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Chana C. Schütz
Kein Bild wie jedes andere

Zu Lesser Urys Porträt von Abraham Geiger

In Berlin und weit darüber hinaus wartet man gespannt auf die Eröffnung des Jüdischen Museums in der Lindenstraße (Kreuzberg). Im Herbst dieses Jahres wird es nun endlich soweit sein. Das Museum des Architekten Daniel Libeskind, der in Beton erstarrte zerbrochene Davidstern, wird sich mit seiner ersten Ausstellung der Öffentlichkeit präsentieren. Schon heute ist das Gebäude ein Baudenkmal und weit über die Grenzen Berlins bekannt. Doch es soll auch ein Museum werden – mit einem Auftrag und mit einer Sammlung.
     Ein Bild befindet sich bereits im Besitz des Museums, das es verdient, besonders gewürdigt zu werden. Der Berliner Lions-Club Alexanderplatz hat Direktor Michael Blumenthal für das Museum ein Porträt des Berliner Malers Lesser Ury geschenkt; es zeigt den Rabbiner Abraham Geiger. Dieses Bild ist aus drei Gründen bemerkenswert: weil es gerade von diesem Maler stammt; weil der Porträtierte eine herausragende Persönlichkeit im Berliner Judentum

des 19. Jahrhundert war und schließlich weil es als Kunstwerk seine eigene Geschichte hat.
     Der Maler Lesser Ury, geboren am 7. November 1861 in Birnbaum in der Provinz Posen, lebte von 1887 bis zu seinem Tode am 18.Oktober 1931 in Berlin. Er war einer der wichtigen Künstler der Moderne in wilhelminischer Zeit. Mit seinen impressionistischen Stadtbildern war Lesser Ury aber nicht nur der Maler der Großstadt Berlin. Er gehörte zu den – wohlbemerkt wenigen – Künstlern seiner Epoche, die sich auch in ihrem Schaffen entschieden zu ihrem Judentum bekannt und die sich also ganz bewußt als jüdische Künstler verstanden haben.
     Dargestellt auf dem Pastell ist Abraham Geiger, einer der großen Rabbiner Berlins. Geboren 1810 in Frankfurt am Main, war er Rabbiner in Breslau, Frankfurt am Main und ab 1870 in Berlin, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1874 vorwiegend an der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße amtierte.
     Abraham Geiger, ein bedeutender jüdischer Theologe, galt als einer der geistvollsten Forscher auf dem Gebiet der Wissenschaft vom Judentum, er war ein herausragender Repräsentant der religiösen Reformbewegung. Das Jüdische Lexikon kennzeichnet seine Stellung im Kreis der Begründer der Wissenschaft des Judentums dahin, daß er bestrebt war, die Wissenschaft und die historische Kritik für die Theologie, für
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die religiöse Reform und für die Neugestaltung des Judentums »in der Richtung auf die Weltreligion« zu verwerten: »Das wahre Wesen des Judentums erblickt er in der Prophetenreligion, in dem Glauben an den einen heiligen Gott und in der Bewährung desselben durch die von allen, auch den nationalen Schranken freie Menschenliebe.« In diesem Sinne hat Abraham Geiger im Jahr 1854 das reformierte Israelitische Gebetbuch herausgegeben. Geiger gehörte allerdings nicht zu den Radikalen unter den Berliner Reformern. Vielmehr wünschte er sich ein gemäßigteres Tempo der Entwicklung, »so sehr er auch wissenschaftlich für eine entschiedene Reform eintrat«.
     Der Rabbiner Abraham Geiger gehörte von Anfang an zu den Lehrern der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Sie war als eine freie Stätte der Forschung gedacht, unabhängig von Staat und von jüdischer Gemeinde. Im Jahre 1872 nahm sie ihren Lehrbetrieb auf. Die Absolventen – unter ihnen befanden sich auch einige Frauen – waren in den folgenden Jahrzehnten als Rabbiner nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern und in Amerika tätig.
      Die Machtübergabe an die Nationalsozialisten im Jahre 1933 bedeutete auch für die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums einen tiefen Einschnitt und der

Lesser Ury, Porträt des Abraham Geiger (1907)

Anfang eines allmählichen Todes. Es wurden hier jedoch weiterhin – wenn auch unter vielen Schikanen – Rabbiner und Religionslehrer ausgebildet. Doch am 19. Juli 1942 mußte der Lehrbetrieb endgültig eingestellt werden. Zuletzt gab es noch drei Schüler, die von Rabbiner Leo Baeck unterrichtet wurden.

