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Eberhard Fromm
Gelehrter und Politiker

Theodor Mommsen (1817–1903)

Wie bereits in der BM 10/99 angekündigt, wollen wir uns in dieser Rubrik im letzten Jahr des 20. Jahrhunderts verstärkt solchen Persönlichkeiten zuwenden, deren Leben und Wirken in dieses Jahrhundert fällt.
     Theodor Mommsen ist eigentlich noch ein Mann des 19. Jahrhunderts. Aber mit ihm beginnt die Reihe jener deutschen Nobelpreisträger für Literatur, die bis zur jüngsten Auszeichnung von Günter Grass im vergangenen Jahr führt und in der es seit Mommsen eine liberale und demokratische Tradition gibt. Ein guter Grund, mit dem großen Historiker zu beginnen, dessen arbeitsreiches Leben bis in unser Jahrhundert reichte.

Ein erfülltes Leben

»Wenn der alte Mommsen, der Großmeister der römischen Geschichte, die langen Locken unter dem Schlapphut, an der Marchstraße aus der fahrenden Pferdebahn sprang, zeigte ihn einer dem andern. Und wenn er,

regelmäßig lesend, durch die Dorotheenstraße von der Akademie zum Brandenburger Tor ging, machte ihm jeder Fußgänger und beim Kreuzen des Damms jedes Gefährt selbstverständlich Platz.«1) So beschreibt Heinrich Spiero in seinen Erinnerungen, welches Bild etwa um 1893 Theodor Mommsen abgab: ein Original, das jeder kannte – und eine hochgeachtete Persönlichkeit, dessen Wort etwas galt.
     Doch bis er diese Stellung in Berlin, in Deutschland und in der internationalen Gelehrtenwelt erreicht hatte, mußte Mommsen einen schwierigen und widerspruchsvollen Weg zurücklegen. Am 30. November 1817 in Garding (Schleswig) als Sohn eines Geistlichen geboren, wuchs er in einem Gebiet auf, wo der Streit zwischen deutschen und dänischen Behörden an der Tagesordnung war. Zwischen 1838 und 1843 studierte er an der Kieler Universität Rechtswissenschaften und schloß 1843 mit einer Promotion über das römische Recht ab. Aus dieser Zeit stammt seine lebenslange Freundschaft mit dem Schriftsteller Theodor Storm (1817–1888). Durch Stipendien wurden ihm Studienaufenthalte in Frankreich und Italien ermöglicht. In Frankreich soll er Kontakte mit Anhängern des utopischen Sozialisten Charles Fourier gehabt haben, vor allem mit Victor Considérant (1808–1893). In Italien begann er mit seinen intensiven Studien zur römischen Geschichte; vor allem sammelte und interpretierte er
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römische Inschriften, eine Arbeit, die ihn sein Leben lang begleiten sollte.
     1848 zurückgekehrt, arbeitete er als Redakteur der »Schleswig- Holsteinischen Zeitung« in Rendsburg, bevor ihn ein Ruf der Leipziger Universität erreichte. Hier lehrte er bis zu seiner Entlassung im Frühjahr 1851. Mommsen gehörte zu jenen deutschen Gelehrten, die wegen ihrer Haltung zu den revolutionären Ereignissen des Jahres 1848 in den fünfziger Jahren der Reaktion zum Opfer fielen. Er wurde zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt, die er jedoch nicht anzutreten brauchte.
     In den folgenden Jahren wirkte Mommsen an den Universitäten in Zürich und in Breslau. In dieser Zeit arbeitete er an seiner mehrbändigen »Römischen Geschichte«; drei Bände erschienen zwischen 1854 und 1856. 1858 erfolgte der Ruf nach Berlin. Seit 1853 bereits korrespondierendes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, wurde er nun ihr ordentliches Mitglied. Viele Jahre (1874–1895) wirkte er als Sekretär der Historisch-Philologischen Sektion. 1868 wurde ihm die Herausgabe des seit 1853 begründeten »Corpus inscriptionum Latinarum« (Lateinische Inschriften) übertragen. Er las bzw. interpretierte dafür über 150 000 Inschriften. Zugleich lehrte er erfolgreich an der Universität; zwischen 1861 und 1887 hielt er regelmäßig Vorlesungen und führte Seminare durch. 1874/75 lag seine Amtszeit als Rektor der Universität.
