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Annette Vogt
Ehrendes Gedenken gegen das Vergessen

Am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungs- und Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee, Mitstreiter der weltweiten Anti-Hitler-Koalition, befreit. Auf Initiative von Bundespräsident Roman Herzog ist der 27. Januar seit 1997 Gedenktag für die Opfer der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft.
     Hier soll an neun ermordete Frauen erinnert werden, die zwischen 1900 und 1936 an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms- Universität Berlin, der heutigen Humboldt-Universität, promovierten. Frauen aus allen sozialen Schichten, die die endlich gewährten Möglichkeiten des Frauenstudiums wahrgenommen hatten. Die Väter gehörten als Kaufmann oder Bankier, als Rechtsanwalt oder Sanitätsrat zum gehobenen Mittelstand. Die Frauen arbeiteten als Chemikerinnen und Lehrerinnen, als Wissenschaftlerin in einem Institut der angesehenen Kaiser-Wilhelm- Gesellschaft und in sozialen Einrichtungen. Als deutsche Staatsbürgerinnen jüdischen Glaubens erkannten sie nicht rechtzeitig die lebensbedrohende Gefahr der rassistischen, antisemitischen Politik der Nationalsozialisten. Gedanken an eine Flucht,

einen ungewissen Weg ins Exil, faßten sie, wenn überhaupt, zu spät.
     Von 1933 bis 1943, zehn lange Jahre, mußten die Frauen ein Leben voller Drangsal, Demütigung, Entrechtung und Erniedrigung führen. Eine der Frauen wollte nicht an fremdem Ort gequält, ermordet werden, sie setzte ihrem Leben vor der drohenden Deportation selbst ein Ende und fand ihre letzte Ruhestätte auf dem Friedhof in Weißensee.
     Es waren Frauen, die mit der abgeschlossenen Promotion an der angesehenen Berliner Universität den ersten Schritt in eine akademische Berufswelt taten, aus der sie ab Frühjahr 1933 sukzessive verdrängt wurden. Nur von einigen der hier Genannten ist etwas über ihren Lebensweg, ihre spätere Berufstätigkeit, ihre Erfolge bekannt. Weil sie aber zu den Zehntausenden ermordeten Berliner Juden gehören, wissen wir von ihrem Ende.1)
     Die ab Mai 1945 vorgenommene Entnazifizierung der Berliner Universität zielte seitens der daran beteiligten Angehörigen des Lehrkörpers vor allem auf die Beibehaltung der korporativen Identität ihrer Institution und nicht auf eine ernsthafte Auseinandersetzung und Bewertung ihres Verhaltens in der NS-Zeit. Die dabei entstandenen Mythen und Legenden zur Selbstrechtfertigung wurden bis heute keiner kritischen Bewertung durch die Geschichtswissenschaft unterzogen. Es gibt bisher keine zusammenhängende
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Untersuchung über die Berliner Universität in der NS-Zeit, lediglich Aufsätze zu einzelnen Aspekten. Das Buch von Rudolf Schottlaender über die von der Berliner Universität ab 1933 vertriebenen Wissenschaftler durfte in der DDR nicht erscheinen. Erst 1988 wurde es im damaligen West-Berlin verlegt.2)
     Im Frühjahr 1945 begann ein Verdrängungsprozeß, der Jahrzehnte andauerte. Das Vergessen der vertriebenen Wissenschaftler- KollegInnen, der um ihre Berufschancen gebrachten StudentInnen und der Ermordeten gehörte dazu. Nach ihnen wurde lange nicht einmal gesucht.3) Hier nun soll an die von den Nazis ermordeten Promovendinnen der Berliner Universität erinnert werden.4)

Emma Bodlaender, geb. Bruck
geboren 1. November 1859 Oberglogau/ Schlesien;
umgekommen im Dezember 1942 im KZ Theresienstadt

Promotion am 24. März 1915 in Chemie, Chemikerin; 9. Juni 1889 Heirat mit Dr. uido Bodlaender, Assistent an der Bergakademie Clausthal, dann Privatdozentin an der Universität Göttingen, ab 1899 Professur an der Technischen Hochschule Braunschweig; seit 1904 Witwe; 1922 bei der Firma Auerbach5)
letzte Adresse: Prenzlauer Allee 210
16. »Alterstransport« am 7. Juli 1942 in das KZ Theresienstadt

Helene Herrmann, geb. Schlesinger
geboren 9. April 1877 Berlin;
ermordet nach September 1942 im KZ Auschwitz

Promotion mit Ausnahmegenehmigung am 3. Februar 1904, Dissertation »Die psychologischen Anschauungen des jungen Goethe und seiner Zeit« – mit »laudabile« bewertet; seit 1898 verheiratet mit Max Herrmann (1865–17. November 1942, Theresienstadt); 1909 außerordentliche Professorin, 1929–1933 Professorin für Theatergeschichte an der Universität Berlin, Privatgelehrte und Arbeit mit ihrem Mann; Mitarbeit in Elsa Neumanns »Verein zur Gewährung zinsfreier Darlehen an studierende Frauen«,6) 1933 bis 1938/39 Lehrerin an der #187;Vera-Lachmann- Schule«7)
61. »Alterstransport« am 10. September 1942 in das KZ Theresienstadt;
1996, 1998 und 1999 Erinnern an Helene Herrmann8)

Elfriede Jacoby
geboren 21. März 1891 Berlin;
ermordet 1943 im KZ Auschwitz

Promotion am 27. September 1916 in Romanistik, vermutlich Lehrerin
letzte Adresse: Tiergarten, Altonaer Straße 2
43. Transport am 28. September 1943 in das KZ Auschwitz

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Käthe Joachimsohn
geboren 18. Dezember 1896 Berlin;
ermordet 1943 im KZ Auschwitz