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Und damit zurück zu dem Bild von Lesser Ury. Datiert in die Zeit um 1905, war es in der Lesser-Ury- Ausstellung des Berliner Käthe-Kollwitz-Museums im Jahre 1995 zu sehen. Dort wurde es als Porträt von Ludwig Geiger, dem Sohn Abrahams, gekennzeichnet. Das war jedoch ein Irrtum. Der Historiker Ludwig Geiger (1848–1919) war vor dem Ersten Weltkrieg mehrere Jahre lang Mitglied der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Redakteur der »Allgemeinen Zeitung des Judentums«.
     Ludwig Geiger war ebenfalls Autor der bekannten Geschichte der Juden in Berlin. Er selbst ist es, der uns in einem Artikel vom 11. Februar 1910 über die wahre Identität des Porträtierten aufklärt. Bei einem Überblick über eine Reihe von Porträts, die Lesser Ury geschaffen hat, erwähnt er auch – wenngleich nur kurz – das Bild seines Vaters, das Ury gemalt hat: »Es muß mit um so größerer Anerkennung genannt werden, da es nicht nach dem Leben, sondern nur nach einigen Photographien gemalt ist und doch höchst charakteristisch den Geschilderten wiedergibt.«
     Ludwig Geiger weist dann darauf hin, daß das Original des Bildes in der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums hängt. So sind wir nun ganz direkt bei dem Bild und bei seiner Geschichte im Laufe dieses Jahrhunderts. Am 20. Oktober 1907 wurde nämlich in Berlin der Neubau der Lehranstalt
für die Wissenschaft des Judentums eröffnet, in der Artilleriestraße 14, der heutigen Tucholskystraße. In seiner Eröffnungsrede weist Rabbiner Adolf Rosenzweig auf das Porträt von Lesser Ury hin. Er, der selbst 35Jahre zuvor ein Schüler Abraham Geigers war, berichtet, daß das Bildnis von ehemaligen Schülern des berühmten Theologen gestiftet worden sei.
     Es ist anzunehmen, daß sich das Bild bis zum Ende des Jahres 1941 an diesem ihm zugedachten Ort befunden hat. Dann haben die deutschen Behörden die Hochschule in der Artilleriestraße geschlossen.
     Was danach mit dem Bild geschah, bleibt bloße Spekulation. Möglicherweise wurde das Kunstwerk zusammen mit der bedeutenden Bibliothek der Hochschule an das Reichssicherheitshauptamt überwiesen. In diesem Fall wird das Bild in das Gebäude der ehemaligen Großen Freimaurerloge in der Eisenacher Straße 12 gebracht worden sein. Große Teile dieser Bibliothek fielen dem Brand nach der Bombardierung des Gebäudes am 22. und 23. November 1943 zum Opfer. Das Bildnis Abraham Geigers entging jedoch der Vernichtung. Es wurde vor einigen Jahren der Jüdischen Abteilung des Berlin Museums als Dauerleihgabe von einem Privatmann übergeben.
     Es ist zu begrüßen, daß es gelungen ist, ein so bedeutendes Kunstwerk für das neue Jüdische Museum zu erwerben, und daß das Museum beim Aufbau seiner Sammlung
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von privaten Stiftern unterstützt wird. Schließlich ist in der Zeit des deutschen Nationalsozialismus der jüdische Kulturbesitz zu großen Teilen vernichtet worden. Aus diesem Grunde sind gerade diejenigen Sachzeugen, die für den Aufbau eines Jüdischen Museums unerläßlich sind, so schwer zu finden. Manches kommt aus dem Ausland, und einiges konnte in die Emigration gerettet werden. Wenn Kunstwerke aus jüdischem Besitz in Deutschland auftauchen, gibt es allerdings immer Fragen. Entging dieses Kunstwerk durch Zufall der Vernichtung? Wurde dieses Objekt von einem beherzten Zeitgenossen versteckt und so gerettet? Hat es jemand gefunden, vielleicht im Schutt eines bombenzerstörten Hauses? Aber Tatsache bleibt, daß jedes dieser Objekte seinem jüdischen Eigentümer – Privatmann oder Institution – gestohlen worden ist.
     Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums existiert heute nicht mehr. Ihre Lehrer und ihre Schüler haben das schwere Los aller Juden in den dreißiger und vierziger Jahren in Europa teilen müssen. Was diese historisch einmalige Lehranstalt damals weltweit bedeutet hat, ist heute Geschichte, für nur ganz wenige noch Erinnerung.
Das Gebäude der ehemaligen Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, heute Tucholskystraße 9, ist seit kurzem der Sitz des Zentralrats der Juden in Deutschland. In der früheren Aula, wo das Bild von Lesser Ury einst jahrzehntelang hing, tagt nun regelmäßig das Direktorium des Zentralrats. Und das Porträt des Abraham Geiger wird in Zukunft seinen Platz im Jüdischen Museum in Berlin haben.

Bildquelle:
Stiftung Jüdisches Museum Berlin

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 1/2000
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