Theodor Mommsen war ein Familienmensch. 1854 hatte er in Leipzig Maria Reimer (1832–1907) geheiratet, die Tochter des bekannten Verlagsbuchhändlers, bei dem dann auch Mommsens »Römische Geschichte« erschien. Die kinderreiche Familie Mommsen mußte in Berlin häufig die Wohnung wechseln, ging es doch darum, für die neun Söhne und sieben Töchter Platz zu schaffen. So finden wir denn unter den Berlin-Adressen der Familie die Bernburger, Neuenburger und Schöneberger Straße im heutigen Kreuzberg und schließlich ein Häuschen in der Marchstraße in Charlottenburg. Von den 16 Kindern starben bereits vier sehr früh. Tochter Marie (1855–1936) heiratete den Philologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931), mit dem Mommsen oft inhaltliche Differenzen hatte. Sohn Karl (1861–1922) war Bankdirektor, seit 1894 Berliner Stadtverordneter und vor dem Ersten Weltkrieg Mitglied des Reichstages. Und Sohn Konrad (1861–1922) brachte es bei der Kriegsmarine bis zum Vizeadmiral. Unter den Urenkeln sind mit Hans und Wolfgang J. Mommsen zwei heute bekannte Professoren für Neuere Geschichte.
     Theodor Mommsen wurde hoch geehrt. 1868 erhielt er den Orden Pour le mérite. Rom machte ihn zu seinem Ehrenbürger. Berlin widmete ihm ein Denkmal und benannte in Charlottenburg und Steglitz Straßen nach ihm. Die höchste Auszeichnung erhielt er jedoch 1902 mit dem Nobelpreis für
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Literatur, der ihm »als dem größten lebenden Meister der Geschichtsschreibung in besonderer Anerkennung für seine monumentale Römische Geschichte« verliehen wurde.
     Theodor Mommsen starb am 1. November 1903 in Charlottenburg. Sein Grab, seit 1952 als Ehrengrabstätte gepflegt, befindet sich auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof in der Kreuzberger Bergmannstraße. In seinem Testament hatte er verfügt, daß über ihn keine Biographie verfaßt werden solle, denn er habe nichts Rechtes erreicht. Diese Bestimmung hat wenig genützt. Das Leben dieses Mannes forderte viele Autoren heraus. Lothar Wickert verfaßte zum Beispiel eine vierbändige Mommsen- Biographie, Jürgen Kuczynski entwarf im Rahmen seiner »Studien zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften« ein Porträt des Gelehrten, und in einer jüngsten umfänglichen Arbeit wird das Wirken der beiden Berliner Wissenschaftler Mommsen und Harnack – verbunden mit ihrem Briefwechsel – untersucht.2)

Ein engagierter Bürger

Theodor Mommsen war ein durch und durch politischer Mensch. Seine liberalen Ansichten haben sich sicher im Laufe seines langen Lebens ausgeformt und verändert; in ihrem Kern wurden sie jedoch bestimmt durch eine Haltung, wie er sie spätestens seit 1848 eingenommen hat. Zwar brauchte er in späteren Jahren nicht mehr solche

Humbold-Universität, Denkmal für Theodor Mommsen von Adolf Brütt

 

Repressionen zu befürchten, wie er sie in Leipzig erlebt hatte. Doch sein öffentliches Wirken im politischen Leben seiner Zeit, sein Auftreten gegen antiliberale Positionen, brachten ihm oft Streit und wohl sicher auch manchen Ärger ein.

