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nen, daß alles Reden über Richtung und Stil, über >modern< oder >historisch< am wesentlichsten vorbeizielte«, brachte es zwanzig Jahre nach seinem Tod die in Berlin erscheinende »Deutsche Bauzeitung« auf den Punkt. 2)
     »Historisch« war in dem zur Reichshauptstadt aufgestiegenen Berlin Mode. Das wilhelminische Kaiserhaus favorisierte einen Neuaufguß des höfischen Barock. Die reichgewordene Berliner Bourgeoisie schwenkte ein. Was sich beispielsweise in der Kaiser- Wilhelm- Straße des Jahres 1887 (heute Karl- Liebknecht- Straße) an kuppelübertürmten, mit neobarockem Fassadenzierat überladenen Geschäftshäusern präsentierte, nahm im Geist den Raschdorffschen Bau des Berliner Domes vorweg.
     Julius Raschdorff (1823–1914) war zu Messels Studienzeit als Professor an die Berliner Bauakademie berufen worden. Er ließ seine Studenten aus den Zeichnungen von Details älterer römischer Paläste neue Fassaden zusammenstellen. »So entstanden aus einzelnen Teilen alter charaktervoller Fassaden in willkürlicher Zusammenstellung der Einzelheiten neue charakterlose«, berichtete Hoffmann.
     Tastend und abwägend löste sich Alfred Messel vom architekturkopierenden Historismus. Das Äußere der von ihm entworfenen Gebäude entwickelte er aus ihrer jeweils speziellen inneren Funktion, dabei neuen Baustoffen und -techniken gegenüber
Martin Küster
»... mit etwas Liebe und künstlerischem Können«

Der Architekt Alfred Messel und seine Berliner Arbeiterwohnhäuser

»Bedrückten Gemüts zogen wir im Regen durch die Straßen der uns ungewohnten Großstadt und zweifelten, ob wir trotz Fleißes und Gewissenhaftigkeit auch nur zu einer ganz bescheidenen Tätigkeit es jemals bringen können.«1) So beschreibt Ludwig Hoffmann seine und seines Freundes Alfred Messel Ankunft in Berlin im Herbst 1874. Nach einem Baueleven- Jahr in Kassel hatten die beiden Hessen ein vierjähriges Studium an der hauptstädtischen Bauakademie aufgenommen.
     Aus Ludwig Hoffmann (1852–1932) wurde der produktive Baustadtrat Berlins in den Jahren 1896 bis 1924. Alfred Messel entfaltete sich zu einem Architekten, über den auch zwanzig Jahre nach seinem frühen Tod am 24. März 1909 die jungen Architekten mit Hochachtung sprachen. »Messel und sein Werk waren in dieser Zeit der einzige Maßstab qualitativer Höchstleistung. Nur hier konnten wir Norddeutschen ler-

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   5   Probleme/Projekte/Prozesse Messels Arbeiterwohnhäuser  Vorige SeiteNächste Seite
aufgeschlossen. Angeregt besonders von der italienischen Renaissance, nahm er Bewahrenswertes auf und führte es schöpferisch fort. palastes, der Weihnachten 1897 eröffnete, hatte seinen Schöpfer schlagartig berühmt gemacht.
     1887 oder 1888 hatte Messel seinen mini-
So wurde aus dem Architekturbeamten der Baukünstler.

Warenhaus-Sensation und Pariser Gold

Mit der Nachricht, daß ihn die Akademie der Künste zu Berlin zum ordentlichen Mitglied gewählt habe, ging Alfred Messel im März 1904 ein Personalfragebogen zu. Gefragt nach seinen Hauptwerken, setzte er an die Spitze das noch nicht vollendete Landesmuseum in Darmstadt, der Stadt, in der er am 22. Juli 1853 als Sohn eines kunstsinnigen jüdischen Bankiers geboren worden war. Als zehnte und letzte Hauptarbeit führte der Architekt das Warenhaus der Brüder Wertheim an der Leipziger Straße/Voßstraße in Berlin auf, von dessen abschließendem Kopfbau am Leipziger Platz eben die Gerüste fielen. Bereits der erste Teil dieses Einkaufs-


