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Hans Aschenbrenner
11. Oktober 1908:

Gordon-Bennett-Preis der Lüfte

In den Vormittagsstunden des 11. Oktober 1908 ist Schmargendorf das Ziel Tausender. Sie wollen dabeisein, wenn auf dem in unmittelbarer Nachbarschaft der Gasanstalt befindlichen Terrain des Berliner Vereins für Luftschiffahrt die Vorbereitungen für den Wettkampf um den Gordon-Bennett-Preis der Lüfte beginnen. Erst zum drittenmal wird der vom US-amerikanischen Millionär James Gordon Bennett gestiftete Wanderpokal für Freiballons und Luftschiffe (zuvor schon, im Jahre 1900, hatte er einen ähnlichen Preis für Automobilrennen ausgesetzt) ausgetragen. 1906 hatte diese Ballonkonkurrenz Premiere; gestartet wurde bei Paris, und es siegte der Amerikaner Frank P. Lahm, der seinen Ballon über den Ärmelkanal 647 Kilometer weit bis nach Flyinghall in Yorkshire führte. Die Regeln besagen, daß der Preis jeweils im Land des Vorjahressiegers verteidigt werden soll. Nach dem Sieg von Oskar Erbslöh mit dem Berliner Ballon »Pommern« beim im Oktober 1907 von St. Louis aus veranstalteten Bennett-Wettfliegen fiel Deutschland die Aufgabe zu, die nächste Wettfahrt zu organisieren. In ziem-

lich guter Erinnerung ist noch immer die erste internationale Wettfahrt der Lüfte in Berlin, die am 14. Oktober 1906 zur Feier des 25jährigen Bestehens des Berliner Vereins für Luftschiffahrt von der Gasanstalt Tegel aus gestartet wurde (vgl. BM 10/96).
     Jetzt, zwei Jahre später, hat man sich nicht für Tegel, sondern für das Schmargendorfer Aufstiegsterrain entschieden. Um hierher zu gelangen, haben die Große Berliner Straßenbahngesellschaft wie auch die Direktion der Stadt- und Ringbahn Vorkehrungen getroffen. So wird für die nicht wagen- oder automobilfahrenden Besucher die Benutzung der Ringbahn bis Schmargendorf (heute Hohenzollerndamm)oder auch Halensee empfohlen. Mit Motoromnibussen gelangt man zum Berliner Platz, also in unmittelbare Nähe des riesigen abgesperrten Geländes. Mit der Straßenbahn ist es immerhin möglich, nach Halensee oder zum Fehrbelliner Platz zu fahren, um dann zu Fuß weiterzugehen.
     Auf mehr oder weniger weite Fußmärsche haben sich die Schaulustigen gefaßt gemacht. Kaum einer, wo auch immer, kann fehlgehen, läßt er sich erst einmal im Strom der Völkerwanderung mitschieben – mittendrin schimpfende Kutscher, tutende und stinkende Automobile, Angehörige der Sanitäts- und Rettungsmannschaften, die sich mühsam ihren Weg durch die Menge bahnen, auch Gendarmen, die sich nicht selten vergeblich bemühen, die Wege freizuhalten.
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Die Füllung der Ballons zum Gordon-Bennett-Flug auf dem Sportplatz Schmargendorf

Das »Berliner Tageblatt« vermittelt schon am 9. Oktober, vorab sozusagen, einen Vorgeschmack dessen, worauf man sich einstellen sollte: »Feinmehliger Sand bedeckt die Zugangsstraßen, stellenweise versinkt der Fuß bis an den Knöchel, und eine Wolke umhüllt die Schreitenden. Einige der Straßen sind gepflastert, aber die bequemsten führen über brachliegendes, vertrocknetes Wiesen- und Baugelände. Gärtnereien und Laubenkolonien liegen längs des Weges zwischen Schuttabladestellen und Holzfeldern. Hohe Bretterstapel beengen den Blick, und Zäune versperren geheimnisvoll irgend eine Gleichgültigkeit. Der Hohenzollerndamm, die Hauptzugangsstraße zu dem Schauplatz des Internationalen Ballonwettfliegens, prangt im Schmuck einiger Baumreihen, die winzig und klapperdürr die Straße besäu-