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Dem Preußischen Landtag gehörte er von 1863 bis 1866 als Mitglied der Fortschrittspartei und zwischen 1873 und 1879 als Nationalliberaler an. Im Deutschen Reichstag wirkte er von 1881 bis 1884. In diesen Jahren war er Gegner Bismarcks (1815–1898), der den Historiker sogar 1882 wegen Beleidigung verklagte. Bismarck bezog Äußerungen Mommsens über den »Größten der Opportunisten« und eine »Politik des Schwindels« auf sich. Mommsen bestritt diesen Zusammenhang und wurde freigesprochen. Eine besonders häßliche Attacke wurde im Reichstagswahlkampf 1881 gegen Mommsen im »Kladderadatsch« geführt. Als »ein paar nette Brüder« wurden hier Mommsen und Virchow (1821–1902) regelrecht denunziert. Mommsen wurde unterstellt, den Brand in seinem Haus 1880 selbst gelegt zu haben; man behauptete, daß Mommsen von Mommsohn käme, also »unfehlbar jüdischen Ursprungs« sei, und man urteilte über seine Römische Geschichte: »Uns ist dieses angeblich >berühmte< Schriftchen noch nicht zu Gesicht gekommen.«3)
     Mommsen hatte vielfältige Kontakte. Er verkehrte in der Villa des Bankdirektors Georg von Siemens (1839–1901), wo er mit Ludwig Bamberger (1823–1899), Heinrich Rickert (1863–1936) und Theodor Barth (1849–1909) zusammentraf. In der von Barth seit 1883 herausgegebenen Wochenzeitschrift »Die Nation« publizierte Mommsen viele seiner politischen Artikel. Gemeinsam mit
Adolph von Menzel (1815–1905) wandte er sich gegen Angriffe auf die Freiheit der Kunst und Wissenschaft. Als sich konservative Kreise 1894 mit der sogenannten Umsturzvorlage für eine Verschärfung der Strafgesetze einsetzten, gehörte neben Karl Lamprecht (1856–1915) und Rudolf Virchow, Werner Sombart (1863–1941) und Adolph von Menzel, Gustav Freytag (1816–1895) und Theodor Fontane (1819–1898) auch Mommsen zu denen, die öffentlich protestierten.
     Besonders engagiert trat er im sogenannten Berliner Antisemitismus-Streit auf. Ende der siebziger Jahre hatten die antisemitischen Attacken in Deutschland deutlich zugenommen. In Berlin gab ein Kollege Mommsens, der Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896, BM 4/1996), das Stichwort für die antisemitischen Ausfälle, als er in dem Artikel »Unsere Aussichten« vom November 1879 erklärte: »Die Juden sind unser Unglück!«4) Mommsen wandte sich mehrfach öffentlich gegen eine solche Position. So verfaßte er im November 1880 mit dem Philologen Wilhelm Cauer (1858–1940) eine Erklärung gegen das antisemitische Treiben, die von 73 Berliner Persönlichkeiten, darunter dem Oberbürgermeister Max von Forckenbeck (1821–1892), und dem Rektor der Universität, Georg von Hofmann (1818–1892), unterzeichnet wurde. Mit einer Broschüre »Auch ein Wort über unser Judentum« griff Mommsen in die Polemik ein.
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Als im Dezember 1890 der »Verein zur Abwehr des Antisemitismus« gegründet wurde, gehörte Mommsen zu jenen 535 Persönlichkeiten, die den Gründungsaufruf unterschrieben. 1893 hatte der Verein in 900 Städten bereits etwa 13 300 Mitglieder.
     Seine ablehnende Haltung gegenüber der Sozialdemokratie gab Mommsen nie auf. 1884 trat er für eine Verlängerung des Sozialistengesetzes ein. Zugleich bemühte er sich jedoch darum, das Verhältnis zur sozialdemokratischen Partei zu normalisieren.
     Während die meisten Parteien die Frage prinzipiell verneinten, ob denn die Sozialdemokratie als eine Partei wie jede andere anerkannt und behandelt werden solle und damit auch bündnisfähig sei, bejahte Mommsen – wie auch sein Freund Theodor Barth – dies mit Entschiedenheit. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Haltung, die Mommsen in einem seiner letzten Artikel in der »Nation«, »Was uns noch retten kann« vom 13. Dezember 1902, gerade über die Sozialdemokratie geschrieben hat. »Von dem Talent ist es nicht nötig zu reden; jedermann in Deutschland weiß, daß mit einem Kopf wie Bebel ein Dutzend ostelbischer Junker so ausgestattet werden könnten, daß sie unter ihresgleichen glänzen würden. Die Hingebung, die Opferbereitschaft der sozialdemokratischen Massen imponiert auch dem, der ihre Zwecke nichts weniger als teilt«, heißt es dort.
Für den politischen Menschen Mommsen, den engagierten Bürger gab es so bis ins hohe Alter keinen Rückzug und kein Ausruhen. Er nutzte sein Ansehen als Gelehrter und scheute nicht die öffentliche politische Auseinandersetzung. Am Tage nach seinem Tod wurde im Nachruf des »Berliner Tageblattes« hervorgehoben: »In den wichtigsten Krisen des öffentlichen Lebens erhob er seine Stimme, die niemals ungehört verhallte ... Mit grimmiger Verachtung hat er sich gegen den Antisemitismus gewandt.«

