51 Probleme/Projekte/Prozesse | Politisches Umfeld des 17. Juni |
Grund zur Freude. Die neue
Landwirtschaftspolitik zeigte sich vorerst in
drastischer Abnahme des ohnehin schon kargen Obst- und Gemüseangebots; etwa 13
Prozent der Nutzfläche lagen vor allem auf
Grund der steigenden Fluchtbewegung brach. Die Lücken bei Konsumgütern wurden
immer größer, und im Dienstleistungssektor
stiegen die Wartezeiten weiter an. Das war in den Augen der Bevölkerung der Anfang vom Sozialismus wie sollte da erst die Vollendung aussehen?
Das Geldaufkommen der arbeitenden Bevölkerung und das betraf ja nahezu alle Bürger im entsprechenden Alter war gestiegen. Diese wachsende Kaufkraft sah sich mit einem rapide sinkenden Angebot von Waren und Dienstleistungen konfrontiert, ein Mißverhältnis, das unter sozialistischen Vorzeichen nicht vorgesehen war, aber doch irgendwie reguliert werden mußte. Merkte das nur der Normalverbraucher? Keinesfalls. Es fehlte nicht an realistischen Situationsberichten für »ganz oben«. Experten des ZK und des Ministerrates stellten Anfang 1953 eine Analyse der dringendsten Problembereiche in dieser Reihenfolge zusammen: 1. Erfüllung der Reparationsverpflichtungen an die UdSSR; 2. Realisierung des Staatsvertrages mit der UdSSR; 3. Realisierung der Gewinne und sonstigen | ||||||
Norbert Podewin
Sparsamkeit und Normenerhöhungen Das politische Umfeld des 17. Juni Am 9. Juli 1952 gab SED-Generalsekretär Walter Ulbricht auf der II. Parteikonferenz
in Berlin eine Erklärung ab, die die
Delegierten völlig überraschte: »Es besteht kein
Zweifel, daß nicht alle Schwierigkeiten auf der
bisherigen Stufe unserer demokratischen und wirtschaftlichen Entwicklung gelöst
werden konnten. Die demokratische und wirtschaftliche Entwicklung sowie das Bewußtsein
der Arbeiterklasse und der Mehrheit der Werktätigen sind jedoch bereits so weit
entwickelt, daß der Aufbau des Sozialismus
zur grundlegenden Aufgabe geworden ist.« Möglichen Zweiflern erklärte er
gleichzeitig: »Auf dem Wege der sozialistischen
Entwicklung werden wir alle bei uns vorhandenen Schwierigkeiten überwinden
können.«1) Die 4 568 Delegierten und Gäste, wochenlang vorher eingestimmt auf die
umfassende Propagierung der sowjetischen Note vom 10. März für einen Friedensvertrag
mit Deutschland, schieden aus Berlin mit dieser Hoffnung.
