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Fred Nespethal
Erlebtes und Aufgeschriebenes aus dem 19. Jahrhundert.

Nach Tagebuchaufzeichnungen von Christian Petersdorff, Neuhardenberg Michael Imhof Verlag, Petersberg 1999

Der rührige Heimatverein Neuhardenberg legt hiermit schon Nr. 4 seiner »Studien zur Geschichte von Neuhardenberg« vor. Wenn man bedenkt, daß Neuhardenberg (bis 1815 Quilitz, zu DDR-Zeiten Marxwalde) nur eine Gemeinde ist, die sich in ihrer Grundstruktur auch heute noch dörflichen Charakter bewahrt hat, fragt man zu Recht nach den Ursachen einer so deutlichen Wiederbelebung von leider weithin verschütteten Traditionen des 19. Jahrhunderts, in dem auch in kleinen Orten die heimatgeschichtliche Forschung angesiedelt und zumeist bei Pfarrer, Lehrer, Apotheker gut behaust war.
     Der so herausragende Sonderfall Neuhardenberg basiert wahrscheinlich auf dem glücklichen Zusammenklang von drei Komponenten, nämlich der von dem Lehrer Ernst Tietze (1887–1967) engagiert begründeten ortsgeschichtlichen Forschung, dem Vorhandensein einer beachtlichen Anzahl intellektueller Zugezogener mit Interesse und Muße für die lokale Vergangenheit, und schließlich mit dem bewundernswerten Engagement der in Stuttgart angesiedelten Robert Bosch Stiftung, die es sich besonders angelegen sein läßt, Forschungsvorhaben lokaler Initiativen in den neuen Bundesländern finanziell zu unterstützen.

Grundlage der hier vorgelegten Publikation ist der in den Wirren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg aufgetauchte Teil des Nachlasses eines Neuhardenberger Einwohners, der fast das gesamte 19. Jahrhundert in seiner heimatlichen Umgebung begleitete: der Stellmachersohn und später selbst als dörflicher Stellmacher tätige Christian Petersdorff, geboren 1819 in Neuhardenberg, verstorben ebenda 1895. Aus seinem schriftlichen Erbe sind nach 1945 aufgetaucht und von Ernst Tietze sofort in ihrer eminenten Bedeutung erkannt worden 1 176 Seiten Handschrift, hinter denen sich zunächst ein Lebensrückblick und dann über längere Zeit (1837–1841, 1844–1860, 1865) kontinuierlich geführte Tagebucheintragungen verbergen.
     Die für etliche Zeit sichtbaren Lücken mögen nicht auf Christian Petersdorff zurückgehen, sondern dem Schicksal des Nachlasses anzukreiden sein: Petersdorff war nämlich ein sehr disziplinierter Schreiber, der unter allen Umständen (auch als Soldat während des unbarmherzigen Rekrutendrills, und sogar mitten im Badischen Feldzug) seine Erlebnisse seinem Diarium anvertraute. Er besaß auch eine geläufige Ausdrucksweise, beobachtete sehr genau und war allem für ihn Ungewohnten gegenüber durchaus aufgeschlossen – ein äußerst begabter Mann, der mit Recht die vom Herausgeber gestellte Frage erwarten kann, was wohl bei einer gänzlich anders gearteten Gesellschaftsstruktur aus ihm hätte werden können.
     Die von Petersdorff in seiner klaren Handschrift gefüllten Seiten geben einen tiefen Einblick in das ostelbisch- preußische Alltagsleben auf dem Lande und beim Militär abseits der zumeist in den Akten
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erhaltenen geschönten Sichten »von oben« aus Amtsstuben, Kommissionen und Kommandostellen. Sie sind also ein Glücksfall für Kultur- und Sozialhistoriker, die dem Neuhardenberger Fund nur deshalb keinen Stellenwert als Sensation verleihen, weil es sich »nur« um das 19. Jahrhundert handelt und nicht um das 14. oder 15. Jahrhundert.
     Eine Gesamtedition des Petersdorffschen Nachlasses steht allerdings noch aus – bisher sind Abschnitte zu seiner Schulzeit und zu seinem Einsatz in Baden 1849 als preußischer Soldat im 8. Landwehr- Infanterie- Regiment publiziert worden. Der jetzige Autor Nespethal bringt auch nur auswahlweise Petersdorffsche Eintragungen zu den 15 Themen, die er ausgewählt hat, und die allerdings von Schule, Beruf, Familie über Militärzeit und Krankheit bis zum Wetter so ziemlich alles abdecken, was zum Alltagsleben gehört.
     Sehr anschaulich sind im Anhang einige Lohn-Preis- Vergleiche aus den Petersdorffschen Papieren wiedergegeben (endlich ist einmal nicht bloß zwischen Lohn und Lebensmittelpreisen verglichen worden, sondern es finden sich auch Arzt- und Gerichtskosten!) und es ist – ebenfalls sehr schön! – eine übersichtliche Tabelle mit preußischen Maßen und Gewichten beigefügt.
Mit Stolz resümiert Nespethal auch die Forschungsergebnisse des Heimatvereins hinsichtlich der Aufklärung des Lebensweges seines Protagonisten nach der letzten Eintragung aus dem Jahre 1865. Während man lange Zeit annahm, daß Petersdorff 1867 verstorben sei, konnte der Heimatverein in mühsamer Kleinarbeit eruieren, daß er erst am 13. September 1895 das Zeitliche segnete – und er aus zweiter Ehe eine Tochter hatte, die 76jährig erst 1947 in Berlin starb.
     Es ehrt den Heimatverein, wenn er am Schluß seiner Darlegungen den weiteren Forschungsbedarf benennt – man kann optimistisch sein, daß er mit dem bis dato gezeigten Engagement auch noch bestehende Forschungslücken wird schließen können. Ein Mosaiksteinchen möchte auch der Rezensent dazu beitragen: Die »Badewanne« auf S. 58, die Christian Petersdorff am 4. Oktober 1849 auf dem Rückmarsch von Mannheim nach Frankfurt an der Oder in Berlin (von Flöhen aus seinem Privatquartier, Alte Schönhauser Str. 9, ganz zerstochen) besichtigte, ist die auch heute wieder zu besichtigende Granitschale im Lustgarten, die die Berliner Kodderschnauze »Suppenschüssel« und »Badewanne« benannte.
Kurt Wernicke
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 1/2000
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