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Horst Wagner
Berlin vor 100 Jahren
Neuer OB und ein Großfeuer in Rixdorf

Obwohl sich Gelehrte, Dichter und Denker, wie die »Vossische Zeitung« in ihrer Neujahrsausgabe vermerkte, heftig gestritten hatten, wann denn das neue Jahrhundert beginne, entschieden Kaiser und Kirchenbehörden »daß der Beginn des neuen Jahrhunderts unserer Zeitrechnung am 1. Januar 1900 gefeiert werde«. Der Kaiser tat seinen Willen auch in einem Tagesbefehl »An mein Heer« kund, in dem er es als »Fels, auf dem Deutschlands Macht und Größe ruht« feierte. Am Abend des 1. Januar besuchten Kaiser und Kaiserin zusammen mit den drei ältesten Prinzen eine Aufführung der »Meistersinger« in der Lindenoper.
     Die Sylvesternacht sei, so hieß es im »Tageblatt« vom 2. Januar, »ohne bemerkenswerte Zwischenfälle« verlaufen. »Im Gebiete des gesamten Weichbildes der Stadt wurden nur 133 Personen polizeilich festgenommen, darunter 77 wegen Skandalmachens und Verübung groben Unfugs, der Rest wegen Trunkenheit, Schlägerei, Diebstahls und anderer Übertretungen.«
     Betrüblicheres mußte das Blatt am nächsten Tag über »Berlins Sauberkeit« berichten:

»Zum ersten Mal, seitdem Berlin die Riesenstadt geworden ist, war die Städtische Straßenreinigung auf eine ernste Probe gestellt und sie fiel mit Pauken und Trompeten durch. In den letzten Jahren ohne Schnee ging alles vorzüglich, aber nun, als endlich einmal Frau Holle wiederholt und sehr nachdrücklich ihre Betten schüttelte, da war das städtische Reinigungsamt mit seinem Latein zu Ende. Auf fast allen Straßen und Plätzen sieht man noch heute, also nach mehr als einer Woche seit dem letzten Schneefall, Schneeberge. Einige Straßenzüge bilden fast unübersteigliche Festungen.«
     Erfreulicheres gab es aus der Stadtverordnetenversammlung zu berichten. Sie hielt am Donnerstag, dem 4. Januar, ihre erste Sitzung im neuen Jahr ab, die sich, so die »Vossische Zeitung«, »zu einer besonders festlichen gestaltete«. Vom Vorsteher Langerhans wurde der am 23. Juni des Vorjahres gewählte, aber erst am 23. Dezember von Wilhelm II. bestätigte Martin Kirschner (BM 6/98) erstmals in seinem Amt als Oberbürgermeister begrüßt. Kirschner sagte in seiner Antrittsrede, es sei deutlich zu erkennen, »daß eine organische Ordnung der Verhältnisse der Stadtgemeinde zu ihren mächtig aufstrebenden Nachbargemeinden auf die Länge der Zeit unabwendbar sein wird«. Auch träten Aufgaben der sozialen Fürsorge immer deutlicher in den Vordergrund. Sie müßten »unter gleichmäßiger Berücksichtigung der Interessen der zunächst beteiligten
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wirtschaftlich schwachen Bevölkerungsschichten und der Steuerkraft der Bürgerschaft« gelöst werden.
     Mit Beginn des neuen Jahres war auch die »Neuregelung der Beamtenverhältnisse der Reichspost- und Telegraphenverwaltung« in Kraft getreten. Danach haben »die Anwärter der höheren Laufbahn, welche das Zeugnis der Reife von einem Gymnasium oder einer Oberrealschule besitzen müssen ... sich einem mehrjährigen akademischen Studium zu unterziehen und zwei Prüfungen zu bestehen«. Die Stellen als Assistenten, Postverwalter, Sekretäre, Obersekretäre, Postmeister, Bureau- und Kassenbeamten sollten künftig »ausschließlich den Anwärtern der mittleren Laufbahn vorbehalten« bleiben. »Oberassistenten, Assistenten und Postverwaltern wird fortan nach längerer vorwurfsfreier Dienstzeit der Titel Oberpostsekretär ... verliehen.« Assistenten und Postverwalter »aus der Klasse der Civilanwärter ... sowie diejenigen gleichartigen Beamten aus der Klasse der Militäranwärter, welche Ende Dezember 1899 eine zweijährige oder längere Dienstzeit bei der Post vollendet haben, sind mit Wirkung vom 1. Januar 1900 unkündbar anzustellen«, heißt es in dieser preußischen Beamtenverordnung.