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Leistungen der Sowjetischen
Aktiengesellschaften (SAG) und des Kontos T an
die UdSSR;
4. Erfüllung der Exportverpflichtungen und Aufholung der Exportrückstände; 5. Vorbereitung der Produktion von Verteidigungsmitteln; 6. Bildung von Staatsreserven; 7. Beseitigung der Rückstände in der Produktion; 8. Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung.2) Das Fazit der Verfasser: »In der gegenwärtigen ökonomischen Lage der Deutschen Demokratischen Republik kann die gleichzeitige Lösung dieser Probleme im vorgesehenen Umfang nicht gesichert werden. Die Erfüllung eines strengen Regimes der Sparsamkeit und die Verbesserung der Wirtschaftsführung werden die Lage erleichtern, aber keinesfalls die Erfüllung der Hauptaufgaben garantieren können.« Die Reihenfolge ist aufschlußreich; Belange der DDR rangierten weit hinter Verpflichtungen gegenüber der UdSSR. Also Abbruch, Aufschub oder wenigstens Tempoverringerung? Genau das Gegenteil trat ein. Für Gefangene eines maßgeblich von Stalins »Theorie« der sich gesetzmäßig verschärfenden Klassenauseinandersetzung zwischen Imperialismus und Sozialismus im Weltmaßstab geprägten ideologischen Ghettos sah das der Analyse folgende Ergebnis so aus: | 1. Sparsamkeit in allen Wirtschaftszweigen
sowie im Staatshaushalt;
2. Verschärfung der staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft; 3. Abkehr von kapitalistischen Industrienormen und Ersetzung durch sowjetische Norm-Prinzipien; 4. Steigerung des Lebensstandards u. a. durch Einschränkung der Lebenshaltung »kapitalistischer Elemente«; 5. Einleitung einer strengen Staatsdisziplin und Kontrolle.3) Die umfassendsten Einschnitte wurden im Bereich der Ökonomie vorgenommen. In der DDR-Wirtschaft existierten drei Eigentumsformen, wobei kapitalistische und private Warenproduktion noch hauptsächlich als Störfaktoren gegenüber der sozialistischen Volkswirtschaft gesehen wurden. Die sich daraus ergebende Schlußfolgerung lag für Ulbricht auf der Hand und war von ihm auf der 10. ZK-Tagung (20.22. November 1952) bündig formuliert worden: »... je umfassender der Bereich der sozialistischen Warenproduktion wird, um so mehr werden diese Störungen eingeengt und letzten Endes beseitigt.«4) Anfang 1953 wurde die Steuerschraube bei privaten Industriebetrieben, Handwerkern und Einzelhändlern nochmals angezogen, die Abgabe-Auflagen für den nichtgenossenschaftlichen Bereich in der Landwirtschaft weiter erhöht. Drohend hing zudem die »Verordnung zur Sicherung der landwirt- | |||||
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schaftlichen Produktion und der
Versorgung der Bevölkerung« vom 19. Februar 1953
über den Landwirten. Darin wurde pauschal geurteilt, im Gegensatz zur fleißigen und
fortschrittlichen Arbeit der »werktätigen
Bauern« hätte »eine Anzahl Besitzer von
großen Bauernwirtschaften ihre Betriebe
heruntergewirtschaftet, um der Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik
Schaden zuzufügen«. Ihnen konnte »durch
Entscheidung des Rates des Kreises oder Beschluß des Gerichtes die weitere Bewirtschaftung ihres Grundbesitzes untersagt werden«. Es war logisch, daß der so
gekennzeichnete Personenkreis nun die Vorjahresbeschlüsse über die neue
Territorialstruktur sowie das Gesetz zum Schutz des gesellschaftlichen Eigentums als auch das Gerichtsverfassungsgesetz als
vorsätzlich geschaffene Waffen gegen sich ansah.
Aber die Führung der SED und die Regierung gerieten vor allem im ökonomischen
Bereich ins Chaos. Hilferufe an die Sowjetunion, durch Erlaß von Reparationen und
zusätzliche Warenlieferungen entlastend zu
wirken, blieben vorerst unerwidert.