Vergangenheit lebendig machen

So aktiv Mommsen im politischen Leben stand, so überwältigend ist seine theoretische Arbeit. Neben seiner »Römischen Geschichte«, deren drei Bänden er 1885 einen fünften Band – ein vierter Band blieb ungeschrieben – folgen ließ, entstanden zwischen 1871 und 1888 drei Bände »Römisches Staatsrecht«, zwei Bände »Römische Forschungen«, »Das Römische Strafrecht« (1899), eine Sammlung seiner »Reden und Aufsätze« und unzählige weitere Arbeiten. Die Publikationsliste zeugt von immensem Fleiß: Weit über 1500 Titel sind da aufgelistet.
     Natürlich bildet seine »Römische Geschichte« den Mittelpunkt seines Schaffens. »Mommsens Römische Geschichte wird vielleicht dasjenige historische Werk unsres Jahrhunderts sein, das den dauerndsten Einfluß ausüben wird«, schätzte der Historiker

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und Zeitgenosse Karl Lamprecht 1899 neidlos ein.5) Und tatsächlich kommt niemand an diesem Werk vorbei, der sich der alten Geschichte zuwendet; sei es nun, um Rat, Bestätigung oder auch nur Belege zu finden; oder sei es auch, um sich an Mommsen zu reiben, mit ihm zu streiten, ihn zu widerlegen. Denn Mommsens Art der Geschichtsschreibung war nie unumstritten. Ihm ging es bei aller historischen Detailtreue und faktischen Genauigkeit immer auch darum, den Bezug zur Gegenwart herzustellen.
     Einige seiner Kritiker warfen ihm ebendiese Modernisierung der Geschichte vor. Andere wieder sahen in solchen Vergleichen eine unzulässige Vereinfachung. Franz Mehring (BM 2/1996) meinte aus marxistischer Sicht zu Mommsens Umgang mit bestimmten Vergleichen: »Allein zum Verständnis des modernen Sozialismus gelangte Mommsen doch nicht so weit, um durch dies Medium die antiken Klassenkämpfe zu verstehen; er gebrauchte ihn nicht als Methode, sondern als Schablone und kam zu jenen Quidproquos über antiken Kapitalismus und Sozialismus, die ihm Marx gelegentlich im >Kapital< vorwirft.«6)
     Theodor Mommsen beschrieb nicht einfach die Geschichte Roms. Er ließ sie lebendig werden, vor allem dadurch, daß er die handelnden Persönlichkeiten dieser Zeit gestaltete. Ob nun der Staatsmann und Feldherr Sulla (138–78 v. u. Z.) oder der Politiker und glänzende Rhetoriker Cicero
(106–43 v. u. Z.) – immer entstanden unter den Händen Mommsens echte Charakterköpfe, die sich dem Leser einprägten. Im Zentrum aber stand unverwechselbar die Gestalt des Julius Cäsar (100–44 v. u. Z.), von dem Mommsen ein gewaltiges Bild entwarf. Caesar wirkte und schaffte »wie nie ein Sterblicher vor und nach ihm, und als Wirkender und Schaffender lebt er noch nach Jahrtausenden im Gedächtnis der Nationen – der erste und doch auch der einzige Imperator Caesar«, schrieb er begeistert.7)

