87   Nachrichten aus dem alten Berlin Berliner Sittengemälde  Nächste Seite
Berliner sind es schon gewohnt, bis an die Waden in den Koth zu treten, und bekümmern sich daher auch wenig um die Reinigung des Bürgersteigs, die doch ihre Sache wäre. Besonders ist man in den Vorstädten übel berathen, und es giebt Zeiten, wo man z. B. in der Bernauerstraße bei dem Austreten eines schlammigen Sees vor dem Thore, der bis tief in die Stadt hineindringt, oft gar nicht durch kann.
     So schädlich solche Unreinigkeiten auch für die Gesundheit sind, so ist dies doch nicht der einzige oder hauptsächlichste Grund, warum man in Berlin so wenig blühende, starke Menschen antrifft. Schlechte Erziehung, Luxus und Modesucht haben dafür gesorgt, daß die Zeit der Blüte kurz ist, und die Jugend schon die Stufe des Greises betritt. Der größte Theil der Eingebohrnen in den mittlern und höhern Ständen hat eine verwollüstigte Bildung, einen entnervten Körper und verbleichte Wangen. Der Knabe, der noch den Schulstaub auf seinen Füßen trägt, schielt schon nach steigenden und fallenden Busen, und schwatzt von kleinen Händen, niedlichen Gesichtern und modischen Anzügen. Töchter tragen schon im Aufkeimen alle ihre erborgten Schönheiten zur Schau, und suchen durch Blicke, Stellung, Wendungen des Körpers und tausend Kunstgriffe den Jüngling zu locken. Mütter finden ein Vergnügen daran, wenn ihre Töchter sich schon in den Kinderschuhen zu Koketten formen, und
»... des Morgens lange schlafen, am Tage bequem leben«

Berliner Sittengemälde anno 1798

Im Jahre 1798 wurde bei Wilhelm Dieterici in Berlin die Schrift »Berlin, von seiner Entstehung bis auf gegenwärtige Zeit historisch- geographisch beschrieben. Nebst einigen Bemerkungen über Literatur, Sitten und Gebräuche seiner Einwohner« verlegt. Der Verfasser ist Anton Balthasar König (1753–1814), Absolvent des Cöllnischen Gymnasiums, dann als Registrator und Sekretär im General- Direktorium, ab etwa 1800 angestellt beim Johanniterorden und bekannt geworden durch Arbeiten geschichtlichen und genealogischen Inhalts. König zeichnet ein wenig schmeichelhaftes Berliner Sittengemälde aus der Zeit vor 200 Jahren. Im Vorwort betont er, daß er, unabhängig von den Urteilen anderer, nur das aufgeschrieben habe, »was er selbst gesehen, gehört und erfahren hat, und glaubt in jeder seiner Behauptungen und Urtheile – wenn gleich sie hie und da strenge ausfielen – der Wahrheit treu geblieben zu seyn«.

»In regnigten (regnerischen) Herbsttagen kann man die engen Straßen vor allem Moder kaum passiren, aber die meisten

SeitenanfangNächste Seite


   88   Nachrichten aus dem alten Berlin Berliner Sittengemälde  Vorige SeiteNächste Seite
Liebesbriefe zirkeln, und man kann nicht früh genug dafür sorgen, die Knospe in Komödien und auf Bällen zu zeigen, wo sie denn auch bald entfaltet, nach ihren Reitzen untersucht, oft gebrochen, oft aber auch nach gemachtem Gebrauch weggeworfen wird. Man kann sich daher denken, wie es mit der Unschuld unsrer Jugend steht.« (S. 72/73)

»Die meisten Familien von Ton (wie man es nennt) sehen nur auf Geld, Galanterie, Moden und ähnliche alberne Dinge, und werfen Verstand, Unschuld und Tugend in die Polterkammer ... Leute dieser Art verleben ihre Zeit in Tabagien, Bordellen und Ressourcen (Erholungsorte, Lokale), gerathen früh in die Hände der Beschnittenen, und prahlen und stolzieren mit fremden Geldern. Ihre höchste Sorgfalt ist, ihren Körper zu schmücken, und unschuldige Mädchen zu verführen. Weil sie schon zu viel gelebt haben, stopfen sie aus ihre schlaffen Waden, und bemahlen sich die blassen Wangen; sie parfümiren sich mit Eau de Luce, führen immer den großen Ton, radebrechen Französisch, sprechen mit Verachtung von ihrem Vaterlande, und erheben den Engländer, von dem sie nichts weiter haben, als den verunglückten Schnitt ihres Rockes.
     Im Ganzen ist man in Berlin sehr zur Pracht und Prahlerei geneigt, wenn auch der Beutel leer ist, und Gläubiger sich stets