Alfred Messel
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   6   Probleme/Projekte/Prozesse Messels Arbeiterwohnhäuser  Vorige SeiteNächste Seite

des Königlichen Kunstgewerbemuseums). Ab 1896 konzentrierte er sich vollends auf sein »Atelier für Architectur und Bauausführung«, das er in Berlin W, Schellingstraße 14 II, gemeinsam mit dem Martin- Gropius- Neffen Martin Altgelt (1858_1924) führte. Das war voll beschäftigt mit Aufträgen für Wohnbauten am Kurfürstendamm und Tauentzien sowie Geschäftshäusern in Berlin-Mitte.
     Mit dem Stahlskelettbau des Wertheim- Kaufhauses an der Leipziger Straße war Messel eine die Baukunst revolutionierende Tat geglückt. Dieses lichtdurchflutete, scheinbar stockwerklose Gebäude, das seinen kommerziellen Zweck nicht mit einer der gewohnten eklektizistischen Prunkfassaden kaschierte, galt schlechthin als das Warenhaus seiner Zeit. »Damals sprach ganz Berlin von dem Warenhausneubau, der am Leipziger Platz und in der Leipziger Straße entstanden war, ... und pilgerte, sooft es irgend ging, dorthin, ob nun ein Einkauf nötig war oder nicht«,


Hof des Gebäudekomplexes in der Proskauer Straße, für den Messel eine Goldmedaille der Pariser Weltausstellung erhielt
schilderte Hans Fallada die allgemeine Begeisterung.3)
     Weit weniger Öffentlichkeitsecho erzeugte der in Schritten 1897 und 1898 vollendete Messelsche Bau im cityfernen Berliner Osten, in Friedrichshain, dem die Pariser Weltausstellung 1900 eine Goldmedaille zuerkannte. Diesen geschmackvoll- stattlichen Block, der zwölf Häuser mit 116 Wohnungen zu einem harmonischen Ganzen
steriellen Dienst als Regierungsbaumeister quittiert und setzte seinen Staatsdienst in der Lehrtätigkeit fort (von 1885 bis 1893 war er Assistent der Bauabteilung der Technischen Hochschule Charlottenburg und danach Professor an der Unterrichtsanstalt
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   7   Probleme/Projekte/Prozesse Messels Arbeiterwohnhäuser  Vorige SeiteNächste Seite
zusammenfaßte, hatte Messel für Arbeiterfamilien im Auftrag des Berliner Spar und Bauvereines projektiert.

Reihenhaustyp für eine Arbeiterkolonie

Wie es dazu kam, daß sich Alfred Messel dem Bau von Arbeiterwohnhäusern zuwandte, offenbart keine Quelle. Dieser Mann hat seine Gedanken und Gefühle in Stein gesetzt – in über fünfzig Bauten, vom Landhaus über Wohnhausgruppen und Geschäftshäuser bis hin zu Museen und Palais. Aufgeschrieben hat er sie nicht. Einige Brieffaksimiles zu Fach- und Auftragsfragen sind hier und da veröffentlicht worden. Briefe an seine Ehefrau Elsa (1873–1945), Tochter des Berliner Bankiers und fünffachen Millionärs Max Altmann (1840–1914), an die drei Töchter oder Messels Brüder in England sind nicht auffindbar.
     Über den Menschen Alfred Messel erzählt lediglich Freund Ludwig Hoffmann: »Die sehr sympathische Erscheinung mit dem fein geschnittenen und klugen Gesicht, sein überaus liebenswürdiges, vornehm zurückhaltendes Wesen und seine große Gewandtheit im Benehmen machten ihn zu einem sehr beliebten Gesellschafter und begehrten Schwiegersohn. Tagsüber in vielseitiger, aufregender Arbeit und des Nachts in lebhaftiger Geselligkeit verbrachte er diese Jahre und legte dabei den Grund

