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Günther Bellmann – Markus Mey – Peter Philipps Berlin einst und heute

Ullstein, Berlin 1997

Irgendeine Stadt bzw. Gemeinde in Einst- und JetztIllustrationen dem jeweiligen Gegenwartspublikum vorzustellen, das ist eine schon im 19. Jahrhundert von Verlegern entdeckte leserwirksame Art, Nostalgie zu bedienen und angesichts der zumeist als unangenehm empfundenen Hektik des Augenblicks die Sehnsucht nach der »guten alten Zeit« nicht untergehen zu lassen. Sehr oft wird gerade in unserer Zeit mit gewisser Liebe zum Detail die zugegebenermaßen vernüchternde Architektur der Moderne oder gar Postmoderne in den Fotos der Gegenwart wie eine Anklage formuliert. Dabei wird nicht selten übersehen, daß im Normalfall gerade eine Stadt (weit mehr noch als ein Dorf) ein lebendiger Organismus ist, der sich auch objektiv ablaufenden technischen und kommunikativen Entwicklungstrends anzupassen hat, sofern er nicht zur zwar reizvollen Touristenattraktion, aber zur Hölle für seine Bewohner werden will.
     Die vorliegende Veröffentlichung umgeht dankenswerterweise diese verbreiteten Trends. Die Autoren – von Mey stammen die Fotos, die den aktuellen Stand dokumentieren – verzichten weitestgehend auf das Erwecken nostalgischer Emotionen: Was sie uns an Berliner Ansichten zwischen 1900 und 1931 anbieten, verführt keineswegs zum Träumen und Zurücksehnen; das hat ziemlich eindeutig damit zu tun, daß eben auch das erste Drittel des nun scheidenden Jahrhunderts ein in rascher, nein, in geradezu hektischer Entwicklung begriffenes Berlin sah. Der überwiegend als fotografischer Kronzeuge herbeigeholte Max Missmann fühlte sich ja gerade ab 1900 durch dieses »Berliner Tempo«

