30   Berliner Gespräche Zimmertheater Karlshorst  Nächste Seite
Zuschauern. Wir begrüßen unsere Gäste persönlich, sitzen in der Pause und nach der Vorstellung mit ihnen bei einem Glas Wein zusammen und reden mit ihnen, manchmal bis nach Mitternacht. Wir sind gewissermaßen ein Theater zum Anfassen. Und: Alles ist live, ohne Übertragungstechnik, ohne Verstärkung, mit relativ primitiven Mitteln und in ganz einfacher Ausstattung. Wahrscheinlich einmalig in Berlin ist, daß wir keinen Eintritt nehmen. Wir erklären aber vorher, was wir für sympathische und arme Leute sind. Niemandem wird etwas in den Weg gelegt, wenn er in den Hut, den wir hinstellen, auch etwas hineinpackt.
     Und das funktioniert?
     Wolfgang Helfritsch: Das funktioniert, aber natürlich kann keiner der Akteure davon leben. Es reicht gerade mal so, um die Unkosten zu decken, beispielsweise die Tantiemen zu bezahlen. Aber der Vorteil besteht darin, daß jeder Besucher selbst entscheiden kann, wieviel er für so einen Theaterabend ausgibt. Wenn Studenten da sind, denen das Bafög gerade ausgegangen ist, entschuldigen sie sich fast, wenn sie nichts in den Hut getan haben. Es gibt Pensionäre, die relativ gut dastehen, die packen dann auch was rein. Anderen geht es nicht so gut, sie können weniger geben, wissen aber, daß sie genauso willkommen sind.
     Welcher Tradition fühlt sich das Zimmertheater verpflichtet?
     Wolfgang Helfritsch: Jede besondere

Ein Theater, das aus dem Hut lebt

Wolfgang Helfritsch über fünf Jahre Zimmertheater Karlshorst

Ungewöhnlich ist manches an diesem Theater, und ungewöhnlich beginnt auch unser Gespräch: im Kleintransporter. Wolfgang Helfritsch, Kraftfahrer, Theaterleiter, Mitspieler, Regisseur, Texter und bei Bedarf sicher noch vieles mehr, muß schnell noch einige der kleinen Sessel zur Reparatur bringen, in denen die Zuschauer zweimal wöchentlich Platz nehmen. Diese Sessel haben ganz offensichtlich unter dem sich begeistert zurücklehnenden Publikum gelitten und müssen neu geleimt werden. Fünf Jahre existiert das Zimmertheater Karlshorst, beheimatet im alten Kulturhaus direkt am S-Bahnhof. Jeden Freitag und Sonnabend um 20 Uhr kann man, an Tischen sitzend und umgeben von viel rotem Plüsch, eine Vorstellung erleben, die ganz und gar nicht plüschig ist.
     Was ist das Besondere am Zimmertheater?
     Wolfgang Helfritsch: Wir bieten Theater der kleinen musikalisch-literarischen Form, auch in personell kleiner Besetzung. Der Raum faßt rund 45 Personen, man sitzt an kleinen Tischen, es gibt also gar keine Entfernung zwischen den Akteuren und den

SeitenanfangNächste Seite


   31   Berliner Gespräche Zimmertheater Karlshorst  Vorige SeiteNächste Seite
Form des Theaters bezieht sich ja irgendwie auf die 20er Jahre. Und wir freuen uns darüber, daß diese kleine Form jetzt wieder in vielen Berliner Stadtbezirken geboten wird. Das hängt auch mit dem relativ geringen Aufwand zusammen. Man braucht keine großen Räume, nicht viel Nebengelaß, und alles läßt sich mit einer kleinen Truppe betreiben. Wir machen das, wie der Berliner sagt, aus Spaß an der Freude.
     Das Zimmertheater hat sich 1991 als Verein gegründet, es ist hervorgegangen aus dem Ostberliner Lehrerensemble. Wer sind heute die Darsteller, Musiker und Texter?
     Wolfgang Helfritsch: Wir sind eine Mischung von Berufsschauspielern, Berufsmusikern und gestandenen Amateuren und engagierten Anfängern. Von den damals 14 Ensemblemitgliedern sind zwölf
bei der Neugründung dabeigewesen, aber es sind nicht alle dabeigeblieben. Für das »Theater im 12. Stock« im Haus des Lehrers waren die Vorstellungen ein halbes Jahr