zu seinem frühen Kranksein.«4) Auch das: »Messel beurteilte die Arbeiten der Kollegen sehr streng, noch strenger seine eigenen.
     So liebenswürdig und mild er zumeist war, so scharf sprach er sich oft mündlich und auch schriftlich über die vielen minderen achitektonischen Leistungen unserer Zeit aus. Architekten, die durch der Aufgabe oder ihrer örtlichen Umgebung fremde Absonderlichkeit Aufsehen zu erregen suchten, nannte er >Kunsthochstapler<.«5)
     Über des Freundes Engagement für besseres Arbeiterwohnen jedoch keine Zeile. Lediglich ein vager Hinweis, wie diese Angelegenheit an ihn herangetragen worden sein könnte. Trotz verpatzten zweiten Staatsexamens, das Messel vorerst einmal den Baumeistertitel vorenthielt, sei er ins »Arbeitsministerium« gekommen, ins Ministerium für öffentliche Arbeiten des Staates Preußen also, wahrscheinlich in dessen Abteilung III – Allgemeine Bauverwaltung.6)
     Offensichtlich im dienstlichen Auftrag entwarf der preußische Regierungsbaumeister Messel unter anderem einen Reihenhaustyp für die Arbeiterkolonie der Kaiserlichen Torpedowerkstatt Friedrichsort bei Kiel sowie das Muster eines Zweifamilienhauses der Arbeiterkolonie der Howaldtswerke Kiel. Doch das waren Werkswohnungen für fachlich hochspezialisierte, relativ gut entlohnte Stammarbeiter. Außerdem entstanden die Wohnstätten mit staatlicher Un-
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   8   Probleme/Projekte/Prozesse Messels Arbeiterwohnhäuser  Vorige SeiteNächste Seite
terstützung und konnten auf billigem Baugrund errichtet werden.
     In Berlin sah das ganz anders aus. Hier plante und baute kaum einer für Arbeiter. Dabei zog die rasch wachsende Industrie Tausende in die Stadt. Der Wohnungsbau lag in den Händen privater Kapitalanleger. Und deren Interesse am Wohnungsbau für Arbei-
ter war gering. »Das durchschnittliche Miethserträgniss, namentlich aus Wohnungen für kleine Leute, ist kein so hohes, dass der Hausbesitz als eine begehrenswerthe oder gar wucherische Verzinsung einschließende Kapitalsanlage anzusehen wäre«, legte der Zentralverband der Haus- und städtischen Grundbesitzer seinen Standpunkt zum
Arbeiterwohnungsbau dar.7)
     Die Hausbesitzer überbauten bis zur äußersten Zulässigkeitsgrenze jeden Quadratmeter des Bodens, dessen Preis wilde Spekulationen in schwindelnde Höhe getrieben hatte. An wenige Treppenhäuser (die ja keine Mieteinnahmen brachten) banden sie vielzimmrige Wohnungen an. Da diese für Arbeiter unerschwinglich waren, zeigten die Vermieter insofern »Entgegenkommen«, als sie die Großquartiere in mehrere Küche/ Stube- Segmente sowie Einzelkammern an gemeinsamen Fluren parzellierten. Hier lebten auf engstem Raum kaserniert die Arbeiterfamilien. Die Enge wurde noch drängender, mußten sie an einen Schlafburschen untervermieten, um die eigene Miete aufbringen zu können. Um fast
Projekt zur Weisbach-Gruppe
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   9   Probleme/Projekte/Prozesse Messels Arbeiterwohnhäuser  Vorige SeiteNächste Seite
75 Prozent hatten sich in Berlin die Wohnungsmieten zwischen 1880 und 1890 erhöht. Als Monatsmiete für Küche und Stube waren nun zu entrichten 15,00 bis 25,00 Mark in der äußeren Stadtzone mit Ausnahme des Westens, bis 35,00 Mark in der inneren Stadt. Dem stand ein Monatseinkommen von durchschnittlich 100 Mark gegenüber, das alllerdings nur die »besser situierten« gelernten Fachkräfte erreichten.8)

