauschgebühren« sowie Einzelgesprächs- Gebühren einmal für die eigentlichen Berliner, zum anderen für die Vororte eingeführt. Die jährliche »Bauschgebühr« für die Berliner erhöhe sich um 30 oder 50 Mark auf nunmehr 180 Mark. Sie könnten sich aber auch für die Einzelgesprächs- Gebühr plus einer Grundgebühr von 100 Mark entscheiden. In diesem Falle koste sie jedes einzelne Gespräch fünf Pfennig. Die gleiche Einzelgesprächsgebühr gelte für die Teilnehmer in den Vororten innerhalb ihres Ortes, nach Berlin oder anderen Orten sollten sie 20 oder 25 Pfennig pro Gespräch bezahlen. Die Grundgebühr betrage hier »beispielsweise wenn das Fernsprechnetz des Vorortes nicht mehr als 1000 Anschlüsse zählt«, nur 60 Mark.
     Ebenfalls am 1. Februar ging es in der Berliner Stadtverordneten- Versammlung um einen Vorfall, der, wie das »Tageblatt« erwähnte, »vielfach Heiterkeit erregt hat«. Mußte doch Vorsteher Langerhans die Abgeordneten darauf hinweisen, »daß es den Stadtverordneten nicht zustehe, die ihnen übergebene goldene Amtskette nach eigenem Belieben zu tragen«, sondern nur dann, wenn der Betreffende »von der Versammlung in seiner Eigenschaft als Stadtverordneter zu einem feierlichen Akt abgeordnet« wird. Gerügt wurde damit das jüngste Mitglied der Stadtverordnetenversammlung, Rechtsanwalt Ulrich, der den »ihm verliehenen gleißenden Schmuck«
BlattanfangNächstes Blatt

   88   Geschichte und Geschichten Berlin vor 100 Jahren  Voriges BlattNächstes Blatt
auch bei seinem Vortrag auf einer Versammlung in der Moabiter Brauerei getragen hatte.

Lustspiele im Ersten Garderegiment

Natürlich gab es in den großen Berliner Zeitungen auch wieder den täglichen Hofbericht. So darüber, daß der Kaiser - wie jedes Jahr - am 9. Februar das »Erste Garderegiment zu Fuß« besuchte, das Regiment also, in das er am 9. Februar 1877 noch als Prinz Wilhelm aufgenommen worden war. Nach einer schneidigen Ansprache des Kaisers und einer Festtafel »gelangten kleine Lustspiele zur Aufführung, die von den Offizieren des Regiments dargestellt wurden«. Ansonsten dominierten im Februar 1900 zwei Themen die lokalen Presseberichte: die außergewöhnlich heftigen Schneefälle und die offenbar nicht weniger heftigen Diskussionen um den städtischen Haushalt. So berichtete das »Berliner Tageblatt« in seiner Abendausgabe vom Montag, dem 12. Februar, daß »zur Beseitigung der gestern niedergegangenen Schneemassen heute Vormittag seitens der Stadt Berlin 800 Abfuhrwagen in Betrieb gesetzt« wurden. Nachdem am Sonntag »300 Arbeiter und die Städtische Straßenreinigung die Übergänge an den Straßenkreuzungen gereinigt« hätten, seien am Montagmorgen weitere 2000 Arbeiter zum Schneeschippen eingestellt worden.

Die Große Berliner Straßenbahn habe sich schon am Sonnabend und Sonntag »ihren Bedarf an Arbeitskräften aus den Wärmehallen geholt«. Trotzdem kam dann in den ersten Nachmittagsstunden des 16. Februar, wie das »Tageblatt« am nächsten Morgen berichtete, »der Straßenbahnbetrieb an vielen Stellen der Stadt völlig ins Stocken«. Infolge der »kolossalen Kraftaufwendung, welche die elektrischen Wagen zu leisten hatten«, haben sowohl »die Akkumulatoren bald zu versagen begonnen«, wie auch »der durch die Oberleitung vermittelte Strom vielfach ausblieb«. Von 2 Uhr nachmittags an habe beispielsweise »die Leipziger Straße ununterbrochen einer Wagenburg« geglichen. »Die Elektrischen, die vom Spittelmarkt nach Schöneberg fuhren, versagten durchweg in der Nähe der Wilhelmstraße.« In den Vororten hätten die am Nachmittag des 16. Februar einsetzenden Schneestürme »mit voller Gewalt« geherrscht. »Namentlich die Kolonien Grunewald, Wilmersdorf und Schmargendorf waren völlig verschneit.« Am 26. Februar, wieder einem Montag, dann die erlösende Meldung: »Ein prächtiger Frühlingstag war uns gestern beschert und brachte ganz Berlin auf die Beine.« Eine dichte Menschenmauer habe am Sonntagnachmittag »unsere vornehmste Avenue«, die Linden, »garniert«, gab es hier doch »das Kaiserpaar und zahlreiche Fürstlichkeiten zu sehen«.
BlattanfangNächstes Blatt