In dieser Situation griffen Ulbricht und Grotewohl auf Mittel zurück, die sie bislang stets als Erbübel des Kapitalismus attackiert hatten: drastische Einschnitte im sozialen Bereich. Erschwerniszuschläge für Schwerstarbeiter oder für gesundheitsschädigende Arbeit wurden gestrichen; | den monatlichen Haushaltstag für
alleinstehende berufstätige Frauen gab es nicht
mehr;
Fahrpreisermäßigungen zum Arbeitsplatz sowie Fahrtkostenerstattung entfielen; Tarife vieler Dienstleistungen wurden angehoben; Intelligenz- und andere Zusatz-Lebensmittelkarten wurden sukzessive abgeschafft; Firmeninhaber, selbständige Handwerker und Händler sowie »Grenzgänger« (in den Berliner Westsektoren Beschäftigte mit Wohnsitz in Ostberlin) erhielten vom 9. April an keine Lebensmittelkarten mehr. Sie sollten ihren Bedarf zu den erhöhten Preisen der freien Läden der Handelsorganisation (HO) decken, doch wurde deren Belieferung mit Butter und Margarine wegen Mangelaufkommens schon Anfang 1953 eingestellt. Alarmsignale über eine immens wachsende Unzufriedenheit in allen Territorien und unter sämtlichen Bevölkerungsschichten wurden immer häufiger. Walter Ulbricht als die zentrale Bezugsperson dieser Krise winkte noch immer gelassen ab. Hatte er nicht schon zur Jahreswende als gesetzmäßig vorausgesagt, es bestehe »kein Zweifel daran, daß anläßlich der kürzlich aufgetretenen Versorgungsschwierigkeiten die Vertreter der überlebten kapitalistischen Kräfte versucht haben, mit allen Mitteln die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus im Kampf | |||||
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gegen die Schaffung der Grundlagen des Sozialismus einzusetzen. Es besteht kein Zweifel daran, daß die kapitalistischen
Kräfte diesen Kampf verschärfen
werden.«5)
Die Justiz der DDR arbeitete mit noch mehr Überstunden. Abgeurteilt wurden nun vor allem »Nichtablieferer« und »Wirtschaftsverbrecher«. Eine Übersicht des Innenministeriums wies aus, daß die Zahl der Häftlinge vom Juli 1952 bis zum Mai des Folgejahres von 30 092 auf 61 377 angestiegen war.6) Doch fand die Suche nach »Gegnern« nun auch im engsten Umfeld statt. In den Schlußfolgerungen der bereits zitierten Analyse hieß es unmißverständlich: »Die Beschlüsse der 2. Parteikonferenz sowie die in der darauffolgenden Entwicklung aufgetretenen und enttarnten feindlichen Spionagemaßnahmen des Gegners erfordern neue Maßnahmen hinsichtlich der politischen Tätigkeit und der Struktur der LDP und CDU sowie auch der NDPD und der DBD ... Die Hälfte der Funktionäre der bürgerlichen Parteien gehören dem reaktionären Flügel an, und ein Teil von ihnen ist offensichtlich als Agenten tätig.«7) Allein dieser unvollständige Überblick zeigt, daß genügend Zündstoff vorhanden war und das Unbehagen auch weite Teile der Funktionsträger erfaßt hatte. Es bedurfte nur eines Funkens, damit sich die Mißstimmung öffentlich entlud. Am 28. Mai 1953 wurde er gezündet. | An diesem Tage veröffentlichte der
Ministerrat einen weiteren Beschluß, der zum Ausgleich des aus den Fugen geratenen Staatshaushalts gedacht war. Er trug die
Provokation schon im Titel: »Bekanntmachung des Beschlusses über die Erhöhung der
Arbeitsnormen. Vom 28. Mai 1953.« Einleitend wurde konstatiert, daß der von der II.