Mehr Komfort fürs gleiche Geld

Etwa Mitte der 80er Jahre kam es zu einer Verbindung zwischen Alfred Messel und Paul Felix Aschrott (1856-1927), Amtsrichter in Berlin und später vor allem bekannt geworden durch seine Mitarbeit an der Strafrechtsreform. Aschrott, gebürtiger Kasseler, war Hesse wie Messel, ebenfalls Kind

Eckhaus Ebelingstaße 14/ Weisbachstraße
jüdischer Eltern und Bankierssohn, und ihn beschäftigte das Problem, wie - rentabel für Aktionäre von Baugesellschaften, jedoch bezahlbar für Arbeiter - bessere Wohnungen geschaffen werden könnten. Von einem konkreten Bauterrain im Berliner Osten ausgehend, erarbeiteten die beiden den Entwurf eines großstädtischen fünfstöckigen Arbeitermietshauses mit zehn Aufgängen, als Musterempfehlung für private Bautätigkeit. Als Dritter im Bunde trat der Berliner Bankier Valentin Weisbach (1843-1899) in Aktion (wohnhaft später in einer der von Messel erbauten Tiergartenvillen und Schwiegervater von Ludwig Hoffmann).
Unter Weisbachs Regie war 1888/89 aus dem Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen der Verein zur Verbesserung der
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   10   Probleme/Projekte/Prozesse Messels Arbeiterwohnhäuser  Vorige SeiteNächste Seite
Entwürfe zu den Bauten in der Sickingenstraße
kleinen Wohnungen hervorgegangen. Hier war Messel von Beginn an stellvertretender Vorsitzender. Weisbach beschaffte das Geld, mit dem er 1890 nahe dem damals noch nicht eröffneten Ringbahnhof Landsberger Allee ein 1 426 Quadratmeter umfassendes unbebautes Gelände kaufte, später erweitert für eine zusätzliche Häuserzeile. Messel erarbeitete eine Blockrandbebauung. Um einen ungewöhnlich großen Hof mit Wohn- grün und Gemeinschaftseinrichtungen gruppierte er die kleinen Wohnungen. Sie boten einen Raum mehr als die üblichen Stube/ Küche- Unterkünfte. Mehr Miete als diese sollten sie aber nicht kosten.
     Die Backsteinfassaden der insgesamt 38 fünfgeschossigen Mietshäuser der Weisbach- Gruppe, mit Läden im Erdgeschoß, belebte er durch Putzblenden, Balkons, Erker, Giebel und variierte Portale. Die
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   11   Probleme/Projekte/Prozesse Messels Arbeiterwohnhäuser  Vorige SeiteNächste Seite
Pläne für dieses Wohngeviert Weisbach-, Kochhann-, Eberty-, Ebelingstraße erarbeitete Messel – wie auch bei allen seinen Genossenschaftsbauten – kostenlos. Und »im Ehrenamt« hatte er auch die Oberleitung der Bauausführung inne. Die als Pendant zum »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« eingeführte Bismarcksche Sozialgesetz- initiierte Baugenossenschaft. Das Spektrum der Vorstandsmitglieder reichte von dem Sozialreformer Heinrich Freese (1853–1944), der als Fabrikbesitzer 1890 Gewinnbeteiligung für seine Arbeiter und 1899 als erster Industriebetrieb Deutschlands den Achtstundentag einführte, bis zu dem Staatswissenschaftler und Wohnreformer Heinrich Albrecht (1856–1931).9) Mit hoher
gebung ließ die Wohnbedingungen der Arbeiter völlig außer acht. Als letztes trat das Gesetz über die Invaliditäts- und Altersversicherung in Kraft. Eine Initiative im Reichstag erreichte, daß aus den Rücklagen der gesetzlichen Altersversicherung dem Arbeiterwohnungsbau zinsgünstige Kredite gewährt werden konnten. Zum anderen erlaubte das novellierte Genossenschaftsgesetz vom 1. August 1889 nun auch Genossenschaften mit beschränkter Haftung. Wohlhabende Leute mußten fortan nicht mehr die drohende Solidarhaft fürchten. Beide Neuerungen ließen in Berlin neue Baugenossenschaften entstehen.
     In dem am 9. März 1892 ins Vereinsregister eingetragenen Berliner Spar und Bauverein (BSBV) traf Messel auf eine von einflußreichen bürgerlichen Reformern