men. Die Cunowstraße bildet die eigentliche Verbindung mit dem Startplatz. Links sieht man die Gasanstalt, unmittelbar daran schließen sich die Tribünen; rechts davon schweift das Auge über ununterbrochene öde Flächen zu den weißen Wänden einiger Mietskasernen.«
     Gegen Mittag herrscht auf dem Ballonschlachtfeld, bei prächtigem Herbstwetter, reges Treiben. In der Zeitung »Germania« findet sich am 11. Oktober eine exakte Beschreibung des für den Aufstieg vorgesehenen Terrains. Den Start- und Füllplatz, so wird geschildert, »umschließen, amphitheatralisch ansteigend, fünf große Tribünen mit etwa 20000 Sitzen, auf den Stehplätzen vor ihnen finden weitere 100000 Zuschauer Platz als Zeugen des unmittelbar vor ihrem Auge sich vollziehenden Schauspiels. Auf
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Übersichtsplan für die Veranstaltungen der internationalen Ballonwettfahrten Berlin 1908

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der nördlichen Tribüne hat die Hofloge Platz gefunden. Eine riesige Ballonhalle gewährt gegen 70 Luftfahrzeugen Schutz und Aufnahme. Die Polizei ist in besonderer Organisation für die Ballonwoche auf dem Sportplatze untergebracht worden, auch für Ambulanzen wurde in weitestgehendem Maße Fürsorge getroffen.«
Das Terrain ist so groß, daß man überall bequem und gut stehen kann. Auffällig leer bleiben die Tribünen, und selbst viele derjenigen, die einen Zehnmarkplatz erworben haben, ziehen die Stehplätze wohl vor allem des Fluidums wegen vor, um das gleichzeitige Füllen der Ballons, das Fertigmachen, Anknebeln der Körbe, das Beladen mit Zubehör und dem so wichtigen Ballast mitzuerleben. Dafür ist ein großer Platz hermetisch abgesperrt. Für die an der Ballonkonkurrenz teilnehmenden 23 Ballons – je drei aus den Vereinigten Staaten, aus Frankreich, Belgien, England, Spanien, Italien und Deutschland, zwei aus der Schweiz (im Jahr zuvor waren es neun Ballons von vier Nationen) – sind ebenso viele Füllstellen eingerichtet, die über ein Rohrsystem von der Gasanstalt aus gespeist werden. Es können in der Stunde 22000 Kubikmeter Gas geliefert werden.
Noch in den letzten Minuten vor dem Start wird allerortens intensiv gepackt. Zur Hilfe bei den Vorbereitungsarbeiten sind 47 Unteroffiziere sowie 585 Luftschiffer und Infanteristen abgestellt.
     Held des Tages ist Vorjahressieger Oskar Erbslöh, der neben und in der Gondel, auf dem Befestigungsring sitzend, in der Strickleiter hängend »geknipst« und »gekurbelt« wird, was der beliebte Aeronaut gern über sich ergehen läßt.
     Pünktlich um drei Uhr nachmittags beginnt der Start, bei dem die Ballons in ausgeloster Reihenfolge in Minutenabständen in die Luft gebracht werden sollen. Verglichen mit dem, was die Ballonführer und ihre Begleiter erwartet, ist die vom Berliner Verein für Luftschiffahrt am Vortag veranstaltete internationale Zielfahrt (22 Ballons; Ziel ist eine Windmühle sieben Kilometer östlich von Oranienburg beim Dorf Schmachtenhagen) fast so etwas wie eine Spazierfahrt. Für den 12.Oktober ist, gleichfalls im Rahmenprogramm, noch eine internationale Dauerfahrt (38 Ballons) vorgesehen. Bei der Gordon-Bennett-Wettfahrt kommt es hingegen darauf an, sich nicht nur lange in der Luft zu halten, sondern vom Startpunkt aus gesehen so weit wie nur möglich zu landen (es gilt die Luftlinie). Den Reigen der Starter eröffnet »Amerika II«, den die Soldaten erst noch nach einer Anhöhe tragen, um die Auffahrt im Hinblick auf die nahe liegenden Gasanstaltsgebäude sicherer zu gestalten.