verführt, Fotochronist jener Zeit bis 1914 zu sein, die wir aus späterem Wissen »Vorkriegsperiode« zu nennen gewohnt sind. Tatsächlich verstanden sie die Zeitgenossen – wie denn sonst – als »die Moderne« und trauerten beim Lesen von Rodenbergs Berliner Skizzen aus den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Beschaulichkeit nach, die ihrer hektischen Gegenwart nicht mehr gegönnt wurde ...
     Das ganze Buch ist aus einer Serie in der »Berliner Morgenpost« hervorgegangen, und der ursprünglich gezielt eingesetzte journalistische Plauderton gibt den Texten eine erfreuliche Leichtigkeit. Nur vier der dreißig Bilderläuterungen hat Peter Philipps beigetragen: neben der über den Boulevard Unter den Linden die zu den drei Bahnhöfen Friedrichstraße, Anhalter Bahnhof und Zoo – offenbar fühlt er sich in der Berliner Verkehrsgeschichte zu Hause. Bellmann, der also den Löwenanteil beschreibender Gegenüberstellungen und besinnlicher lokalhistorischer Hintergrundinformationen liefert, läßt angenehmerweise auch beinahe jede Neigung zum Abbürsten Ostberliner Bauleistungen während der dortigen Regie der Politbürokratie vermissen (was z. B. bei Autoren einer – ausgerechnet – am Alexanderplatz beheimateten Berliner Tageszeitung keineswegs üblich ist) und legt wiederholt vorsichtig den Finger auf Wunden, die infolge der üblichen Berliner Bürokratie und des ebenfalls üblichen Hickhacks divergierender Interessenten-Lobbies den städtebaulichen Heilungsprozeß einer aus den Verwüstungen von heißem (Bomben!) und Kaltem (Mauer!) Krieg wiedererstehenden Stadt hemmen. Den – nicht zu Unrecht – geäußerten harschen Worten über den Abriß des Berliner Stadtschlosses stehen allerdings keine kritischen Bemerkungen zu den westlich der Ebert- und südlich der Zimmerstraße vorgefallenen Abrissen von Prinz-Albrecht-Palais, Kroll-Oper, Sportpalast, Jagdschloß Dreilinden und »Meyers Hof« (der kulturhistorisch so signifikanten
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größten Mietskaserne der Welt!) gegenüber – eine im Westteil der Stadt traditionelle Sünde.
     In einer ganzen Reihe von Details sollte man sich bei aller Freude am so gänzlich undidaktischen Plauderton allerdings besser nicht auf tiefschürfendes Wissen der Verfasser verlassen – besonders Bellmann schießt bei Daten manchen Bock. Daß er von der Berliner Militärgeschichte kaum verwertbares Wissen (S. 65) hat, kann ihm allerdings nicht zum Vorwurf gemacht werden; denn Unkenntnis auf diesem speziellen Felde ist seit 1945 fast so etwas wie conditio sine qua non für einen Berliner Journalisten (gilt für Ostwie Westteil!). Daß er aber z. B. (S. 69) Schöneberg 1861 in Berlin eingemeindet, könnte eventuell die Abonnentenzahl der »Morgenpost« in Schöneberg absinken lassen – wo doch Schöneberg 1898 Stadt wurde (von 1899 bis 1920 sogar eine kreisfreie) und sich unter die ersten vier europäischen Großstädte einreihte, die sich eine U-Bahn leisteten! Da hat Bellmann schlicht und einfach die 1861 eingemeindete Schöneberger Vorstadt vor der Berliner Zoll- und Akzisemauer mit dem Ort Schöneberg verwechselt. Und um einen weiteren (wenngleich nicht letzten) Lapsus zu nennen: Warum er die an der mittelalterlichen Berliner Stadtmauer gelegene Waisenstraße samt der dortigen Gaststätte »Zur letzten Instanz« mit der (bis 1710) Berliner Schwesterstadt Cölln in topographische Beziehung setzt, bleibt des Autors Geheimnis.
     Der Freude am Betrachten der fotografischen Konfrontationen, die neben dem Wandel auch immer noch über die Jahrzehnte hinweg Erhaltenes dokumentieren, sollten diese Schönheitsflecken jedoch keinen Abbruch tun. Und gar ausgesprochen Tröstliches vermittelt schließlich die letzte Gegenüberstellung: Friedrich Albert Schwartz' 1865 getätigte Aufnahme vom Französischen Dom, die uns das damalige Stadtzentrum mit Riesenbaustelle Rathaus vorstellt, in Bezug gesetzt zum (fast) gleichen Prospekt 1996; gewiß ist auf letzterem die
imposante, 1865 auch noch keine zwei Jahrzehnte alte Schloßkuppel verschwunden, aber an seither dazugekommenen Kuppeln und Türmen ist wahrlich kein Mangel – und dabei reckt sich 1996 gerade einmal ein einziger Wolkenkratzer gen Himmel. Das wird nach weiteren sechs bis acht Jahrzehnten mit Gewißheit ganz anders aussehen – und dann sicherlich Anlaß zu fotografischen Gegenüberstellungen mit jener Zeit geben, da der Alexanderplatz noch nicht – im Zuge der Globalisierung – wie Manhattan aussehen mußte.
     Kurt Wernicke

Miteinander leben

Fisimatenten. Franzosen in Berlin und Brandenburg. Les Francais à Berlin et en Brandenbourg.
     Cyril Buffet, Berlin 1997

Iren und Briten in Berlin. Susanna Nieder mit Beiträgen von Norbert Haase, Christoph Jahr und Kevin Cote, Berlin 1996

Dauerhafte Beziehungen. Zweihundert Jahre Amerikaner in Berlin. Americans in Berlin for two hundred years. Lasting Relations, von John Hermansen mit einem Beitrag von Jock Covey. Deutsch von Heiko Titz und John Hermansen, Berlin 1995

Das russische Berlin. Von Amory Burchard und Ljudmila Duwidowitsch mit Beiträgen von Elena Starodoubseva und Tatjana Forner, Berlin 1994