Sickingenstraße 7/8, Detail der Dachgeschoßgestaltung

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   12   Probleme/Projekte/Prozesse Messels Arbeiterwohnhäuser  Vorige SeiteNächste Seite
Wahrscheinlichkeit war es Albrecht, Leiter des Referats für gemeinnütziges Wohnungswesen der neugegründeten halbstaatlichen Zentralstelle für Arbeiter- Wohlfahrtseinrichtungen, der Messel zur Mitarbeit bewegte: als Vorstandsmitglied und Leiter des genossenschaftlichen Bauausschusses, als Architekten der Genossenschaft.
     Will sich der Interessierte jenes Wohnhaus in der Moabiter Sickingenstraße anschauen, das Messel als erstes für den BSBV verwirklichte, muß er nicht erst nach den Hausnummern 7 und 8 suchen; das auffallend schönste, gediegenste ist es. Es verdeutlicht, was mit der Bitte an die Architekten zu verstehen war, sich »mit etwas Liebe und künstlerischem Können« dem Arbeiterwohnungsbau zuzuwenden. Diesen Appell formulierten Heinrich Albrecht und Alfred Messel in Wort und Zeichnung in ihrem Buch »Das Arbeiterwohnhaus«, erschienen 1896 in Berlin. Es sei nicht egal, ob das Innere des Arbeiterhauses zweckmäßig oder unzweckmäßig gestaltet ist, ob seine äußere Form ansprechend ist oder darauf hinweise, »daß hier eine Menschenklasse wohnt, die von den Lichtseiten des Lebens ausgeschlossen ist«.10) Schon mit dem ersten Arbeiterwohnhaus, das er in der Großstadt realisierte, bewies Messel: »Durch die einfache künstlerische Gestaltung der Linien und Verhältnisse, durch geschickte Wahl und Verwendung des Materials läßt sich ohne viel Kostenaufwand eine Außen-
seite erzielen, auf der das Auge mit Befriedigung ruht.«11) Waren im damaligen Berlin Stube und Küche die »normale« Arbeiterwohnung, konnten im Moabiter Doppelhaus auch größere bezogen werden. Und: Jede der in sich abgeschlossenen Wohnungen erhielt ein Innen-WC!
     Mit einer fatalen Konsequenz der in den behördlichen Bebauungsplänen festgelegten Straßenführung hatte Messel auch hier fertig zu werden: »Die unsinnig tiefen Baublocks von 100 und mehr Meter Tiefe, wie sie z. B. in Berlin die Regel bilden, zwingen geradezu zur Anlage von Höfen mit Seitenflügeln und Quergebäuden oder zu einer ganz unrentablen Verschwendung von Bauland, durch welche die Mieten ganz unnütz verteuert werden.«12) Beim Baugrundstück Sickingenstraße 7/8 stand einer Straßenfrontbreite von 36 Metern eine Tiefe von nicht ganz 80 Metern entgegen. Das zwang den Architekten, an das Doppelvorderhaus zwei Seitenflügel anzubinden, und – symmetrisch zum Vorderhaus – freistehend ein weiteres Gebäude dahinterzusetzen.
     Da es aber die Genossenschaft finanziell ermöglichte, weniger als die Hälfte des Areals zu überbauen, blieb genügend Raum für den großzügig begrünten Innenhof und einen separaten geräumigen Kinderspielplatz. – Ab dem 1. Oktober 1894 und dem 1. April 1895 zogen die Bewohner ein.
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Wohnoasen in Westend, Berlin N und O

