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Das gefiel Erwin, er war blond, er hatte einen mächtigen Schuß, man konnte ihn mit dem berühmten Schalker verwechseln. Viel mehr, aus seinem Gesicht blitzte derselbe Schalk, und er teilte mit dem berühmten Nationalspieler dieselbe große Leidenschaft: das Spiel mit dem Leder, dem Ei, der Pille oder der Pflaume. In Berlin und anderswo hatte der Lederball tausend Namen.
     Erwin war in den Mietskasernen des kaiserlichen Berlin aufgewachsen, man spielte von Hof zu Hof, von Hinterhof zu Hinterhof. Überall Bogen, und damit Tore. Im Sommer ging es für einige Wochen nach Pommern, »zum Luftschnappen«, da hatte ein Onkel einen Hof, für Stadtkinder ein Glück. Im Hof hatte niemand einen Fußball. Am Abend hatte manch einer geschwollene Zehen vom Treten gegen die harten Lötnähte der Konservendosen und dazu dicke Backen von den Maulschellen der Mutter, weil man -wieder »total zerlumpt« nach Hause kam.
     Viele Jungen fanden zusammen und spielten Hof gegen Hof oder Straße gegen Straße. Später entstanden Vereine, die überall in der Stadt ihre Wettkämpfe austrugen. Mal ein richtiges Trikot tragen und richtige Stutzen, die derben ledernen Fußballschuhe fest schnüren und dann mit stolzgeschwellter Brust auflaufen und sich fühlen wie die Kicker in der »Fußballwoche«. Die spielten im Poststadion oder an der »Plumpe«, und in der einen Saison war die Hertha vorn und in der anderen die »Veilchen« von TeBe.
Oliver Ohmann
Sie spielten
am alten Exer

Über den SV Prenzlauer Berg in den 30er Jahren

Wer die Schönhauser Allee entlangspaziert, vorbei am Jüdischen Friedhof, immer durch das Baustellengewirr, sieht bald zur Linken die neue Sporthalle, die den Namen Max Schmelings trägt, und davor den Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark. Eine verwirrende Menge Sportplätze, auf denen tagtäglich unzählige Grüppchen von Jungen (und auch Mädchen) dem »runden Leder« hinterherjagen, Vereine trainieren und an den Wochenenden wildgewordene Eltern ihre Jüngsten anfeuern.
     In den dreißiger Jahren war das nicht anders. Hier am Exer wurde schon immer Fußball gespielt, gefummelt, geknödelt und gekickt. Die Knaben und Heranwachsenden, die sich heute Klinsmann und Matthäus nennen, hießen früher alle Hanne, und keiner von ihnen wurde Millionär. Hanne Bernd und Hanne Sobeck – das war Berlin, darüber hinaus natürlich: Fritz Szepan. Szepan war ein Könner, ein brillanter Techniker mit einem mächtigen Schuß, und als Kapitän der Nationalmannschaft eine Persönlichkeit.