   89   Geschichte und Geschichten Berlin vor 100 Jahren  Voriges BlattNächstes Blatt
37,22 Mark Schulden pro Kopf

Zunächst noch unter »Lokales und Vermischtes« behandelt, rückte der in der Stadtverordnetenversammlung beratene und vom Magistrat bestätigte Etat Berlins schließlich am 27. Februar auf Seite 1 des »Tageblatts« vor. »Die Ansprüche, welche an die städtische Verwaltung gestellt werden«, erläuterte das Blatt, »wachsen naturgemäß von Jahr zu Jahr, nicht nur infolge der stetigen Vermehrung der Bevölkerung, sondern auch durch die erweiterte soziale Fürsorge für die ärmeren Bevölkerungsschichten.« Insgesamt sei der Etat für das Jahr 1900 »mit der kolossalen Summe von 175 Millionen Mark balanciert« und betrage somit mehr als der Staatshaushalt des Königreichs Sachsen. Vom Berliner Haushalt hätten allein die städtischen Werke 68 Millionen für sich zu verrechnen.
     Die Einnahmen aus der Steuer seien erfreulicherweise »fester geworden« und stiegen im neuen Jahr von 56 auf 60 Millionen Mark. Neben den Steuern, den Überschüssen der Werke, die 5 Millionen betragen sollten (»Aber der Kämmerer blickt mit gemischten Gefühlen auf diesen stattlichen Posten«), und den Einnahmen aus den Grundstücken gäbe es als Finanzierungsquelle noch die »Eingänge von Seiten des Staates«, die aber »immer geringfügiger werden«. Die Wasserwerke zum Beispiel erbrächten Überschüsse von über zwei Millionen Mark.

»Dagegen koste die Kanalisation über 13 1/2 Millionen Mark, fast 2 1/2 Millionen mehr als im Vorjahr.« Die Einnahmen aus den Gaswerken sollten über 4 Millionen Mark betragen, 602000 Mark mehr als 1899. Die Stadtverordneten- Versammlung habe zwar beschlossen, »einen Einheitspreis von 12 Pfennig pro Kubikmeter Gas festzusetzen«. Das aber sei vom Magistrat nicht bestätigt worden, und so müsse es »bei den alten Preisen von 16 Pfennig für Leuchtgas und 10 Pfennig für gewerbliches und Heizgas« bleiben. Eine längere Debatte habe es auch über »eine Neuregelung der Alterszulage für die Gemeindelehrer« gegeben. Im übrigen sei erfreulicherweise »die Kämmererschuld, also die Schuld, an welcher jeder Bürger beteiligt ist, von 70,6 auf 68,8 Millionen Mark gefallen, so daß auf den Kopf der Bevölkerung nur noch 37,22 Mark kommen«. Was sonst noch geschah in diesem Februar 1900? Am Sonnabend, dem 18. Februar, wurde im Königlichen Opernhaus Unter den Linden erstmalig Eugen d'Alberts Musikdrama »Kain« aufgeführt. Zwar sei der Komponist der nach der bekannten biblischen Geschichte gestalteten Oper mehrmals vor den Vorhang gerufen und mit sich steigerndem Beifall bedacht worden, doch habe, so der Kritiker des »Tageblatts«, manches an der Aufführung befremdet. »Die von einem unsichtbaren Chor dargestellte Stimme Gottes wirkte nicht so, wie die Autoren es sich
BlattanfangNächstes Blatt

   90   Geschichte und Geschichten Berlin vor 100 Jahren  Voriges BlattArtikelanfang
wohl gedacht haben.« Insgesamt aber dürfe man sich »zu der Bereicherung der dramatischen Literatur um so ein ernstes und vornehmes Werk nichts destoweniger Glück wünschen«.

Fahndung nach »dekolletierter Kunst«

In einer Kunsthandlung in der Wilhelmstraße wurden »im Interesse von Sitte und Moral« 160 Studienakte eines bekannten Professors und Lehrers am Kunstgewerbemuseum beschlagnahmt. Und in der Friedrichstadt gingen »die gar gestrengen Sittenapostel die Auslagen der zahlreichen Kunsthandlungen nach >dekolletierter Kunst< ab«. Dabei seien photographische Nachbildungen von Corregios »Leda« und Nonnenbruchs »Nach dem Tanz« auf den Index gesetzt worden. In einer längeren Betrachtung beschäftigte sich das »Berliner Tageblatt« auch mit der Reklame, »die einen ganz eigenartigen Bestandteil unseres öffentlichen Straßenlebens bildet«. So bedeckten sich »immer mehr freistehende Häusergiebel mit Anpreisungen und bildlichen Darstellungen«. Dabei fielen besonders »kategorische Imperative« wie »Wasche mit Lust«, »Koche mit Gas«, »Schlafe patent« auf. Unter den immer häufiger anzutreffenden Zettelverteilern gäbe es zwei Kategorien:

»Die harmlosen, die ruhig mitten auf dem Bürgersteig stehen und jedem Vorübereilenden ganz offen die gedruckte Anpreisung der neuesten Stoffe, Stiefelwichse oder der billigsten Butter in die Hand drücken, und die Schlepper gewisser Lokale, die ihre kleinen bedruckten Kärtchen mit einer gewissen Geheimnistuerei und vielsagendem Augenzwinkern an den Mann zu bringen versuchen.«
     Wie ein schlechter Scherz würden die offenen Kremser anmuten, »die am Brandenburger und am Halleschen Tor halten und bereit sind, Fahrgäste gratis nach einem Lokal in Halensee zum Bockbier zu befördern«. Sie seien doch wohl eher für die Rückfahrt vonnöten.
BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 2/2000
www.berlinische-monatsschrift.de