Das Berliner Adreßbuch 1906 weist für die Häuser Ulmenallee 31/Eschenallee 8 in Westend folgende Berufe der Bewohner aus: drei Steindrucker und einen Schriftsetzer, je zwei Kupferschmiede, Schlosser und Dreher, ferner einen Tischler, zwei Bürogehilfen,

nannte) das »Ulmeneck« leider abreißen, weil ihr das Geld für eine Instandsetzung fehlte.
     Als nächstes, weit umfangreicheres Projekt folgte die bereits erwähnte Gebäudegruppe an der Proskauer Straße mit Einzug in die Mirbach(heute Bänsch-) und Schreinerstraße, bei deren architektonisch- künstlerischer Gestaltung sich
einen Postbeamten und einen Wächter. Weiterhin wohnten in dieser Eckbebauung eine Witwe und der Gastwirt, der die Genossenschaftswirtschaft im Hause betrieb. Bezugsfertig war dieses zweite BSBV-Haus im Jahre 1897 geworden.
     Eine Arbeiterwohnanlage in den vornehmen Vorort Westend hinzusetzen – dieses Vorhaben hatte den Widerstand der Anwohner entfacht. Messel legte jedoch einen Entwurf vor, der den ökonomisch hart kalkulierten Zweizimmerwohnungen mit Küche ein Äußeres verlieh, das die benachbarten Villenbesitzer besänftigte und den hier geltenden Vorgaben der Baupolizeiordnung für einen »landhausmäßigen Stil« genügte. 1977 ließ die »Berliner Bau- und Wohnungsgesellschaft von 1892« (wie sich der BSBV 1942 umbe-

Stargarder/ Greifenhagener Straße

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   14   Probleme/Projekte/Prozesse Messels Arbeiterwohnhäuser  Vorige SeiteNächste Seite
der BSBV- Baumeister frei von einengenden Vorschriften entfalten konnte.
     Gegenüber der Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg entstanden die Wohnbauten Stargarder Ecke Greifenhagener Straße: Randbebauung um einen gärtnerisch gestalteten Hof (hier mit Gartenhaus) zum Kinderspiel und zur nachbarschaftlichen Erholung. Dazu Gemeinschaftseinrichtungen: Waschhäuser, Baderäume, Kindergarten, Genossenschaftsläden und -wirtshaus mit Saal für Geselligkeit, Bildungsveranstaltungen und Bibliothek.
     Als am 1. Oktober 1900 dieser Genossenschaftsblock bezugsfertig wurde, waren die 115 Wohnungen innerhlb eines Tages vergeben. Die hier nach hartem Sparen für ihren Genossenschaftsanteil einzogen, hatten ein Zuhause gefunden, das ihnen und ihren Erben gehörte. Hielten sie den mit der Genossenschaft abgeschlossenen Mietvertrag ein, konnte ihnen nicht gekündigt werden, Mietwucher war ausgeschlossen.
     Die Fassade der Gruppe Stargarder Straße verrät im Gestaltungsdetail bereits die Handschrift des Messelschülers Paul Kolb. Sein Lehrer, seit 1898 nicht mehr Vorstandssondern Aufsichtsratsmitglied des BSBV, beendete 1902 die Mitarbeit in der Genossenschaft. Nicht unwesentlich dürfte zu dieser Entscheidung Messels beigetragen haben, daß der Baulanderwerb immer schwieriger wurde und für ein in Tempelhof bereits gekauftes Terrain die dortigen
Behörden unter fadenscheinigen Vorwänden die Baugenehmigung verweigerten.13) Aber Kundenwünschen nach Villen im Grunewald, Landhäusern am Wannsee waren weitere gefolgt. Ersuchen nach Geschäftshäusern Unter den Linden und ihrer Nähe lagen bei dem gefragten Baukünstler vor. Hinzu kamen Aufträge für öffentliche Gebäude in Berlin und außerhalb. Eine anrührende Würdigung Alfred Messels, der einen Teil seines zu kurzen Lebens den kleinen Leuten und ihren Sorgen widmete, findet sich in dem Text, den der Berliner Spar- und Bauverein dem auf dem Alten St.- Matthäus- Kirchhof zu Berlin Beigesetzten nachrief: »... er war der Mitarbeiter, der jahrelang in unendlich vielen Sitzungen und Beratungen die Wünsche der Genossen anhörte und mit bewundernswerter Hingabe liebevoll auf sie einging, soweit er es mit seinem bereits damals klangvollen Namen als Künstler vereinen konnte ...«14)