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Die »Mannschaft« im Strandbad Wannsee
In den Annalen der Vereine glänzt diese Zeit noch immer.
     Erwin wohnte damals, gemeinsam mit seiner Frau Klara und ihrem Töchterchen, in der Rathenower Straße in Moabit. Den Fußball im nahen Poststadion konnte man an Wochenenden förmlich »riechen«, was Klara anfangs gar nicht recht war. Nach und nach aber begann sie die Nachmittage zu schätzen, an denen ihr Mann auf dem Fußballplatz war.
Erwin und seine Freunde waren nicht nur Schlachtenbummler, sie spielten auch selbst, sogar als eingetragener Verein, es hatte alles seine Ordnung. Ihr Trikot war weißrot, mit schwarzer Hose und weißen Stutzen. Ihre Heimatadresse war natürlich der Exer.
     Es gab eine 1. und eine 2. Mannschaft, ein Mitgliedsbuch und Mitgliedsbeiträge und nicht zuletzt ein eigenes Vereinslokal, von wegen der Geselligkeit. Man nannte sich, und alle sollten es hören: SV Prenzlauer Berg e. V.
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Max hatte ihn angesprochen, eines Nachmittags, beim Spiel gegen Wacker. Max (sein großer Namensvetter war gerade Weltmeister geworden) war Vorsitzender des Vereins, man nannte das Vereinsführer, aber insgeheim lachten sie über den Ausdruck. Einige hatten mit Hitler was am Hut, hatte Max erzählt, andere nicht, so genau wußte man es nicht, oder doch? Egal, dachte Erwin, denn er beschloß, Fußballer zu werden, nicht Politiker wie der Weltkriegsgefreite, den er auf dem Reichssportfeld gesehen hatte.
     Seit Herbst 1935 radelte er täglich von Haus zu Haus, als Kassierer für die Deutsche Arbeitsfront, einer Organisation, die die Braunhemden als Gewerkschaftsersatz aus der Taufe gehoben hatten. Am Nachmittag zur Abrechnung zum Schloßplatz, und dann am Exer vorbei zurück nach Moabit. Seine Kondition konnte sich sehen lassen. Seine wirklichen Fähigkeiten aber lagen auf anderem Gebiet, schließlich hatte er drei Jahre Kaufmann bei der EFA gelernt, einer Werkstatt für Elektrotechnik und Feinmechanik. Als er dort als Buchhalter nicht vorankam und auch Firma Hinz in Mariendorf »die wirtschaftlichen Verhältnisse« bedauerte, hieß es auch für ihn im Juni 1931 Stempeln gehen und Moos ansetzen oder sich nach etwas anderem umsehen. Also war er froh über den Kassiererjob bei der DAF, und außerdem hatte er ja ein zweites Standbein, oder sagen wir besser: ein dolles (linkes) Schußbein.
Das ging nun schon einige Jahre. Erwin gab einen linken Läufer, manchmal verteidigte er auch, seine Flanken trafen zumindest in die Nähe des Strafraums, und hin und wieder hörte man es an der Außenlinie tuscheln: »Mensch, der sieht ja aus wie der Szepan!« Der Berliner Witz ergänzte dann: »Ja, aussehn tut er so, aber loofen mussa aleene!«
     Klara hatte sich auch eingelebt, wie alle Spielerfrauen war sie hin und wieder an der Reihe mit Trikotwaschen. Eine halbe Woche Arbeit, und sie haßte das, denn die Windeln wurden nicht weniger, und schon bald kündigte sich wieder Nachwuchs an.
     Sommer 1938. In den Köpfen der Sportsfreunde spukte bei manch geselligem Stiefeltrinken wie gewohnt allerlei herum, auch schon mal der Krieg, aber in der Regel obsiegten der Alltag und der Gedanke an das Wochenende. Da mußte man zum Beispiel gegen die 1. Mannschaft vom Statistischen Reichsamt antreten. Ein Brocken.
     Dann auf einmal passierte etwas Merkwürdiges. Man saß wieder einmal gemütlich in der Runde, da plötzlich stand Vereinsführer Max aus heiterem Himmel auf und verkündete, er wolle dem Verein nicht mehr vorsitzen. Sagte es und ging. »Den hat wohl der Schiedsrichter beleidigt!« ulkte Deutschmann, denn kurz zuvor hatte man erhitzt über eine Abonnementrechnung der »Deutschen Schiedsrichter Zeitung« diskutiert, die nicht bezahlt worden war. Darauf-
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hin stand eine Mahngebühr von 2,23 Reichsmark ins Vereinshaus, mit »Heil Hitler!« und Zahlkarte anbei. Die Zahlkarte nahm dann Erwin mit, er wollte die Sache aus der Welt schaffen, was sollte der Streit. Man klopfte ihm auf die Schulter, bestellte bei der Wirtin wirklich die allerletzte Runde Kümmel und plauderte weiter über das nächste schwere Spiel, es ging gegen die Alten Herren von Blau-Weiß.
     Deutschmann, der verläßliche Stopper, nahm das Tablett Kümmel entgegen und platzte mit seiner neuesten Idee heraus. Sportsfeunde, wenn Max den Kram hinwirft, dann soll doch der Erwin das übernehmen, gelernt ist gelernt. Das Mittelfeld
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und die Abwehr nickten, das hieß: Erwin war gewählt, und es war Zeit, endlich den Schnaps zu trinken. So wurde Erwin, dem es heute auf 2,23 RM weniger in Klaras knapper Haushaltskasse nicht ankam, neuer »Vereinsführer« des SV Prenzlauer Berg e. V.
     Etwa eine Woche später saß er in seiner Stube über einem Karton, in dem die Buchhaltung des kleinen Vereins versammelt lag. Hauptsächlich waren es Quittungen über Fahrgelder, Telefonate und sonstige Spesen. Alles war sehr sorgfältig ungeordnet. Was hatte dieser winzige Verein nicht alles für Auslagen!
     Die Kampfrichter, die man heute versöhnlich Schiedsrichter nennt, hatten Anspruch auf 35 Pfennig Aufwandsentschädigung pro Spiel. Das wurde abgerechnet, quittiert und im Durchschlag beglaubigt. Fahrgeld extra. Wenn der Schiri fehlte, war das die Schuld der Heimmannschaft, und man zahlte 5 RM Strafe an das »Reichsfachamt Fußball im D. R. L.« in Charlottenburg. Das kam ein einziges Mal vor, der Kreisfachwart schritt sofort zum Vollzug, natürlich mit »Heil Hitler!« und all diesem Drum und Dran. Erwin bezahlte schließlich, man war ein
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honoriger Verein, und das war ein peinliches Mißgeschick.
     Erwin sortierte also die Zettelwirtschaft, paginierte, klebte, lochte und heftete sie ab. Er war nicht nur ein guter Buchhalter, es machte ihm auch Spaß. Und so fand er sich bald zurecht in der mühseligen Organisationsarbeit des kleinen Fußballclubs.
 