Parteikonferenz gefaßte Beschluß von der gesamten werktätigen Bevölkerung begrüßt worden sei. Seine Umsetzung erfordere vor allem die Stärkung der sozialistischen
Industrie und hierbei wiederum eine ununterbrochene Steigerung der
Arbeitsproduktivität bei permanenter
Selbstkostensenkung. »Nur auf diesem Wege können die
Werktätigen unserer Republik der
Verwirklichung des ökonomischen Grundgesetzes des
Sozialismus zustreben, das der geniale Stalin wie folgt formulierte: >Sicherung der
maximalen Befriedigung der ständig wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft durch ununterbrochenes Wachstum und stetige
Vervollkommnung der sozialistischen Produktion auf der
Basis der höchstentwickelten
Technik.<«8)
Es schloß sich eine Begründung der Notwendigkeit zur Einführung technisch begründeter Arbeitsnormen an, deren Aufstellung und Einführung auch durch eine vom zuständigen Minister erlassene Richtlinie gehemmt worden sei. Dieser Vorwurf traf Roman Chwalek, Minister für Arbeit (SED), Mitglied der KPD seit 1920 und füh- | |||||
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render ehemaliger Funktionär der
Revolutionären Gewerkschafts-Organisation
(RGO). Die erwähnte Bestimmung führte
angeblich dazu, »daß bei Erhöhung grundsätzlich falscher Normen ein Lohnausgleich gezahlt wurde. Das widerspricht dem
Leistungsprinzip und muß korrigiert
werden.«9)
Nun wurden die Arbeiter selbst als Kronzeugen gegen sich aufgeführt: »Ein großer Teil der Arbeiterschaft hat erkannt, daß die gegenwärtigen Normen größtenteils den Fortschritt hemmen. In vielen Betrieben sind deshalb die Arbeiter dazu übergegangen, ihre Arbeitsnormen freiwillig zu erhöhen ... Darüber hinaus forderten viele Arbeiter von der Regierung, Maßnahmen für eine generelle Überprüfung und Erhöhung der Arbeitsnormen zu treffen. Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik begrüßt die Initiative der Arbeiter zur Erhöhung der Arbeitsnormen. Sie dankt allen Arbeitern, die ihre Norm erhöht haben, für ihre große patriotische Tat. Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik kommt gleichzeitig dem Wunsche der Arbeiter, die Normen generell zu überprüfen und zu erhöhen, nach. Diese generelle Erhöhung der Arbeitsnormen ist ein wichtiger Schritt zur Schaffung der Grundlagen des Sozialismus.« 10) Die »bedrängte« Regierung entsprach dann auch in folgender Form dem vorgeblichen Verlangen: »Das Ziel dieser Maßnahmen ist, die Arbeitsnormen mit den Erforder- | nissen der Arbeitsproduktivität und der Senkung der Selbstkosten in Übereinstimmung zu bringen und zunächst eine
Erhöhung der für die Produktion
entscheidenden Arbeitsnormen im Durchschnitt um mindestens 10 % bis zum 30. Juni 1953
sicherzustellen.«11)
Anfang Juni 1953 wurden Grotewohl, Ulbricht und Oelßner nach Moskau beordert. Am 5. März 1953 war Unvorstellbares geschehen: Stalin, der Menschengott, war verstorben. Nun sichteten die Erben die Hinterlassenschaft und wurden mit der Katastrophenlage in der DDR konfrontiert. Eine Roßkur tat not und wurde radikal verordnet. Die Kreml-Führer »forderten eine rasche, kräftige, offene Korrektur, eine Wende in der Politik, die Wirkung auf ganz Deutschland zeigen sollte«. Dann übergaben sie als Order das »Gesundungspapier«. Bemerkenswerterweise wurde die Moskauer Verantwortung dabei nicht ausgespart: »Als Hauptursache der entstandenen Lage ist anzuerkennen, daß gemäß den Beschlüssen der Zweiten Parteikonferenz der SED, gebilligt vom Politbüro der KPdSU (B), fälschlicherweise der Kurs auf einen beschleunigten Aufbau des Sozialismus in Ostdeutschland genommen worden war ohne Vorhandensein der dafür notwendigen realen sowohl innenals auch außenpolitischen Voraussetzungen.«12) Dann folgten die in »Empfehlungen« ge- | |||||