Quellen:
1     Ludwig Hoffmann, Lebenserinnerungen eines Architekten, Berlin 1983, S. 52
2     Dr.-Ing. Paul Zucker, in: »Deutsche Bauzeitung«, Berlin, Nr. 24/1929
3     Hans Fallada, Damals bei uns daheim ..., Berlin u. Weimar 1982, S. 48
4     Ludwig Hoffmann, a. a. O., S. 189
5     Ebenda, S. 192
6     Vgl. ebenda, S. 56
7     A. Strauss, Die deutsche Wohnungsfrage,

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   15   Probleme/Projekte/Prozesse Messels Arbeiterwohnhäuser  Vorige SeiteAnfang
hrsg.vom Zentralverband der Haus- und städtischen Grundbesitzervereine Deutschlands, Leipzig 1890 (zitiert nach: »Deutsche Bauzeitung«, Berlin, Nr. 28/1981
8     Vgl. Heinrich Albrecht: Die Wohnungsnot in den Großstädten und die Mittel zu ihrer Abhülfe, München 1891, S. 22/23
9     Vgl. Klaus Novy, Barbara v. Neumann (Hrsg.): Zwischen Tradition und Innovation – 100 Jahre Berliner Bau- und Wohnungsgenossenschaft von 1892, S. 14–19
10     H. Albrecht, Das Arbeiterwohnhaus. Mit Entwürfen von Prof. A. Messsel, Berlin 1896, S. VI
11     Ebenda, S. VI
12     Ebenda, S. 33/34
13     Vgl. Max Kromrey, a. a. O., S. 46–48
14     Klaus Novy, a. a. O., S. 23

Was existiert von Messel noch in Berlin?

Die Objekte sind in ihrer ursprünglichen Bestimmung genannt; ihr Standort ist mit den heutigen Straßennamen und Hausnummern angegeben.
     Mitte: Volkskaffeehaus, Neue Schönhauser Straße 13 (1890/91); Volkskaffeehaus Chausseestraße 105 (1891/92); Bankhaus der Berliner Handelsgesellschaft, Behrenstraße 32/33, Französische Str. 42 (1899/1900); Landesversicherungsanstalt, Am Köllnischen Park 2 a/3 (1903/04); Warenhaus A. Wertheim, Rosenthaler Straße, erhaltener Seitenflügel Sophienstraße 12–15 (1905); Perga-

mon- Museum (reduziert verwirklicht von Ludwig Hoffmann 1912–1930).
     Schöneberg: Lettehaus, Schulgebäude des Lette- Vereins (in Teilen erhalten), Viktoria- Luise- Platz 6 (1901/02).
     Tiergarten: BSBV- Wohnhaus, Sickingenstraße 7/8 (1894/95).
     Friedrichshain: BSBV- Wohnblock Proskauer Straße 15, Schreinerstraße 63–64; Weisbach- Wohngruppe Kochhannstraße 13–14, Ebertystraße 11–12, Ebelingstraße 12–13, Weisbachstraße 1–4 sowie Weisbachstraße 5–8 (1899/1906). Lückenbauten nach Kriegszerstörungen sind bei beiden Komplexen nicht mit aufgeführt.
     Prenzlauer Berg: BSBV- Wohnanlage Stargarder Straße 3–5, Greifenhagener Straße 56–57 (1899/1900).
     Charlottenburg: Auguste- Viktoria- Haus, Säuglingsheim, Heubnerweg 6 (zusammen mit Ludwig Hoffmann, 1907/09).
     Wilmersdorf: Villa Wilhelm Wertheim (mit Um- und Anbauten), Lassenstraße 4 (1899); Villa Franz Wertheim, Furtwänglerstraße 11 (um 1900).
     Zehlendorf: Landhaus Fritz Springer, Am Großen Wannsee 39 (1901/02); Landhaus Franz Oppenheim, Zum Heckeshorn 38 (1908).
     Köpenick: Familiengrabstätte Rathenau, Waldfriedhof Oberschöneweide, An der Wuhlheide (nach Gesamtentwurf von Messel 1904).

Bildquellen: Martin Küster, Archiv

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