     Mit einiger Verspätung war am 1. Januar 1900 auch das (mit wenigen Veränderungen noch heute gültige) Bürgerliche Gesetzbuch von 1896 in Kraft getreten. Aus diesem Anlaß hielt die Juristische Gesellschaft am 13. Januar
im Hotel de Rome eine Festversammlung ab. Geheimrat Sohm bemerkte in seinem Vortrag, das neue BGB sei wohl »das abstrakteste aller Gesetzbücher«. Es sei nicht volkstümlich und seine Sprache müßte man erst erlernen.
     Das tragischste Ereignis des Januar 1900 war zweifellos das »Großfeuer in Rixdorf«, welches das Warenhaus von Max Aron an der Ecke Berg- und Prinz Handjerystraße vollständig zerstörte. »Der Brand steht in der Berliner Chronik einzig da«, bemerkte das »Berliner Tageblatt«. »Man erinnert sich keines Falles mehr, daß ein modernes großes Haus so vollständig ausgebrannt ist.« Das Feuer brach am 12. Januar, einem Freitag, abends gegen 7 Uhr durch einen Kurzschluß im Erdgeschoß des vierstöckigen Gebäudes aus. Angestellte und Käufer konnten sich nur durch »eiligste Flucht« retten. Bis die durch den Ruf »Menschenleben in Gefahr« alarmierte Rixdorfer Feuerwehr eintraf, hatten sich schon Straßenpassanten als Retter betätigt. Dramatisch schilderte das »Tageblatt«, wie die Helfer sechs Personen aus den oberen Stockwerken über die Treppe ins Freie brachten. Danach seien sie zu einer gegenüber haltenden Pferdebahn gerannt, um Pferdedecken zu holen, die sie als Sprungtuch aufspannten. Denn die Familie des Bierfahrers Otto von der Unionbrauerei hatte sich, weil sie die Treppe nicht mehr erreichen konnte, auf den Eckbalkon geflüchtet, wo ihr die Flammen schon entgegenschlugen.
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Vater, Mutter und Tochter sprangen, wurden dabei aber alle drei schwer verletzt. Sonst waren glücklicherweise keine Menschenopfer zu beklagen. Die Löscharbeiten, die vom Gebäude nichts mehr retten konnten, dauerten auch noch am Sonnabend an.
     Herausragendes gesellschaftliches Ereignis des Monats war wieder einmal der Berliner Presseball, der am Sonnabend, dem 20. Januar, im großen Saal der Philharmonie stattfand. Das »Berliner Tageblatt« vermerkte in seinem Bericht neben den »im Hintergrund des Podiums aufgebauten Tombola- Geschenken« eine »Welle von Berühmtheiten, deren Zahl gegen die Vorjahre diesmal ungewöhnlich groß« gewesen sei. Das Blatt nannte dabei u. a. (und in dieser Reihenfolge) den Admiral Tirpitz, den Staatssekretär von Podbielski, Reichstagspräsident Ballestrem, Polizeipräsident Windheim, Universitätsrektor Fuchs sowie den Schriftsteller Hermann Sudermann. Natürlich auch Presse- und Theaterleute, sowie »neben den schmucken Vertretern des Landheeres die Menge der Marineoffiziere«. Getanzt worden sei »von Anbeginn sehr flott« bis in den Morgen des Sonntags hinein. In der gesellschaftlichen Ereignissen sonst große Aufmerksamkeit schenkenden »Vossischen Zeitung« findet sich über den Presseball nichts, außer der Anzeige eines Kaufhauses am Spittelmarkt, das für diesen Ball seine »eleganten Frackanzüge« empfiehlt.
Die »Vossische« hatte sich auf ein anderes Großereignis konzentriert: auf das am Sonntag, dem 21. Januar, anläßlich des Reichsgründungstages vom 18.Januar mit leichter Verspätung stattgefundene »Krönungs- und Ordensfest« im Schloß, auf dessen Dach aus diesem Anlaß »die gelbe Kaiserstandarte, daneben die purpurne Königsflagge mit der Kette des Schwarzen Adlerordens und dem Eisernen Kreuz und nach der Breiten Straße hin der rothe kurbrandenburgische Adler« prangten. Ergänzend zum exklusiven Bericht brachte das Blatt auf zehn (!) Seiten die Liste aller vom Kaiser mit Orden und Medaillen Geschmückten.
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 1/2000
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