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Auf diese Weise starten nacheinander auch die anderen Bewerber um den begehrten Pokal. Unter brausendem Jubel und den Klängen von Musik geht »Amerika II« auf die Reise, nicht ohne noch eine Sandflut auf die dichte Menge abzuwerfen. Lähmendes Entsetzen bringt dann der an neunter Stelle startende amerikanische Ballon »Conqueror« über die Zuschauer, der zunächst gegen die Umzäunung des Startplatzes schlägt, verschiedene Planken abreißt, hastig einige Säcke Ballast opfert und sehr schnell fast senkrecht nach oben schießt. Plötzlich zerreißt er und nähert sich in raschem Fall der Erde. Durch Auswerfen des Ballastes wird der Fall abgebremst, die Hülle bauscht sich fallschirmartig auf, und der ganze Rest landet mit zum Glück unverletzten Insassen auf dem Dach des Hauses Wilhelmshöher Straße Nr.7 in Friedenau. Der Schrecken ist bald überwunden, als nächster startet unter lauten Hurrarufen der Verteidiger des Bennett-Pokals Oskar Erbslöh. Weiter geht es dann, bis nach anderthalb Stunden schließlich auch der letzte Ballon davonfliegt. Damit ist das Schauspiel
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zu Ende. Einige kleine Punkte sind am Horizont noch zu sehen, während sich die Massen längst zerstreuen.
     Noch kann niemand wissen, daß die gerade gestartete Konkurrenz als eine der abenteuerlichsten in die lange Geschichte der Bennett-Wettfahrten eingehen soll. Mitunter muß sogar befürchtet werden, daß das Ganze mit einigen Katastrophen endet. Frischer Wind führt die Ballons zunächst in südöstlicher Richtung voran. Das haben die Meteorologen auch vorausgesagt, und den Besatzungen werden deshalb sogar in russischer Sprache ausgestellte Empfehlungsschreiben mitgegeben. Dann aber schlägt in der Nacht – der erste Ballon steht bereits in Höhe Prag – der Wind um 180Grad um, und sie werden zurück in Richtung Nordsee getrieben. Die meisten von ihnen gehen dicht vor der Nordseeküste nieder. Drei Ballons treiben aufs Meer hinaus: der deutsche Ballon »Busley«, der spanische Ballon »Castilla« und der amerikanische Ballon »St. Louis«. Sie werden jedoch noch rechtzeitig von zu Hilfe eilenden Schiffen aufgelesen. Sieger werden schließlich die Schweizer Oberst Theodor Schaeck und Oberleutnant Emil Messner, die ebenfalls den Flug über die See wagen und am Ende mit ihrem Ballon »Helvetia« in 73 Stunden 1212 Kilometer weit fliegen. Sie landen bei Molde in Norwegen nach etwa zweistündiger Fahrt im Schlepptau eines norwegischen Dampfers, der ihre Rufe um Auskunft mißdeutet und
für Hilferufe hält. Diesem Mißverständnis ist es vor allem zu verdanken, daß die Rekordfahrt letztlich anerkannt wird. Proteste, die sich auf die laut Reglement geforderte Landung auf festem Territorium und ohne fremde Hilfe berufen, werden geprüft und zurückgewiesen. Mittels einer in der norwegischen Zeitung »Aftenposten« vom 19. Oktober reproduzierten Fotografie kann sogar nachgewiesen werden, daß sich der Ballon »Helvetia« während der Schleppfahrt »schwebend« gehalten hat. Selbst bei Abzug der zweistündigen Dampferschleppfahrt, die auf 22 Kilometer geschätzt wird, liegt eine riesige Distanz zwischen dem Sieger und dem englischen Ballon »Banshee«, der 478,75Kilometer vom Startplatz entfernt landet und damit den zweiten Platz belegt. Der Sieger erhält außer dem Gordon-Bennett-Wanderpreis – die Unter den Linden ausgestellte Trophäe wird in der ersten Oktoberhälfte von Hunderten in Augenschein genommen – noch 12500 Francs, gegeben vom Stifter des Pokals, weitere Gelder und ein Kunstwerk in Bronze »Der Sieger«, beigesteuert von der Sektion Düsseldorf des Niederrheinischen Vereins für Luftschiffahrt.

Bildquellen:»Berliner Lokal-Anzeiger« vom 3.Oktober 1908; Archiv Autor

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