Promotion am 14. Mai 1929 in Chemie, Chemikerin, 1926-1927 am Kaiser-Wilhelm- Institut (KWI) für physikalische Chemie und Elektrochemie, dort auch Dissertation
letzte Adresse: Charlottenburg, Schillerstraße 60
91. »Alterstransport« am 16. Juni 1943 in das KZ Theresienstadt

Gertrud Loewenthal
geboren 5. November 1891 Berlin;
ermordet 1941

Promotion am 11. März 1922 in Chemie, Chemikerin
letzte Adresse: Mitte, An der Spandauer Brücke 8
7. Transport 27. November 1941 nach Riga

Hilde Ottenheimer
geboren 11. Dezember 1896 in Ludwigsburg;
ermordet 1942

Promotion 16. Oktober 1935 in Philosophie/Pädagogik, Dissertation über »Die Geschichte der Erziehungsfürsorge in Deutschland von 1870 bis 1930«, Pädagogin; in verschiedenen jüdischen Wohlfahrtseinrichtungen tätig,9) 1919/20 bis 1923 als Geschäftsführerin des Württembergischen Landesverbandes für jüdische Wohlfahrtspflege in Stuttgart, 1924–1929 bei der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden
letzte Adresse: Wilmersdorf, Zähringerstraße 26
21. Transport am 19. Oktober 1942 nach Riga

Elisabeth Peiser
geboren 13. Juli 1892 Berlin;
ermordet 1942

Promotion am 15. März 1919 in Chemie, Chemikerin
letzte Adresse: Wilmersdorf, Spichernstraße 24–25
20. Transport am 3. Oktober 1942 »nach Osten«, nach Reval

Elise Unger
geboren 19. November 1904 Berlin;
ermordet 1943 im KZ Auschwitz

Promotion am 14. Dezember 1934 in Literaturgeschichte, Germanistik, vermutlich Lehrerin
letzte Adresse: Schöneberg, Geisbergstraße 11
36. Transport am 12. März 1943 in das KZ Auschwitz

Marie Wreschner
geboren 20. September 1887 Hohensalza;
gestorben 17. November 1941 Berlin (Freitod)10)

Promotion am 28. Januar 1918 in Physik, Physikerin, Wissenschaftlerin in der Kaiser-Wilhelm- Gesellschaft, Privatgelehrte; Januar 1920 bis Mai 1933 Mitarbeiterin am KWI für physikalische Chemie und Elektrochemie, Abteilung von H. Freundlich; 1933–1938 Privatgelehrte in Berlin; November 1938 Versuch der Emigration nach Großbritannien11)
letzte Adresse: Tiergarten, Claudiusstraße 3
Grabstätte im Familiengrab in Weißensee12)

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Quellen und Anmerkungen:
1     Vgl. Gedenkbuch der ermordeten Berliner Juden, Edition Hentrich, Berlin 1995
2     Vgl. Rudolf Schottlaender (Hrsg.), Verfolgte Berliner Wissenschaft. Ein Gedenkwerk, Edition Hentrich, Berlin 1988
3     Erst 1995 erschien das Gedenkbuch
4     Promovendinnen an der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin von 1904 bis 1945, zusammengestellt von Annette Vogt auf der Basis des Findbuchs und des Gedenkbuchs; zu den Promotionsvorgängen, deren Unterlagen im Archiv der Humboldt- Universität zu Berlin aufbewahrt werden, vgl. Annette Vogt, Findbuch (Index-Book). Die Promotionen von Frauen an der Philosophischen Fakultät von 1898 bis 1936 und an der Mathematisch- Naturwissenschaftlichen Fakultät von 1936 bis 1945 der Friedrich- Wilhelms- Universität zu Berlin sowie die Habilitationen von Frauen an beiden Fakultäten von 1919 bis 1945, Berlin 1997, Max-Planck- Institut für Wissenschaftsgeschichte, Preprint Nr. 57; zu den sogenannten Transporten und den Orten der Ermordung vgl. Gedenkbuch, a. a. O.
5     Diese Angabe danke ich Frau Brita Engel, Berlin
6     Vgl. Annette Vogt, Berlins erstes Fräulein Doktor, Berlin, 1999, S. 26 ff., 43 f., 142 ff.
7     Vgl. Jörg H. Fehrs, Von der Heidereutergasse zum Roseneck. Jüdische Schulen in Berlin 1712–1942, Edition Hentrich, Berlin 1993, S. 312 ff.
8     Vgl. Heinz Knobloch, Jüdische Orte in Berlin, in: Ulrich Eckhardt, Andreas Nachama (Hrsg.), Nicolai, Berlin 1996, S. 84; Birthe Klinge, Judith Wätzmann, Das Leben der ersten promovierten Ehefrau in Berlin (Seminararbeit), Berlin 1997, Seminar Prof. Dürkop, Auszug in: Humboldt-Universität Ausgabe 4 (1997/98), 42. Jg., 15. 1. 1998, S. 6; Annette Vogt, Berlins erstes Fräulein Doktor, a. a. O.
9     Vgl. Promotionsakte, Archiv HUB, Phil. Fak. Nr. 795, Bl. 107–130; sie beschrieb diese Tätigkeiten im Lebenslauf, der den Promotionsunterlagen beigefügt werden mußte
10     Mein Dank gilt Frau Hank vom Centrum Judaicum Berlin 11 Recherche-Ergebnisse über Marie Wreschner durch Annette Vogt im Archiv der S.P.S.L. in Oxford
11     
12     Bei den Schändungen von über 100 Gräbern in Weißensee Anfang Oktober 1999 war Marie Wreschners Grab nicht betroffen; Auskunft des Friedhofs Weißensee vom 11. 10. 1999
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 1/2000
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