Denkanstöße

Es ist mir beschieden gewesen, an dem großen Umschwung, den die Beseitigung zufälliger und zum großen Teil widersinniger, hauptsächlich aus den Fakultätsordnungen hervorgegangener Schranken in der Wissenschaft herbeigeführt hat, in langer und ernsthafter Arbeit mitzuwirken. Die Epoche, wo der Geschichtsforscher von der Rechtswissenschaft nichts wissen wollte, und der Rechtsgelehrte die geschichtliche Forschung nur innerhalb seines Zaunes betrieb, wo es dem Philologen als ein Allotrium erschien, die Digesten aufzuschlagen, und der Romanist von der alten Literatur nichts kannte als das Corpus juris, wo zwischen den beiden Hälften des römischen Rechts, dem öffentlichen und dem privaten, die Fakultätslinie durchging, wo der wunderliche Zufall die Numismatik und sogar die Epigraphik zu

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einer Art von Sonderwissenschaft gemacht hatte und ein Münz- oder Inschriftenzitat außerhalb dieser Kreise eine Merkwürdigkeit war – diese Epoche gehört der Vergangenheit an, und es ist vielleicht mit mein Verdienst, aber vor allen Dingen mein Glück gewesen, daß ich bei dieser Befreiung habe mittun können.
     Rede zum 50. Doktorjubiläum, zit. nach Jürgen Kuczynski, Theodor Mommsen – Porträt eines Gesellschaftswissenschaftlers, Studien zur Geschichte der Gesellschaftswissenschaften, Bd. 9, Berlin 1978, S. 260

In verantwortungsvoller Weise verschlingen sich in dem Rom dieser Zeit (Mitte des 2. Jahrhunderts v. u. Z., d. V.) die zweifachen Mißstände einer ausgearteten Oligarchie und einer noch unentwickelten, aber schon im Keime vom Wurmfraß ergriffenen Demokratie ... Beide Parteien stritten gleicher Maßen für Schatten und zählten in ihren Reihen nur entweder Schwärmer oder Heuchler. Beide waren von der politischen Fäulniß gleichmäßig ergriffen und in der That beide gleich nichtig. Beide waren mit Nothwendigkeit in den Statusquo gebannt, da weder hüben noch drüben ein politischer Gedanke, geschweige denn ein politischer Plan sich fand, der über diesen hinausgegangen wäre, und so vertrugen denn auch beide sich mit einander so vollkommen, daß sie auf gleichem Schritt sich in den Mitteln wie in den Zwecken begegneten und der

Wechsel der Partei mehr ein Wechsel der politischen Taktik als der politischen Gesinnung war.
     Römische Geschichte, Bd. II, Berlin 1881, S. 72