In der verdienstvollen Reihe des Senats »Miteinander leben in Berlin« erschienen auch vier Hefte, die den Nationen der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs gewidmet sind. Sie sind zwischen 1994 und 1997, also nach Verabschiedung der Alliierten

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aus Berlin, entstanden. Alle Broschüren verstehen sich als Beitrag, die Traditionen der gegenseitigen Beziehungen zu stärken. Neben einer Einführung der Ausländerbeauftragten des Berliner Senats, Barbara John, ist (bis auf eine Ausnahme) auch jeweils ein Vorwort eines Diplomaten enthalten: Für das Heft über Irland und Großbritannien verfaßten ihn der irische Botschafter P. Murphy und die Leiterin der Britischen Botschaft, Außenstelle Berlin, Rosemary Spencer, für die USA Assistant Chief der Botschaft Jock Covey, für Frankreich der ehemaliger Gesandte in Berlin Christian Connan. Leider fehlt ein solches Vorwort für »Das russische Berlin«, zu hoffen ist, daß dies nur dem Umstand geschuldet ist, daß es als erste der hier vorgestellten Publikationen erschien.
     Gliederung, Struktur und Anlage der Hefte sind ähnlich. Dem Vorwort folgen eine Skizzierung der geschichtlichen Entwicklung der Beziehungen zu Berlin bzw. zu Deutschland, die Abschnitte sind überschrieben mit Titeln wie »Amerikaner an der Spree« oder »England an der Spree«. Bei den USA und Großbritannien ist auch eine kurze Geschichte des Landes enthalten. Ob das wirklich notwendig ist? Auf den wenigen Seiten kann da kaum Neues vermittelt werden.
     Es fällt auf, daß die Geschichte der gegenseitigen Beziehungen durchweg aus der Sicht von Westberlin geschrieben ist. Dies ergibt sich daraus, daß in den meisten Heften die Zeit von 1945 bis 1989/94 im Vordergrund steht. Der Ostberliner Stadtteil kommt in der Regel nur für die unmittelbare Nachkriegszeit mit Spaltung der Stadt und der Blockade 1948/49, mit 17. Juni 1953, Mauerbau und Wiedervereinigung 1990 vor. Durchgängig hervorgehoben wird, daß aus den Feinden vor 1945 nach dem Zweiten Weltkrieg Besatzer und schließlich Freunde und Partner wurden. Die Luftbrücke 1948/49 gilt dabei als Wendepunkt, aus der Besatzungsmacht wurde eine Schutzmacht. Deutlich werden die gewandelten Beziehungen in der Gegenwart:
Die ehemaligen Alliierten sind in der Stadt nicht mehr als Verwaltungs- und Militärmacht präsent. Dennoch leben heute in Berlin 10 000 Amerikaner, 10 000 Franzosen und 8 000 Briten, die Russen werden gar auf 35 000 geschätzt.
     Alle Hefte informieren, unterschiedlich ausführlich, nicht nur über historisch entstandene vielfältige Verbindungen, sie stellen auch interessante Persönlichkeiten – Künstler, Wissenschaftler, Sportler, Architekten u. a. – und vorhandene Einrichtungen (Kulturzentren, Kirchen, Vereine, Wirtschaftsunternehmen, Gaststätten) in Berlin vor.
     Das amerikanische und französische Heft ist zweisprachig abgefaßt, die beiden anderen nicht. Die Zweisprachigkeit erweist sich dann als nicht überflüssig, wenn auch die Bürger des jeweiligen anderen Landes angesprochen werden sollen.
     Leider sind nur die Autoren der amerikanischen und französischen Fassung vorgestellt, die – wie auch die der russsischen – aus den jeweiligen Heimatländern kommen und Berlin meist über Jahre kennen.
