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rend mit den Männern auf oben geschilderte Weise verfahren wurde. Kein vorüberfahrender Wagen wurde verschont, die Kutscher mit Eis geworfen, die Scheiben zertrümmert und die Insassen insultiert. Dasselbe Schauspiel wiederholte sich an der Ecke des Dönhofsplatzes und war von den angeblich seitens der Polizei getroffenen Sicherheitsmaßregeln nichts zu entdecken; in der ganzen Länge der Leipziger Straße war weder ein Schutzmann noch sonstiger Sicherheitsbeamter zu sehen. Ich halte es weit mehr im Interesse der öffentlichen Ruhe und Ordnung geboten, daß derartige Vorfälle durch die Presse veröffentlicht und auf Abhilfe derselben hingewirkt werde, als daß sie v e r t u s c h t werden. Es wäre nicht mehr wie billig, daß gegen derartige Exzedenten ohne alle Schonung verfahren werde.«
     Bei dieser skurrilen Erscheinungsart Berliner Brauchtums spielten offenbar etliche Faktoren eine nicht gerade rühmenswerte Rolle: Erstens dürfte die infolge des gewaltigen Bevölkerungswachstums ebenfalls zunehmende Zahl städtischen Janhagels, zweitens die aus der Industriellen Revolution erwachsende schroffe soziale Kluft mit ihrer Konsequenz, dem natürlichen Sozialneid, drittens der beim Jahreswechsel traditionelle reichliche Alkoholgenuß zu Buche geschlagen haben. Dabei ist nicht auszuschließen, daß die Grenze zwischen »humoriger« und verbrecherischer Aktivi-
Kurt Wernicke
In der Silvesternacht: Hut ab!

Unter der Rubrik »Eingesandt« veröffentlichte die »Berliner Volks- Zeitung« in ihrer Ausgabe vom 6. Januar 1870 einen Augenzeugenbericht über brutale Vorgänge in der Silvesternacht 1869. Der darin geschilderte, etwas merkwürdige Berliner »Humor« erregte allerdings nicht zum erstenmal die einheimischen Gemüter: Die silvesterliche »Hut ab!«-Bewegung war in der preußischen Hauptstadt als gnadenloser Silvesterscherz bereits bekannt.
     »Ich passierte zwischen 1 und 2 Uhr in der Nacht«, so der frustrierte Augenzeuge, »von der Potsdamer Straße kommend, die Leipziger Straße und war Zeuge, wie an der Ecke der Friedrichstraße eine Horde von 100 bis 150 halberwachsenen Jungen, im Alter meist zwischen 16 und 20 Jahren, jeden ruhig vorübergehenden, mit einem sogenannten Zylinder bekleideten Bürger mit Schnee- und Eiswürfen angriffen, den Hut vom Kopf rissen, und solange mit Eis- und Schneewürfen verfolgten, bis es demselben gelang, in irgendein Haus zu flüchten und dort Schutz zu finden. Frauen wurden vom Arme der Männer gerissen und auf alle mögliche Art und Weise insultiert, wäh-

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tät hier und da bewußt verwischt wurde. Die »Vossische Zeitung« zitierte z. B. am 7. Januar 1870 eine Meldung aus der »Berliner Volks- Tribüne«, die sich ebenfalls auf ein Vorkommnis in der Silvesternacht bezog – und da möchte man schon annehmen, daß der »Humor« nur den Einstieg in weitergehende Zielsetzungen darstellen sollte. »Einem Arzt«, heißt es da, »der in seinem Wagen mit seiner Gattin nach Hause fuhr, wurde plötzlich von einem Pöbelhaufen Halt geboten; man riß die Wagentüren auf, prügelte das Ehepaar, den Kutscher, die Pferde und suchte den Wagen zu zertrümmern. Der Entschlossenheit des Kutschers, der den Wagen zum plötzlichen Fortfahren brachte, ist es zu danken, daß das Ehepaar ohne lebensgefährliche Verletzungen davonkam.«
     Ein vierter Grund für das lange Fortbestehen des mit Bestimmtheit nicht unumstrittenen Brauchs des silvesterlichen Hutabschlagens in Berlin könnte die gewohnte Überforderung der Ordnungsmacht in Spitzenzeiten flächendeckender Verstöße gegen die geheiligte Verordnungs- Ordnung gewesen sein. Aber gegen dieses Argument werden doch Bedenken geweckt, wenn man einen zwei Jahrzehnte später verfaßten Bericht über die »humorige« Unsitte liest.
     In ihrer Weihnachts- Sondernummer 1891 (mit Datum 28. 11. 1891) gab die Pariser illustrierte Wochenschrift »L'Illustration« u. a. einen Überblick über Silvesterbräuche
in anderen Ländern. Dabei berichtete der Berliner Korrespondent der Zeitschrift: »In Deutschland, will sagen in Berlin, wird der Sylvesterabend in einer einzigartigen Weise – um es nicht drastischer auszudrücken – gefeiert. Der unglückliche Provinzler oder der Ausländer, der mit den Berliner Sitten unbekannt ist und das Pech hat, an jenem Abend auszugehen oder sich einfach nur auf der Straße zu befinden, und mit einem hohen Hut bedeckt ist, hört es plötzlich hinter sich schreien >Hut ab! Hut ab!< Er dreht sich erstaunt um und sieht sich sogleich von einer Bande Schreihälse bedrängt. Stöcke und Fäuste sind gegen ihn erhoben, er will protestieren, aber man läßt ihm keine Zeit. Ruten und Fäuste prasseln auf seinen Rücken nieder, auch auf seinen Kopf: das Ziel der Menge ist es, seinen Hut in einen Faltenbalg zu verwandeln. Man beachte die Feinheit des Verfahrens! Geräuschvolles Füßestampfen und Lachen begleiten den Unglücklichen, wenn er, bestürzt und geblendet, seinen Hut bis auf den Kragen, ja bis auf die Schultern heruntergedrückt, die Arme nach vorn reckt und verzweifelt nach Hilfe schreit.
     Nicht weit von ihm steht ein Schutzpolizist (übrigens ist die gesamte Polizei in dieser Nacht auf den Beinen): Sie glauben vielleicht, er fliegt herbei zur Hilfeleistung für das Opfer? Überhaupt nicht – er bleibt der Szene gegenüber passiv und bescheidet den Unglücklichen voller Geringschätzigkeit:
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»Hut ab!«  
 