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kleideten Konsequenzen: »1. Unter den heutigen Bedingungen (ist) der Kurs auf eine Forcierung des Aufbaus des
Sozialismus in der DDR, der von der SED eingeschlagen und vom Politbüro des ZK
der KPdSU (B) in seinem Beschluß vom 8. Juli gebilligt worden war, für nicht richtig
zu halten. 2. Zur Gesundung der politischen Lage in der DDR und zur Stärkung
unserer Positionen sowohl in Deutschland selbst als auch in der Deutschlandfrage auf der internationalen Ebene und zur Sicherstellung und Ausbreitung der Basis
einer Massenbewegung für die Schaffung eines einheitlichen, demokratischen,
friedliebenden unabhängigen Deutschlands ist der Führung der SED und der Regierung der DDR die Durchführung folgender
Maßnahmen zu empfehlen ...«
Worin bestanden die wesentlichsten »Empfehlungen«? Als erstes sollte die erzwungene Bildung Landwirtschaftlicher Genossenschaften gestoppt werden und »dieselben, die auf einer unfreiwilligen Basis geschaffen sind oder sich als lebensunfähig gezeigt haben, sind aufzulösen«. Die Repressionen gegen Unternehmer wurden als »vorzeitige Maßnahme« verworfen. Notwendig sei vielmehr »eine breite Heranziehung des Privatkapitals in verschiedenen Zweigen der kleinen und Gewerbeindustrie, in der Landwirtschaft sowie auf dem Gebiet des Handels«. Auch die »Kartenversorgung mit Lebensmitteln | für die Privatunternehmer sowie auch
für die Freischaffenden ist wiederherzustellen«.
Notwendig sei eine Revision des Fünfjahrplans, um die forcierte Entwicklung der Schwerindustrie zu bremsen und »einer schroffen Vergrößerung der Produktion der Massenbedarfswaren und der vollen Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln« Rechnung zu tragen. Auch Gesinnungsjustiz wurde verurteilt. Bürgerrechte seien zu gewährleisten und »von harten Strafmaßnahmen, die durch Notwendigkeit nicht hervorgerufen werden«, sei abzusehen. Zu Unrecht Verurteilte waren freizulassen, und »Änderungen in der bestehenden Strafgesetzgebung« sollten künftig vorbeugend wirken. Besondere Aufmerksamkeit sei der »politischen Arbeit unter der Intelligenz zu widmen«, um sie für die Stärkung der bestehenden Ordnung zu gewinnen. Auch sollte nunmehr die »grobe Einmischung der Behörden in die Angelegenheiten der Kirche« eingestellt werden und die »Verfolgung der einfachen Teilnehmer der kirchlichen Jugendorganisation >Junge Gemeinde<« unterbleiben. Als die SED-Delegation Moskau verließ, hatte sie einen bestätigten Entwurf (erst die zweite Fassung fand Billigung) in der Hand, der ohne jede Änderung zum »Beschluß des Politbüros vom 9. Juni 1953« wurde. In der sowjetischen Metropole war ihnen der schriftliche Generalauftrag erteilt | |||||
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worden, »eine solche Lage zu erreichen,
daß die Regierungsmaßnahmen vom Volk
verstanden werden und unter der Bevölkerung selbst Unterstützung finden«.