vor der Thüre lagern. Man hat einen unmäßigen Hang zum Vergnügen, und wenn das Wetter nur halb erträglich ist, so sind die Spaziergänge Winter und Sommer angefüllt, und die Abende werden auf Pikkeniks und in Ressourcen hingebracht. Daher bricht häufig ein Concurs aus, die Bedienten werden reich, und die Herrschaft, die sonst auf das kriechende Geschmeiß des Pöbels kaum herabsah, verkriecht sich nun in die Winkel und zehrt von den übriggebliebenen Krumen.« (S. 74/75)

»Die niedern Stände besitzen einen lächerlichen Stolz. Sie kleiden sich über ihren Stand, und um den Vornehmen alles nachmachen, und auch unter sich Bälle, Pikkeniks und Landpartien anstellen zu können, beschnellen sie ihre Kunden, kaufen alte Sachen auf, geben ihnen den Anstrich des Neuen, und verkaufen ihre Waare häufig für ausländische, weil die Vornehmen thöricht genug sind, alles Inländische für schlecht zu halten. Dennoch sind die Berlinischen Bürger im Ganzen arm, da der Luxus auch zu ihnen gedrungen ist, und sie, wenigstens an gewissen Tagen, alles drauf gehen lassen.« (S. 75/76)

»Schwärmen, des Morgens lange schlafen, am Tage bequem leben – sind Züge in dem Charakter des Berliner Volks. Viele, ja die meisten, haben keinen Begriff von dem Vergnügen, früh aufzustehen, und den hei-

SeitenanfangNächste Seite


   89   Nachrichten aus dem alten Berlin Berliner Sittengemälde  Vorige SeiteNächste Seite
tern Himmel beim Aufgang der Sonne zu sehen. Aber sich in einen gepolsterten Lehnstuhl werfen, da mit Gemächlichkeit Chokolade und Koffee trinken, über die theuern Preise des Koffees und Knasters (guter Tabak) schmälen, über die Staatsverwaltung kritteln, Stadtmärchen erzählen, und sich über andere Menschen lustig machen – das ist Lieblingsbeschäftigung Höherer und Niederer.
     Der Gesellschaftston ist größtentheils abgeschmackt und fade. Geburt und Rang stehen hier noch in großem Ansehen, und bei den meisten Zusammenkünften distringuirt (unterscheidet) man sehr sorgfältig zwischen den Reichen und den Aermern, zwischen den Vornehmern und Geringern. Meistentheils versammelt man sich, um ein neues Meublement (Möblierung), oder ein neues Kleid zu zeigen, über Stadtneuigkeiten zu klatschen, oder die Zeit mit Kartenspiel zu tödten; oft will auch die Frau im abnehmenden Sommer ihres Lebens noch glänzen und Anbeter um sich her versammeln; oft ist eine überreife Tochter da, die an den Mann gebracht werden soll. Anstatt des feinen Witzes und der unterhaltenden anständigen Gespräche, hört man fade Sticheleien auf abwesende Personen, dummdreiste Urtheile über Handlungen von Vorgesetzten, lächerliche Anspielungen auf Religion und Tugend, Schmähungen auf den plumpen deutschen Geschmack, Verachtung vaterländischer
Gebräuche, und unanständige Scherze über eheliche Treue und Sittsamkeit. Man könnte die beißendste Satyre auf der Welt schreiben, wenn man die hiesigen Koffee- Kollationen (Zwischenmahlzeiten) und Thee- Assembles (Versammlungen) nach dem Leben schilderte; selten wird ein Gedanke gebohren, der des Aufbewahrens werth wäre. Dabei sieht man wenig wahre Freundschaft, wohl aber Schein und Falschheit in Menge. Die Dame, welche kurz zuvor über eine andere sich aufhielt, fällt solcher in der folgenden Minute um den Hals, sagt ihr die größten Komplimente in einem freundschaftlichen Tone, und lobt sie wegen ihres Geschmacks, ihres wohlgewählten Anzuges oder dergleichen. –
     ... Junge Männer, die in untern Königlichen Bedienungen stehen, sind gemeinhin die Entrepreneurs (Veranstalter) von Ressourcen und Bällen, theils, um sich den hiesigen Frauenzimmern gefällig zu machen, theils, weil sie nichts zu thun haben, und ihre Zeit nicht anders hinzubringen wissen. Hier werden alte Ehen getrennt und neue gestiftet. Eltern nehmen sorgfältig ihre Kinder mit, um ihnen hier Lebensart beizubringen, aber sie bringen gemeiniglich nur die Kenntniß, sich zu putzen, sich zu verlieben und zu schwelgen mit zurück. Die Töchter drehen sich in erhitzenden Tänzen umher, und machen Bekanntschaft auf Kosten ihrer Tugend und ihres guten Rufs. Daher kommt
SeitenanfangNächste Seite