>Nu, weshalb gehen Sie denn aus?< Ein bißchen dick aufgetragen für einen Scherz, nicht wahr?
     Dieser wahrlich schlagende Brauch datiert, wie es scheint, aus dem Jahre 1848 und setzt sich zur Erinnerung an die damaligen Aufruhre, deren Schauplatz Berlin war, am Sylvesterabend fort. Das gewöhnliche Volk, aufgereizt gegen des Bürgertum, hatte es amüsant gefunden, seine Animosität derart umzusetzen in Belästigung des Bürgers, der sich durch den hohen Hut auswies und ihm beim Vorbeigehen ins Auge stach.«
     Nimmt man diese Schilderung für bare Münze (was man nicht unbedingt muß, denn 1891 waren übertreibende Seitenhiebe

 

zwischen der deutschen und der französischen Presse – leider – gang und gäbe), dann hatte sich der »Hut ab!«-Brauch schon so in das Berliner Lokalkolorit integriert, daß ihn selbst die Polizei augenzwinkernd respektierte. Die Bezugnahme auf 1848 scheint nicht ganz aus dem Nirgendwo hergeholt, denn tatsächlich läßt sich am Vorabend der Märzrevolution in Berlin ein etwas merkwürdiger Verein nachweisen, der aus B ü r g e r stolz die von ihm als kleinbürgerlich apostrophierte »lästige Sitte« des Hutabnehmens in geschlossenen, nichtsdestoweniger aber öffentlichen Orten abschaffen wollte.
     Als »Geselliger Verein der Freunde mit dem Hut« erhielt er im Sommer 1845 die

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polizeiliche Konzession und führte nun regelmäßige wöchentliche Versammlungen mit musikalischen, deklamatorischen und rhetorischen Veranstaltungen durch – eigentlich war es offensichtlich ein gesellschaftliches Organ, in dem sich Berliner Bürger – Kaufleute, Unternehmer, Beamte – unter einem harmlosen Vorwand ein Gremium zum Gedankenaustausch geschaffen hatten. Das Hut-Problem schien vielen Vereinsmitgliedern schon nach einem Jahr Vereinsexistenz nicht mehr die zentrale Lebensfrage zu sein: Es fand ein Namenswechsel zu »Verein der Freimütigen« statt. Wie es aber im deutschen Vereinsleben zu sein pflegt, blieb ein Teil der Mitglieder dem ursprünglichen Ideal treu und konstituierte sich 1847 neu als »Verein der Hutfreunde«, der seine wöchentlichen Versammlungen immer mittwochs ab 8 Uhr abends in den Räumen des Gesellschaftstheaters »Urania«, Kommandantenstraße 73, abhielt.
     Der absichtlich zur Schau gestellte Bürgerstolz provozierte möglicherweise besonders ruppige Vertreter der Berliner Unterschichten zu demonstrativen Gegenaktionen, und der Polizeipräsident sah möglicherweise in solcherart »Bestrafung« für Bürgerstolz (angesichts des immer etwas angespannten Verhältnisses zwischen Berliner Bürgerschaft und dem Polizeipräsidenten als direktem Machtorgan des Hofes in der Residenzstadt) kein besonders strafwürdiges
Vergehen – besonders nicht in der Silvesternacht, in der auch das eigentlich strikt verbotene Abfeuern von Schüssen und Feuerwerkskörpern nicht geahndet wurde und so allen möglichen »Späßen« Tür und Tor geöffnet waren. Nachdem sich die polizeiliche Nachsicht bei »Hut ab!«-Vorgängen erst einmal herumgesprochen hatte, konnten diese sich offensichtlich bald mit dem Rang einer Berliner Lokalsitte schmücken.
     Weshalb starb der »Hut ab!«-Brauch dann wohl unbemerkt aus? Ein entscheidender Faktor wird die verbesserte soziale Lage der Unterschichten gewesen sein, denn schon zur Jahrhundertwende setzte sich auch in der Berliner Arbeiterschaft der »gute Anzug« durch, zu dem ein Hut gehörte! Damit fiel der Hut als Ausweis der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht weg, und eventueller immanenter Sozialneid mußte wenigstens auf dem Sektor der »Hut ab!«-Bewegung verpuffen ...
     Der Pariser Schilderung dieser Berliner Merkwürdigkeit verdanken wir auch eine bildliche Darstellung solcherart lokalspezifischer Silvestersitten in der Hohenzollern- Metropole. Berliner Bildquellen schweigen sich über dieses jahrzehntelang geübte Berliner Brauchtum aus ...

Bildquelle:
Repro aus »L'Illustration«, Paris, 1891/II

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© Edition Luisenstadt, 1998
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