Wir sehen uns in ernsten Kämpfen mit Mächten, die wir, als wir jung waren, verachteten und verachten durften. Ist das Reich Kaiser Wilhelms wirklich noch das Land Friedrichs des Grossen, das Land der Aufklärung und der Toleranz, das Land, in dem nach Charakter und Geist und nicht nach Confession und Nationalität gefragt wird? Ist es nicht beinahe ein gewohntes Unheil geworden, dass die politische Parteibildung, dieses nothwendige Fundament jedes Verfassungsstaates, vergiftet wird durch Hineinziehung des confessionellen Haders? Regt man nicht in den socialen und den wirtschaftlichen Fragen das Element des Egoismus der Interessen wie den nationalen Egoismus in einer Weise auf, dass die Humanität als ein überwundener Standpunct erscheint?
     Festrede zur Vorfeier des Geburtstages des Kaisers vom 18. März 1880, in: Monatsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1881, S. 313

Ich bin in der Judenfrage der Ansicht, dass die Calamität des Antisemitismus ein organischer Schaden unserer Nation ist, der nicht geheilt, sondern nur verwachsen werden kann durch die steigende Humanisierung

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der Deutschen ... Bis dahin ist es wohl zweckmäßig, den groben Fälschungen und Verdrehungen der Antisemiten im Einzelnen zu antworten und auf den groben Klotz einen groben Keil zu setzen.
     In: Antisemitenhammer. Eine Anthologie aus der Weltliteratur. Düsseldorf 1894, S. 512 f.

Unser Lebensnerv ist die voraussetzungslose Forschung, die nicht das findet, was sie nach Zweckerwägungen und Rücksichtnahmen finden soll und finden möchte, was anderen außerhalb der Wissenschaft liegenden praktischen Zielen dient, sondern was logisch und historisch dem gewissenhaften Forscher als das Richtige erscheint, in einem Wort zusammengefaßt: Wahrhaftigkeit.
     Erklärung vom 15. November 1901 betreffend Universitätsunterricht und Konfession

Die Voraussetzungslosigkeit aller wissenschaftlichen Forschung ist das ideale Ziel, dem jeder gewissenhafte Mann zustrebt, das aber keiner erreicht noch erreichen kann. Religiöse, politische, sociale Überzeugungen bringt ein jeder von Haus aus mit und gestaltet sie aus nach dem Maß seiner Arbeits- und Lebenserfahrungen ... Die Stellung der Konfessionen ist in dieser Beziehung wesentlich dieselbe wie die der philosophischen, der politischen, der socialen Parteien ... Wir denken sehr verschieden; aber noch ist kein Akademiker darauf verfallen, auf diesen Gebieten eine Zaunordnung

einzuführen und für die entgegengesetzten Auffassungen besondere Kämmerchen einzurichten. Die Universität ist der große Fechtboden des deutschen Geistes; wir bekämpfen unsere Gegner außerhalb und innerhalb desselben, indes auf demselben Waffenplatz und mit gleichen Waffen.
     Antwort an eine Kritik von Georg Hertling, in: Münchner Neueste Nachrichten vom 24. November 1901

Quellen
1     Heinrich Spiero, Schicksal und Anteil. Ein Lebensweg in deutscher Wendezeit. Berlin 1929, S. 47
2     Lothar Wickert. Theodor Mommsen. Eine Biographie. 4 Bände, Frankfurt am Main 1959–1980; Jürgen Kuczynski, Theodor Mommsen – Porträt eines Gesellschaftswissenschaftlers. Studien zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften, Bd. 9, Berlin 1979; Stefan Rebenich, Theodor Mommsen und Adolf Harnack, Berlin und New York 1997
3     Der Mommsen und der Virchow, in: Kladderadatsch vom 23. Oktober 1881, S. 194
4     Heinrich von Treitschke, Unsere Aussichten, in: Zehn Jahre deutscher Kämpfe. Schriften zur Tagespolitik, Berlin 1879, S. 844
5     Karl Lamprecht, Alternative zu Ranke, Leipzig 1988, S. 326
6     Franz Mehring, Der Ursprung des Christentums, in: Gesammelte Werke, Bd. 13, Berlin 1961, S. 278
7     Theodor Mommsen, Römische Geschichte, Bd. III, Berlin 1920, S. 569

Bildquelle: Archiv LBV

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 1/2000
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