90 Geschichte und Geschichten | Lise Meitners Flucht aus Deutschland |
Horst Wagner
Lise Meitners Flucht aus Deutschland »Mit Hilfe unseres langjährigen
Freundes Paul Rosbaud wurden in der Nacht die notwendigsten Kleider und
Wertgegenstände Lise Meitners gepackt. Für dringende
Notfälle übergab ich ihr einen schönen
Brillantring, den ich als Erbstück meiner
verstorbenen Mutter zwar nie getragen, aber immer gut aufgehoben hatte. Am Morgen . . .
fuhr Lise Meitner in aller Heimlichkeit mit Professor Coster dem sehr unsicheren Tag
entgegen. Wir hatten ein Schlüsselwort verabredet, mit dem uns das Gelingen oder Mißlingen der Fahrt telegrafisch mitgeteilt werden sollte. Die Gefahr für Lise Meitner
bestand in den mehrfachen Kontrollen in den nach dem Ausland fahrenden
Eisenbahnzügen durch die SS. Immer wieder
wurden Menschen, die ins Ausland zu gelangen versuchten, in der Bahn festgenommen und
zurückgeholt . . . Ich werde den 13. Juli 1938
nie vergessen.«1) So erinnert sich
Otto Hahn (18791968) in seiner Autobiographie
»Mein Leben« an den Tag, an dem seine
berühmte Forscherkollegin wegen der wachsenden
Bedrohung durch die Nationalsozialisten Deutschland verlassen mußte. | hatte von 1912 bis 1914 und dann wieder
ab 1917 am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin gearbeitet und gemeinsam mit
Otto Hahn zum Thema der Uranspaltung geforscht. 1926 war sie gleichzeitig zum
Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle gewählt und
zum außerordentlichen Professor für Physik
an der Berliner Universität ernannt worden. Als die Nationalsozialisten 1933 ihre
Diktatur errichteten, hatte Lise Meitner
zunächst noch Illusionen über die neuen
Machthaber. In einem Brief an Otto Hahn, der sich zu
dieser Zeit auf einer Vortragsreise in den USA befand, schrieb sie am 21. März 1933, die
Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft habe zwar Hakenkreuzfahnen gekauft und sei
angewiesen worden, sie am Tag der ersten Sitzung
des neuen Reichstages zu hissen. Aber Hitlers im Radio übertragene Rede habe doch
»sehr moderat geklungen, taktvoll und
versöhnlich. Vielleicht entwickelt sich doch alles positiv«.2) Nachdem am 7. April 1933 das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« verkündet worden war und innerhalb eines Monats 164 zumeist »nichtarische« Professoren aus ihren Lehrämtern gejagt wurden, verlor freilich auch Lise Meitner ihre Lehrbefugnis für die Linden-Universität. Ihre Forschungstätigkeit am Kaiser-Wilhelm-Institut konnte sie zunächst unbehelligt fortsetzen. Sie sah sich durch ihre österreichische Staatsbürgerschaft vor weiteren Ver- | |||
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folgungen geschützt. Das
änderte sich schlagartig, als sich Nazideutschland
im März 1938 Österreich einverleibte.
Dadurch wurde sie automatisch deutsche
Staatsbürgerin und war fortan den
nationalsozialistischen Rassengesetzen voll
unterworfen. Deshalb bestand für sie die Gefahr, ins Konzentrationslager eingeliefert zu werden. Um sie davor zu schützen, richtete Carl
Bosch (18741940), der zu dieser Zeit von Max Planck (18581947) die Leitung der
Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft übernommen hatte, an den nationalsozialistischen
Wissenschaftsminister die Bitte, »der
bekannten Wissenschaftlerin Professor Lise Meitner die Ausreise in das neutrale Ausland,
nach Schweden, Dänemark oder in die Schweiz
zu ermöglichen«.3) Die Bitte wurde
abgelehnt mit der Begründung so wörtlich , »daß
politische Bedenken gegen die Ausstellung eines Ausländerpasses für Frau Dr.
Meitner bestehen. Es wird für unerwünscht
gehalten, daß namhafte Juden in das Ausland
reisen, um dort als Vertreter der deutschen Wissenschaft oder gar mit ihrem
Namen und ihrer Erfahrung entsprechend ihrer inneren Einstellung gegen Deutschland
zu wirken.«4) Nach der Ablehnung des Ausreisegesuches bereiteten der mit Lise Meitner befreundete Herausgeber der Zeitschrift »Die Naturwissenschaften«, Paul Rosbaud, und Otto Hahn die Flucht der Wissenschaftlerin vor. Durch Vermittlung des am Kaiser-Wilhelm-Institut | ||||
Lise Meitner | ||||
wirkenden holländischen Nobelpreisträgers Peter Debye (18841966) wurde der Groninger Professor Dirk Coster zur Unterstützung gewonnen. Dieser erwirkte bei den holländischen Grenzbehörden die Zusicherung, Lise Meitner ohne gültigen Paß und | ||||
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ohne Visum nach Holland einreisen zu
lassen. Lise Meitner hatte inzwischen ihre Wohnung verlassen und war im Hotel
Adlon untergetaucht. Am Abend des 12. Juli kam Coster selbst nach Berlin, um Lise
Meitner am nächsten Morgen auf ihrer
ungewissen Fahrt nach Holland zu begleiten. Sie hatte,
so Otto Hahn in seinen Erinnerungen,
»Glück; sie kam über die Grenze und war
gerettet«. Hahn bekam ein Telegramm mit dem
vereinbarten Code-Wort, und er antwortete am 15. Juli mit dem für die Empfänger leicht
zu entschlüsselnden Text: »Liebe
Costerfamilie! Zunächst möchte ich Ihnen meine
herzlichsten Glückwünsche aussprechen für die
Ankunft des jüngsten Familienmitglieds. Ich habe mich über die Nachricht natürlich
sehr gefreut, denn in letzter Zeit waren wir doch etwas besorgt. Wie soll das
Töchterchen denn heißen?«5)
Von Groningen reiste Lise Meitner nach Kopenhagen weiter, wo sie einige Wochen bei Niels Bohr (18851962) und seiner Frau Margarete wohnte. Dort erreichte sie die Einladung von Professor Manne Siegbahn (18861978), Physik-Nobelpreisträger des Jahres 1924, am neuerbauten Nobel-Institut in Stockholm zu arbeiten, die sie nach einigem Zögern (sie hatte gleichzeitig eine Einladung ins kalifornische Berkeley) annahm. Hahn sah sie erst 1943 wieder, als er von den Nationalsozialisten die Erlaubnis erhalten hatte, in Stockholm einen Vortrag zu halten. Das nächste Mal traf sie ihn im Dezember | 1946, als er nach seiner Entlassung aus
englischer Internierung in der schwedischen Hauptstadt den Nobelpreis
entgegennahm. Er war ihm allein verliehen worden,
obwohl auch seine Partnerin Lise Meitner siebenmal für diese hohe Auszeichnung
vorgeschlagen worden war. 1953 in Stockholm in den Ruhestand gegangen, starb Lise
Meitner 1968 in Cambridge.
Quellen:
Bildquelle:
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© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de