Wolfgang Helfritsch, Theaterleiter, Texter, Regisseur und bei Bedarf noch vieles mehr in »Ach, sind die anderen komisch!«

SeitenanfangNächste Seite


   32   Berliner Gespräche Zimmertheater Karlshorst  Vorige SeiteNächste Seite
vorher ausverkauft. Keiner der Akteure mußte sich um das Umfeld kümmern. Heute machen wir alles selbst, und das haben einige nicht durchgestanden. Wir sind insgesamt 17 Vereinsmitglieder aus allen Berufsgruppen, Lehrer, Schauspieler, Sozialpädagogen, Diplomingenieure, Studentinnen, Rentner, auch ein Kneipier aus Lichtenberg ist dabei.
     So ein Theater zum Anfassen verlangt ja ein ganz bestimmtes Programm. Sie sind Vorstandsmitglied der Tucholsky-Gesellschaft, ist das Zimmertheater ein Kabarett für Tucho-Texte?
     Wolfgang Helfritsch: Nein, aber auf die Tradition des klassischen Kabaretts, das Tucholsky mitbegründet hat, beziehen wir uns natürlich. Tucholsky war ja ein Publizist, der sich den kleinen Dingen des Alltags mit ebensolcher Intensität widmete wie den großen Fragen seiner Zeit. Und darum bemühen wir uns auch. Viele seiner Texte scheinen aktuell zu sein. Bedrückend aktuell, möchte ich fast sagen, aber wir versuchen auch, aktuelles Kabarett im Tucholskyschen Sinne zu machen. Wir bieten Programme in drei Genres, kabarettistisches Theater, musikalisch-literarische Programme, wobei beide auch ineinander übergehen können, und Sprech-Theater.
     Und was erwartet das Publikum von einem so intimen Theater?
     Wolfgang Helfritsch: Viele Leute kommen, um ihre Auffassung bestätigt zu finden.
Sie wissen, daß die Leute, die da auf der Bühne stehen, dieselben Probleme haben wie sie und wollen die auch angesprochen haben. Andere wollen sich informieren oder einfach nur mal wieder lachen können. Da muß man natürlich wissen, worüber wann gelacht wird. Wir haben schon zu DDR-Zeiten das Tucholsky-Programm gespielt, mit einem schönen provozierenden Text, »Die Zentrale«. In dem heißt es unter anderem: »Die Zentrale weiß alles besser, die Zentrale hat die Übersicht, den Glauben an die Übersicht und eine Kartothek. In der Zentrale sind die Männer mit unendlichem Stunk untereinander beschäftigt, aber sie klopfen dir auf die Schulter und sagen, lieber Freund, Sie können das von Ihrem Einzelposten aus nicht so beurteilen. Hier in der Zentrale sitzen nicht die Klugen, sondern die Schlauen. Wer nämlich seine kleine Arbeit macht, der mag klug sein, schlau ist er nicht.« Das Publikum hat euphorisch reagiert zu DDR-Zeiten. Ich mußte dann, wenn ich den Text sprach, schon sagen: »Meine Damen und Herren, Tucholsky, 1926!«, um die Leute wieder ein bißchen zu dämpfen. Und nun kam die Wende. Wir haben den Text weiter im Programm gehabt und uns schrecklich gewundert, daß die Leute nicht mehr reagierten. Die Zentrale gab es nicht mehr. Das Problem war nun erledigt. Ein halbes Jahr lang, dann hatte sich die neue Zentrale etabliert, und die Leute bogen sich wieder vor Lachen.
SeitenanfangNächste Seite