   90   Nachrichten aus dem alten Berlin Berliner Sittengemälde  Vorige SeiteAnfang
es oft, daß manches sonst hübsche Mädchen unverheirathet bleibt. Und doch sind unsere Mütter so unbesorgt, daß sie vielmehr das Glück ihrer Töchter zu gründen glauben, wenn sie solche in allen buhlerischen Künsten üben, und sie mit allem Flitterstaat, der ihnen äußern Glanz giebt, ausstatten können. Eben so ist es auf Concerten. Die meisten sinken zu solchen Zusammenkünften herab, wo Liebesintriguen angesponnen werden, und zur Reife gedeihen, und wo selbst oft der Venus in verstohlnen Gängen geopfert wird. Die Mutter schreitet mit ihrem Töchterchen stolz einher; gleich dem Gastwirth hängt sie ihr Schild aus, aber oft sind alle die ausgekramten Reitze eine so verlegne Waare, daß keiner darauf achtet, und Niemand etwas darauf bieten will, aus Furcht, sie möchte ihm zugeschlagen werden. Ist die Waare aber noch tauglich, so ist gemeinhin der Preis so hoch, daß der Kauflustige abgeschreckt wird. Es müßte sehr schlecht gehen, wenn ein Mädchen nicht ihr Dutzend Liebhaber um sich haben sollte, die sie auf Bällen und Ressourcen begleiten, und sie nicht bloß auf Spaziergängen, sondern selbst in Kirchen aufsuchen. Das drolligste dabei ist, daß Jeder Besitzer ihres Herzens zu seyn glaubt, und es am Ende doch Keiner ist, da vielleicht Niemand durch Schönheit, Stand und Reichthum ihren hohen Ideen und Planen entspricht, und es ihr nur darum zu thun ist, recht viel und recht lange angebetet zu werden. Solche stolze Närrinnen bleiben gemeinhin sitzen, und wenn sie sehen, daß es mit ihren hohen Planen nicht geht, so werden sie am Ende einem Subalternen zu Theil, und danken Gott, daß sie noch eine ganz gewöhnliche Mariage (Heirat) gemacht haben.« (S. 77–81)

»Dies ist das Vorzüglichste, was ich über Berlin und seine Bewohner zu sagen hatte. Vielleicht schien ich Manchem zu streng zu richten, und die sonst so gerühmte Residenz zu tief herabzusetzen. Allein, so gern ich es zugebe, daß ich bittere Wahrheiten gesagt, und viele und mancherlei Thorheiten gerügt habe, so weiß ich doch auch, daß meine Leser darum nicht glauben werden, als wollte ich diese Wahrheiten auf alle Berliner angewandt wissen. Ich habe es zugegeben, daß der Ausnahmen sehr viele sind, daß Berlin große, geschickte, rechtschaffene, thätige Männer in jedem Stande aufzuweisen habe, daß es sich über andere Städte erhebe, daß viele Unsittlichkeiten nur durch das Zusammendrängen der Menschenmenge entstehen, und ich wiederhole es noch jetzt für diejenigen, welche nicht mit mir einerlei Meinung seyn möchten.« (S. 111/112)

SeitenanfangAnfang

© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de