13)
Doch die Leser in der DDR suchten vergeblich nach dem Reizwort »Normenerhöhungen«. Dies war eine spezifische deutsche Variante, und so hatte sie niemand in Moskau in die »Streichliste« aufgenommen. Auf den Paradebaustellen im Berliner Stadtbezirk Friedrichshain der Stalinallee, dem Krankenhaus-Neubau sowie dem Neubau der Volkspolizei-Inspektion gab es bereits am Montag (15. Juni) erbitterte Diskussionen und kurzzeitige Arbeitsunterbrechungen. Am Nachmittag des 15. Juni erhielt der Ministerpräsident ein Schreiben von Bauarbeitern des Krankenhauses Friedrichshain. Darin wurde die Beibehaltung der niedrigeren Normen verlangt, indem man argumentierte, von den verkündeten Erleichterungen hätten bisher nur »die Kapitalisten« die Mittelschichten Nutzen gezogen. Es wurde quasi ein Ultimatum gestellt, in dem die Bauarbeiter ankündigten, am Folgetag persönlich den Entscheid bei Grotewohl einzufordern. Der informierte die SED-Zentrale und bekam den Rat, hart zu bleiben; man werde publizistisch Schützenhilfe leisten. Die Leser der Gewerkschaftszeitung »Tribüne« bekamen sie am 16. Juni morgens schwarz auf weiß zu Gesicht. Der Beitrag, formal verantwor- | tet vom FDGB-Sekretär Otto Lehmann, unter dem Titel »Zu einigen schädlichen Erscheinungen bei der Erhöhung der Arbeitsnormen« betonte: »Im
Zusammenhang mit der Veröffentlichung des
Kommuniqués des Politbüros und des Ministerrates vom 9. bzw. 11. Juni 1953 wird in einigen
Fällen die Frage gestellt, inwieweit die
Beschlüsse über die Erhöhung der Arbeitsnormen noch richtig sind und aufrechterhalten bleiben. Die Beschlüsse über die
Erhöhung der Normen sind in vollem Umfang richtig.«
Nun begannen an der Stalinallee die Arbeitsniederlegungen, und ein Demonstrationszug formierte sich in Richtung Stadtzentrum. Das Politbüro hielt an diesem 16. Juni eine Dauersitzung ab. In kurzer Folge stellten sich Berliner Parteifunktionäre im ZK-Gebäude ein, meldeten die Zuspitzung der Lage und verlangten als Dringlichstes die sofortige Zurücknahme der Normenerhöhungen. Das wurde schließlich durch Ulbricht als schon erfolgt bestätigt. Für den Abend war eine Tagung des Parteiaktivs der Berliner SED mit den Rednern Grotewohl und Ulbricht einberufen, woran auch die 1. Sekretäre der 14 Bezirke teilnahmen. Beide Referenten räumten Fehler der Partei und ihrer Führung ein, Grotewohl in ungleich stärkerem Maße und merklich emotional bewegt. Ulbricht erklärte vor den 3 000 Teilnehmern, das Politbüro habe der Regierung vorgeschlagen, den Normen-Beschluß zurückzuneh- | |||||
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men. Natürlich war das eine Formalie (am nächsten Morgen meldeten Sonderdrucke es amtlich), aber die Teilnehmer verließen den Friedrichstadtpalast verunsichert; galt der Beschluß noch oder
ab wann nicht mehr?
Am frühen Morgen des 17. Juni mußte die SED-Spitze erfahren, daß aus dem Berliner Lokalprotest ein republikweiter Flächenbrand geworden war. Als Reaktion verhängte die sowjetische Administration ab 13.00 Uhr über Berlin sowie über 167 der 217 Kreise der DDR das Kriegsrecht. Am Abend des 17. Juni hatte die Besatzungsmacht das Geschehen überall unter Kontrolle. Es zog spannungsgeladene Ruhe ein. Die Arbeiter erwarteten einen wirklich allseitig neuen Kurs in Staat und Gesellschaft, aufbauend auf einer schonungslosen Analyse der Ursachen des Desasters. Eine beträchtliche Anzahl von SED-Funktionären bis in das Politbüro hinein waren dazu auch in den Grenzen ihrer Erkenntnisfähigkeit durchaus bereit. Schon am 6. Juni war ein Politbüro-Beschluß zur Bildung einer Organisationswie auch einer Redaktions-Kommission erfolgt. Die Geschehnisse um den 17. Juni hatten die Bedeutung einer realen Lagebeurteilung in dramatischer Form anschaulich gemacht. Nun ging Rudolf Herrnstadt auftragsgemäß zur beschleunigten Formulierung eines Textes über, der zwischen dem 25. Juni und dem 2. Juli als Entwurf | vorgelegt wurde. Das Dokument trug
einen programmatischen Titel: »Der neue Kurs und die Erneuerung der Partei.« Es sollte
was sein Verfasser weder ahnte noch gar beabsichtigte zum Fallstrick für ihn
selbst werden.14)
Quellen:
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© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de