   33   Berliner Gespräche Zimmertheater Karlshorst  Vorige SeiteNächste Seite
     Fünf Jahre Zimmertheater – was steht im Jubiläumsjahr auf dem Programm?
     Wolfgang Helfritsch: Das
»Ekel Alfred«, Szenen von Wolfgang Menge auf das Zimmertheater umgesetzt. Dann spielen wir zwei Kabarett-Programme, »Von Sumpf zu Sumpf« und »Mittenrein und knapp vorbei«, Untertitel »Vor- und Nachwendisches aus Helfritschs Haus- und Hofpostille«. Neu ist auch »Zwischen Manko und Manna«, ein Frauen-Programm, das literarisch-musikalisch Männer-Frauen-Probleme aufs Korn nimmt. »Zwischen Manko und Manna« deshalb, weil der Begriff »Mann« im Lexikon zwischen den Begriffen »Manko« und »Manna« steht. Dann haben wir ein Friedrich-Hollaender-Programm, »Der nichtfliegende Hollaender«. Es stellt ihn vor allem als

Programmzettel mit einer Karikatur von Harald Kretzschmar

SeitenanfangNächste Seite


   34   Berliner Gespräche Zimmertheater Karlshorst  Vorige SeiteAnfang
Texter, als Kabarett-Autor vor, also nicht nur als Komponisten gängiger Melodien wie »Die fesche Lola« oder »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt«. Weniger bekannt ist, daß er während der Emigration in den USA als Filmkomponist eine neue Karriere gemacht hat. Die Musiken für etwa 170 Hollywood-Filme, zum Teil Western, stammen von ihm, er hat auch Regie geführt. Als er 1955 nach Deutschland zurückgekommen ist, hat er sehr darunter gelitten, daß er an seine Erfolge in den 20er Jahren nicht mehr anknüpfen konnte. Er hat die Filmmusik zum »Spukschloß im Spessart« geschrieben und einige Chansons, aber er war doch ziemlich enttäuscht. Den Titel »Der nichtfliegende Hollaender« wählten wir, weil er unter Klaustrophobie litt und deshalb zum Beispiel vermieden hat, ein Flugzeug zu besteigen. Das brachte ihm in Amerika den Spitznamen »nichtfliegender Hollaender« ein.
     Das Zimmertheater in Karlshorst hat inzwischen sein Stammpublikum, das nicht nur aus dem Lichtenberger Heimatbezirk kommt, es war schon einige Male auf Tournee. Das klingt wie eine einzige Erfolgsstory.
     Wolfgang Helfritsch: Jetzt sieht es ganz gut aus, aber wir haben drei Jahre zu tun gehabt, um etwas bekannt zu werden in Berlin. Es passierte nicht nur einmal: Wir waren vorbereitet auf die Vorstellung, hatten die Getränke rangeschleppt, die Dekoration aufgebaut, fünf Leute standen auf der Bühne
und warteten dann auf die Zuschauer, die nicht kamen. Manchmal kamen gerade so viele, wie auch auf der Bühne standen. Die haben wir dann natürlich nicht weggeschickt, sondern mit ihnen einen Schluck Wein getrunken, haben ihnen gesagt was an dem Abend gelaufen wäre und ihnen angeboten, sich aus dem Programm etwas auszusuchen. Der Pianist ist dageblieben, wir haben zwei, drei Chansons geboten oder zwei, drei Texte und mit den Leuten geredet. Und sie sind wiedergekommen.
     Vor zwei Jahren gab es ein Programm zum hundertjährigen Bestehen des Ortsteils Karlshorst. Fühlt sich das Zimmertheater dem Bezirk Lichtenberg besonders verbunden?
     Wolfgang Helfritsch: Hier wohnt ein Großteil unseres Stammpublikums, das sich natürlich fürs heimatliche Territorium besonders interessiert. So haben wir versucht, Interessantes aus der 100jährigen Karlshorster Geschichte mitzuteilen, haben dafür in Archiven und heimatgeschichtlichen Sammlungen gewühlt. Jetzt sind wir dabei, ein Programm zum 100. Jahrestag des Rathauses Lichtenberg zu machen.
     »Im Rathaus brennt noch Licht« wird es heißen und ab November laufen. Originellerweise wurde das Rathaus Lichtenberg am 11. 11. 1898 eingeweiht.
     Das Gespräch führte Jutta Arnold

Bildquelle:
Zimmertheater Karlshorst

SeitenanfangAnfang

© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de