     Etwas ausführlicher als auf die anderen Hefte sei auf das französische eingegangen. Auf die gegenüber anderen Ländern besonderen Beziehungen Berlin-Frankreich verweist in ihrem Vorwort schon Barbara John: »Wohl kaum eine Nation ist so fest in Berlin verwurzelt, so eng mit Geschichte und Kultur der Stadt und der umliegende Region verbunden wie Frankreich und die Franzosen.« (S. 3) Diese Beziehungen sind zurückzuführen auf die erste große Zuwanderungswelle vor über dreihundert Jahren, als Glaubensflüchtlinge aus Frankreich Zuflucht und Aufnahme in Preußen fanden. Durch Integrationsmaßnahmen, begonnen mit dem Edikt von Potsdam von 1685, zog es die Hugenotten mehr in den Berliner Raum als in andere Gegenden Deutschlands. Die französischen Einwanderer sind wohl auch diejenigen, die Lebensart, Alltag und Gesellschaft – von Essen und
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Sprache über Architektur bis hin zu Musik, Literatur und Kunst – nachhaltiger als andere ausländische Einwohner beeinflußt haben. Einige wenige Beispiele seien genannt. Das Zeughaus wurde vom französischen Militäringenieur Jean de Bodt miterrichtet, das erste Kaffeehaus im Lustgarten eröffnete 1721 der Franzose Olivier. Selbst am Hofe erlangten die Franzosen, so als Erzieher der königlichen Familie und des Adels, Einfluß. Nachkommen der Franzosen schrieben wichtige Kapitel der Berliner Kultur- und Geistesgeschichte: so der Maler Daniel Chodowiecki, der Wissenschaftler Franz Carl Achard, die Walisische Postkarte: »Um das walisische `ll auszusprechen, pressen Sie die Zungenspitze gegen die oberen Schneidezähne und blasen Sie kräftig ...«
Gebrüder Humboldt, der Jurist von Savigny sowie der Schriftsteller Theodor Fontane. Die Hugenotten führten Blumenkohl, Tabak, Spargel, Erbsen, Bohnen und andere Gemüse und Obstsorten in Preußen ein. Der französische Einfluß blieb auch im Berliner Vokabular manifest: ob Filet und Bulette, Negligé und Taille, Bataillon und Manöver, Menuett und Bilett, Mätresse und Misere – die französische Herkunft ist hörbar. Andere Worte sind so eingedeutsch, daß ihr Ursprung kaum noch erkennbar ist. Mausetot kommt von mort si tôt, Kinkerlitzchen von quincaillerie und Muckefuck von mocca faux. Umstritten bleibt die Herkunft der Fisimatenten: haben sie ihren Ursprung im Lateinischen oder kommen sie aus dem französischen »visitez ma tente« (besucht mich in meinem Zelt)?
     Abschließend sei noch ein Vorzug des französischen Heftes vermerkt. Es vermittel Zeitkolorit, indem es durch zahlreiche zeitgenössische Textauszüge erhellt, wie Franzosen in den verschiedenen Jahrhunderten und Jahrzehnten Berlin sahen.
     Angesichts irisch-britischer Probleme war es
sicherlich eine gute Idee, beide in einem Heft vorzustellen. Ausgangspunkt der Broschüre bildet die 200jährige Verbindung der Stadt mit den Inseln, die an die Beziehungen der Adelshäuser geknüpft sind. Zugleich wird deutlich, »für Iren und Briten war Berlin traditionell keine sehr wichtige Anlaufstelle« (S. 7), und das blieb so bis in die Gegenwart. Relativ ausführlich wird der Leser informiert über Deutsche auf dem englischen Thron und die dynastischen Beziehungen, die 1714 mit der Thronfolge durch den Kurfürsten von Hannover, Georg Ludwig, begannen. Die spätere Verfeindung mit Deutschland erreichte im Ersten Weltkrieg einen ersten Höhepunkt, weshalb die Königsfamilie ihren deutschen Namen Sachsen-Coburg-Gotha ablegte und sich seither Windsor nennt. Nicht unerwähnt soll bleiben, daß der Ort mit dem längsten Namen der Welt mit einer Abbildung vertreten ist:
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Llanfairpwllgwyngyllgogerychwymdrobwllllantysi liogogogoch. Das Faksimile einer Postkarte gibt quasi die Anleitung zur richtigen Aussprache, »um das walisische `ll auszusprechen: Pressen Sie die Zungenspitze gegen die oberen Schneidezähne und blasen Sie kräftig ...«
     Auch die Wurzeln der Amerikaner in Berlin reichen 200 Jahre zurück. Sie werden zurückgeführt auf den 1785 geschlossenen Freundschafts und Handelsvertrag, der am 11. Juli 1799 durch den damaligen US-Botschafter John Quincy Adams, den späteren USA-Präsidenten, in Berlin verlängert wurde. Gemischte Gefühle erweckt angesichts des in Deutschland wiederauflebenden Nationalismus und Neonazismus, wenn der Autor in Abschnitten über die NS-Zeit schreibt, »Thomas Wolfe war nicht lange in Berlin, aber für einige kurze Momente in den Dreißigern erreichte er etwas Bemerkenswertes. Er erweckte Berlin wieder zum Leben!« (S. 42) Nicht nach jedermanns Geschmack dürfte die etwas überschwengliche Lobpreisung amerikanischer Geschäftstüchtigkeit von Coca-Cola, McDonald's und anderer sein, denn »all diese Unternehmen bringen ein kleines Stück Amerika nach Berlin ... sie geben Berlinern Arbeit und bringen für die Stadt wichtige Steuereinnahmen.
     So tragen amerikanische Aktivitäten zum allgemeinen Wohlstand für Berlin und die gesamte Region bei.« (S. 6)
     Zum »russischen Berlin« erinnert Barbara John in ihrem Vorwort an das historische Erbe: Die gewaltigen Opfer, die die Sowjetunion bei der Zerschlagung der Nazidiktatur erbracht hat. Viele Westberliner dagegen identifizieren mit den Russen vor allem Blockade und Transitstrecken. Die Autoren betonen als spezifische Absicht, nicht die Russen in Berlin, sondern das russische Berlin zu dokumentieren, um ein möglichst breites Spektrum der »russischsprachigen Kolonie« vorzustellen. Im Unterschied zu anderen Heften ist in diesem – während die sowjetisch-russische Emigration in Berlin
1917 bis 1945 mit viel Sympathie für emigrierte Adlige, Geschäftsleute und Intellektuelle ausführlich beschrieben wird – die Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg kaum behandelt. Es erfolgt ein unlogischer Sprung von 1945/49 nach 1990/94.
     Sicher lassen sich in anderen Heften auch mehr oder weniger deutliche Unexaktheiten feststellen. Doch hier fallen eklatante Fehler auf. Einige Beispiele seien genannt. Die Oktoberrevolution wird auf 1918 (u. a. S. 4, 5) und die deutsche Wiedervereinigung auf den 10. Oktober 1990 (S. 26) datiert. Auch hat die Gruppe Ulbricht nicht das Nationalkomitee Freies Deutschland gegründet, schon gar nicht hatte sie die Macht, für die Einsetzung der Bezirksverwaltung und des Magistrats von Berlin zuständig zu sein (S. 45). Wolfgang Leonhard hat seinen Lebensweg im Osten auch nicht in »Die Revolution frißt ihre Kinder«, sondern zuerst in »Die Revolution entläßt ihre Kinder« beschrieben. Solche Unexaktheiten sind leider kein Einzelfall.
     Gut wäre, wenn die Herausgeber den Autoren einen sachkundigen Lektor zur Seite geben würden.
     Insgesamt eine löbliche Reihe, die dazu beitragen kann, das Verständnis für Geschichte, Kultur und Lebensgewohnheiten der Eingewanderten zu fördern und ein verständnisvolles, tolerantes Zusammenleben zu ermöglichen.
     Herbert Mayer

