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Horst Wagner
Lise Meitners Flucht aus Deutschland

»Mit Hilfe unseres langjährigen Freundes Paul Rosbaud wurden in der Nacht die notwendigsten Kleider und Wertgegenstände Lise Meitners gepackt. Für dringende Notfälle übergab ich ihr einen schönen Brillantring, den ich als Erbstück meiner verstorbenen Mutter zwar nie getragen, aber immer gut aufgehoben hatte. Am Morgen . . . fuhr Lise Meitner in aller Heimlichkeit mit Professor Coster dem sehr unsicheren Tag entgegen. Wir hatten ein Schlüsselwort verabredet, mit dem uns das Gelingen oder Mißlingen der Fahrt telegrafisch mitgeteilt werden sollte. Die Gefahr für Lise Meitner bestand in den mehrfachen Kontrollen in den nach dem Ausland fahrenden Eisenbahnzügen durch die SS. Immer wieder wurden Menschen, die ins Ausland zu gelangen versuchten, in der Bahn festgenommen und zurückgeholt . . . Ich werde den 13. Juli 1938 nie vergessen.«1) So erinnert sich Otto Hahn (1879–1968) in seiner Autobiographie »Mein Leben« an den Tag, an dem seine berühmte Forscherkollegin wegen der wachsenden Bedrohung durch die Nationalsozialisten Deutschland verlassen mußte.
     Die 1878 in Wien geborene Lise Meitner

hatte von 1912 bis 1914 und dann wieder ab 1917 am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin gearbeitet und gemeinsam mit Otto Hahn zum Thema der Uranspaltung geforscht. 1926 war sie gleichzeitig zum Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle gewählt und zum außerordentlichen Professor für Physik an der Berliner Universität ernannt worden. Als die Nationalsozialisten 1933 ihre Diktatur errichteten, hatte Lise Meitner zunächst noch Illusionen über die neuen Machthaber. In einem Brief an Otto Hahn, der sich zu dieser Zeit auf einer Vortragsreise in den USA befand, schrieb sie am 21. März 1933, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft habe zwar Hakenkreuzfahnen gekauft und sei angewiesen worden, sie am Tag der ersten Sitzung des neuen Reichstages zu hissen. Aber Hitlers im Radio übertragene Rede habe doch »sehr moderat geklungen, taktvoll und versöhnlich. Vielleicht entwickelt sich doch alles positiv«.2)
     Nachdem am 7. April 1933 das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« verkündet worden war und innerhalb eines Monats 164 zumeist »nichtarische« Professoren aus ihren Lehrämtern gejagt wurden, verlor freilich auch Lise Meitner ihre Lehrbefugnis für die Linden-Universität. Ihre Forschungstätigkeit am Kaiser-Wilhelm-Institut konnte sie zunächst unbehelligt fortsetzen. Sie sah sich durch ihre österreichische Staatsbürgerschaft vor weiteren Ver-
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folgungen geschützt. Das änderte sich schlagartig, als sich Nazideutschland im März 1938 Österreich einverleibte. Dadurch wurde sie automatisch deutsche Staatsbürgerin und war fortan den nationalsozialistischen Rassengesetzen voll unterworfen. Deshalb bestand für sie die Gefahr, ins Konzentrationslager eingeliefert zu werden. Um sie davor zu schützen, richtete Carl Bosch (1874–1940), der zu dieser Zeit von Max Planck (1858–1947) die Leitung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft übernommen hatte, an den nationalsozialistischen Wissenschaftsminister die Bitte, »der bekannten Wissenschaftlerin Professor Lise Meitner die Ausreise in das neutrale Ausland, nach Schweden, Dänemark oder in die Schweiz zu ermöglichen«.3) Die Bitte wurde abgelehnt mit der Begründung – so wörtlich –, »daß politische Bedenken gegen die Ausstellung eines Ausländerpasses für Frau Dr. Meitner bestehen. Es wird für unerwünscht gehalten, daß namhafte Juden in das Ausland reisen, um dort als Vertreter der deutschen Wissenschaft oder gar mit ihrem Namen und ihrer Erfahrung entsprechend ihrer inneren Einstellung gegen Deutschland zu wirken.«4)
     Nach der Ablehnung des Ausreisegesuches bereiteten der mit Lise Meitner befreundete Herausgeber der Zeitschrift »Die Naturwissenschaften«, Paul Rosbaud, und Otto Hahn die Flucht der Wissenschaftlerin vor. Durch Vermittlung des am Kaiser-Wilhelm-Institut
Lise Meitner
wirkenden holländischen Nobelpreisträgers Peter Debye (1884–1966) wurde der Groninger Professor Dirk Coster zur Unterstützung gewonnen. Dieser erwirkte bei den holländischen Grenzbehörden die Zusicherung, Lise Meitner ohne gültigen Paß und
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ohne Visum nach Holland einreisen zu lassen. Lise Meitner hatte inzwischen ihre Wohnung verlassen und war im Hotel Adlon untergetaucht. Am Abend des 12. Juli kam Coster selbst nach Berlin, um Lise Meitner am nächsten Morgen auf ihrer ungewissen Fahrt nach Holland zu begleiten. Sie hatte, so Otto Hahn in seinen Erinnerungen, »Glück; sie kam über die Grenze und war gerettet«. Hahn bekam ein Telegramm mit dem vereinbarten Code-Wort, und er antwortete am 15. Juli mit dem für die Empfänger leicht zu entschlüsselnden Text: »Liebe Costerfamilie! Zunächst möchte ich Ihnen meine herzlichsten Glückwünsche aussprechen für die Ankunft des jüngsten Familienmitglieds. Ich habe mich über die Nachricht natürlich sehr gefreut, denn in letzter Zeit waren wir doch etwas besorgt. Wie soll das Töchterchen denn heißen?«5)
     Von Groningen reiste Lise Meitner nach Kopenhagen weiter, wo sie einige Wochen bei Niels Bohr (1885–1962) und seiner Frau Margarete wohnte. Dort erreichte sie die Einladung von Professor Manne Siegbahn (1886–1978), Physik-Nobelpreisträger des Jahres 1924, am neuerbauten Nobel-Institut in Stockholm zu arbeiten, die sie nach einigem Zögern (sie hatte gleichzeitig eine Einladung ins kalifornische Berkeley) annahm. Hahn sah sie erst 1943 wieder, als er von den Nationalsozialisten die Erlaubnis erhalten hatte, in Stockholm einen Vortrag zu halten. Das nächste Mal traf sie ihn im Dezember
1946, als er nach seiner Entlassung aus englischer Internierung in der schwedischen Hauptstadt den Nobelpreis entgegennahm. Er war ihm allein verliehen worden, obwohl auch seine Partnerin Lise Meitner siebenmal für diese hohe Auszeichnung vorgeschlagen worden war. 1953 in Stockholm in den Ruhestand gegangen, starb Lise Meitner 1968 in Cambridge.

Quellen:
1      Otto Hahn: Mein Leben. Serie Piper, München/Zürich, 1986, S. 149/50.
     2 Patricia Rife: Lise Meitner. Ein Leben für die Wissenschaft. Hildesheim 1992. S.170
3      Ebenda; S. 234
4      Werner Stolz: Otto Hahn/Lise Meitner, Leipzig 1983, S.40
5      Ebenda, S.41

Bildquelle:
Archiv LBV

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