     Seine Flanken indes landeten jetzt oft beim Gegner, und die Puste ging ihm schon vor der Pause aus. Nicht selten schaute er seinen Mitspielern in der zweiten Halbzeit von der Seitenlinie zu. Er war es nämlich, der immer eine Stunde vor den anderen da war, der das gegnerische Team einlud, telefonisch, sofern dies möglich war, sonst hatte er sogar telegrafiert. Der Platzwart machte für gewöhnlich umständliche Verrenkungen und hielt lange hinter dem Berg, auf welchem Platz gespielt wurde. Dann mußte man die Herren Kampfrichter aus der Kneipe holen, und oft war im Vorspiel die Latte zerbrochen, so daß der alte Zimmerer Hauball gefunden werden mußte, der die Torbalken für 2 Mark binnen weniger Minuten reparierte. Der brauchte
natürlich auch eine Quittung, und wo war überhaupt der Ball. Also trabte Erwin rüber zu Sport-Bauer, das war der Laden Schön-hauser Allee 52. Dahin hatte er letzte Woche den Ball zum Flicken gegeben, 60 Pfennig kostete das, aber die 22 Mark für die 17 Fahnenstangen waren noch offen, und Fett zur Lederpflege wurde auch wieder gebraucht. Bauer »am Exer« wartete auch mal länger auf das Geld, man kannte sich. Wer mit Bauer dennoch nicht zufrieden war, ging ins Sporthaus Leppin, um die Ecke in der Eberswalder Straße. Da wollte Erwin in der nächsten Woche mal hin, denn Leppin stellte Stempel her, und ein Stempel war für einen Verein von internationaler Klasse und Weltformat unerläßlich.
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Dann endlich das Spiel. Nicht selten auf dem Hartplatz, das ging in die Knochen, und Klara schimpfte über die unseligen rotbraunen Flecken im Trikot, die ihr in der Kochküche alles abverlangten. Nach dem Schlußpfiff kam Erwins Quittungsblock nicht mehr zur Ruhe. Ziegler erhielt 30 Pfennig für Benachrichtigung der Minerva, Buttgereit 40 Pfennig Fahrgeld, Kolbe ebenso. Auslagen der Schiedsrichter 80 Pfennig und zwei Mollen zu je 0,20. In der Pause waren neun Flaschen Selters bestellt worden und noch eine Molle für den Schiri.
     Danach Telefonat mit der FuWo wegen des Resultates, 0,50. Dann ging es endlich ins Lokal, da zahlte jeder für sich. Gab es aber was zu feiern, war Erwin wieder zur Stelle, diesmal aber verlangte er die Quittung.
     Ins Stadion ging Erwin nur noch selten. »Den Schlager« von 1941 hatte er miterlebt, als Hanne Bernd die Hertha mit sechs Toren »erschoß«, Endstand 8 : 2 für die Veilchen und die zweite Berliner Meisterschaft für die Borussen.
     In den Jubel der 38 000 Zuschauer stimmte er nicht ein. Der gute Deutschmann war der erste, der zur Wehrübung gerufen wurde. Das war schon Ende 1938. Aus den Sportlern sollten Soldaten werden. Manchmal dachte Erwin, daß es nicht nur elf Freunde waren, sondern 22, oder vielleicht 23, mit dem Schiri.
     Hitler aber, der in seiner gesamten Korre-
spondenz grüßte, befahl den Krieg. Erwin wurde noch im September 1939 als Polizei-Reservist eingezogen. Auf dem Exer wurde weiter gekickt, aber den SV Prenzlauer Berg e. V. gab es nicht mehr.
     Bis 1943 blieb Erwin im Straßen- und Innendienst beim 31. Polizeirevier in der Derflinger Straße tätig. Dann schickte man ihn, nach dreimonatiger Ausbildung, als Fernsprecher an die Ostfront.
     Am 27. Februar 1945, einen Tag nach seinem 36. Geburtstag, wurde er in Italien schwer verwundet und kam nach der Kapitulation in englische Kriegsgefangenschaft. Er kehrte am 1. August 1946 zu Klara und ihren mittlerweile drei kleinen Töchtern zurück. Viel später, in anderer Zeit, wurde er der Opa zweier fußballbegeisterter Knaben, und einer davon bin ich.

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