Bildquelle:
Iren und Briten in Berlin

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Peter Glaß/Carsta Knaack
Abriß – Die Kinos in Weißensee

AG Verlag Berlin

Ein neuer kleiner Verlag, der sich eine ehrgeizige Aufgabe gestellt hat: Ortsbestimmungen mit dem Untertitel Barnimer Reihe, und schon kurz nach dem Erscheinen der Nummer 1 nun das nächste schmale Büchlein.
     Die Autoren haben sich im zurückliegenden Jahr darangemacht, zuerst in der Weißenseer Brotfabrik eine bescheidene Ausstellung mit dem Titel »Die Kinos in Weißensee« vorzustellen. Inzwischen im Kino Toni zu sehen, wird sie nun ab April endlich auch in das Stadtgeschichtliche Museum des Bezirkes kommen.
     Aus den Ergebnissen der Recherchen für die Ausstellung wurde nun auch ein Lesetext. Ein gut lesbarer dazu, in einer unprätentiösen Sprache, die ein oft verkanntes Stück Kulturgeschichte in einer dem Sujet angemessenen Diktion nahebringt. Das macht Spaß beim Lesen, und es macht Interesse am Weiterlesen bis zur Seite 92. Nicht zuletzt auch, weil man sich die Mühe gemacht hat, Quellennachweise minutiös aufzulisten. Etwas, was heutzutage bei vielen Büchern unverständlicherweise entbehrlich scheint, aber diese für den wahrhaft Interessierten zu wertlosen Erwerbungen macht. Schade nur, daß Glaß eigene frühere Texte zu Weißensees Ateliers (Filmstadt Weißensee von 1991) und zu Kinos 1945 (Vorbei der Feuerbrand von 1995) unerwähnt läßt, obgleich beide das vorliegende Buch gut ergänzen können.
     Für den Zeitraum von 1907 bis 1997 wird die Weißenseer Kinolandschaft beschrieben, beginnend in der (damaligen) Königschaussee, fortführend über die Darstellung des Kinobooms rund um den Antonplatz. Vorgeführt werden die Querelen um den Bau

des Decla-Hauses, ausgelöst durch Beschwerden in ihrer Existenz bedrohter Konkurrenten und – 1919 – begründet mit der Tatsache, daß an der Spitze »nicht ein Deutscher, sondern ein Tscheche steht«. Alle die einzelnen »Lichtspielhäuser« behandelnden kleinen Abschnitte werden letztlich auch in den gesellschaftlichen Kontext gestellt und damit aus der scheinbaren Wertfreiheit von Wünschen, Absichten und Entscheidungen herausgehoben. Breiten Raum nimmt das Kinosterben in diesem Teil Ostberlins ein, eine Entwicklung, die selbstverständlich dem Siegeszug des Fernsehens ebenso geschuldet war wie der in allen europäischen Ländern zur gleichen Zeit eintretenden Veränderung der Besuchergewohnheiten. Hier kam noch der permanente Mangel an »Baukapazitäten« hinzu, der bei allen guten und in der Presse weitausholend beschriebenen Absichten z. B. die Wiedereröffnung des Delphi auf den (noch heute anhaltenden) Sankt-Nimmerleins-Tag verschob.
     Alte Weißenseer werden mit leiser Wehmut im Herzen an manche schöne Stunden in »ihrem« Kino denken, aber auch an die noch monate-(nicht nur tage-)lang nach dem Bombenangriff am Universum zu lesende Schrift »Es fing so harmlos an«. Sie werden mit Erstaunen lesen, daß das Toni noch bis 1979 das einzige (!) private Kino Ostberlins gewesen ist, es wird ihnen vielleicht auch Spaß machen, daß der Name des Platzes nun schon beim vierten Kinonamen Pate gestanden hat. Kleine Textfehler werden zu übersehen sein, sie schmälern den Wert des Buches nicht. Auch nicht das sonderbare Wort eigenbrödlerisch (S. 89), zumal man nicht weiß, ob das nicht so bereits in der an Neuschöpfungen nicht eben armen taz gestanden hat.
     Der an der Weißensee-Historie Interessierte ist rundum zufrieden damit, daß wieder ein bislang unbeleuchtetes Kapitel durch Spots aufgehellt werden kann.
     Joachim Bennewitz
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© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de