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Schlesien kommende Rosalie Marie Pratska (1866–1921). Carl war ihr einziges Kind.
     Nach dem Tod ihres Mannes heiratete sie den Bildhauer und Holzschnitzer Gustav Walther, der als überzeugter Sozialdemokrat sozialistische Ideen in die Familie trug. In einem frühen Lebenslauf schrieb der junge Carl, er sei »katholisch getauft und protestantisch konfirmiert« worden. Bald zählte er jedoch zu den Freidenkern und gehörte schon in Hamburg einer Freimaurerloge an.
     Der frühe Tod des Vaters machte es erforderlich, daß Carl bald ans Geldverdienen denken mußte – zu einer Zeit, da seine Altersgenossen sich ganz ihrer Bildung widmen konnten. Außerdem waren seine schulischen Leistungen in einigen Fächern nicht so gut, daß er an höhere Abschlüsse denken konnte. Er verließ 1904 die Realschule ohne Abschluß und fand 1907 eine Beschäftigung beim Hamburger Amtsgericht als »nicht fest angestellter Hilfsschreiber« mit einem Jahresverdienst von anfangs 360,– RM. Und selbst dafür bedurfte es der befürwortenden Unterstützung durch den früheren Chef seines Vaters. Er arbeitete in der Folgezeit – mit einer kurzen Unterbrechung im Jahre 1914 – bis über den Ersten Weltkrieg hinaus als Büroangestellter mit einem Verdienst von rund 1400,– RM (ab 1912) im Hamburger Amtsgericht. So lernte er einen kleinen Teil jenes Apparats kennen, mit dem er sein ganzes weiteres Leben bittere Erfahrungen machen sollte.
Eberhard Fromm
Eine Kampfnatur
ohne Konzeption?

Carl von Ossietzky

Der Name dieses Mannes verbindet sich bei vielen Menschen mit zwei Tatsachen: Er war untrennbar mit der Wochenschrift »Die Weltbühne« verbunden, die in der Weimarer Zeit ein Sprachrohr der kritischen linken Intellektuellen darstellte; und er wurde frühzeitig von den Nazis in ein Konzentrationslager gesperrt und starb an den Folgen dieser Haft. Schon die Verbindung Ossietzkys mit dem Pazifismus und selbst der ihm verliehene Friedensnobelpreis sind längst nicht mehr so bekannt. Sein Leben, Denken und Tun verdienen es jedoch, im Bewußtsein unserer Zeit präsent zu bleiben.

Ohne klassischen Bildungsweg

Carl von Ossietzky wurde am 3. Oktober 1887 in Hamburg geboren. Sein Vater Carl Ignatius (1848–1891), der aus dem Schlesischen stammte und viele Jahre als Berufsunteroffizier gedient hatte, war in Hamburg als Stenograph in der Kanzlei des Rechtsanwalts und späteren Bürgermeisters Predöhl tätig. 1889 heiratete er die ebenfalls aus

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Sein Interesse an journalistischer Arbeit erwachte frühzeitig. Der erste nachweisbare Artikel erschien am 25. Februar 1911 in der seit 1909 in Berlin erscheinenden Zeitschrift »Das freie Volk«, die anfänglich von Rudolf Breitscheid (1874–1944), seit 1912 dann von Hellmuth von Gerlach (1866–1935) herausgegeben wurde. Diese Beziehung war entstanden, da er sich der von Rudolf Breitscheid, Hellmuth von Gerlach und Theodor Barth (1849–1909) 1908 gegründeten Demokratischen Vereinigung angeschlossen hatte.
     Das Jahr 1914 war für Ossietzky voller Widersprüche. Im Januar gab er seine Arbeit auf, um sich ganz dem Journalismus zu widmen. Doch schon im Dezember stellte er – wohl auch wegen der Kriegsbedingungen – den Antrag auf Wiedereinstellung. Am 22. Mai heiratete er Maud Woods, die als Tochter eines britischen Kolonialoffiziers in Indien geboren worden war. 1914 erfuhr er auch zum erstenmal, auf welchem Kriegsfuß die kaiserliche Justiz und die kritische Presse standen. Wegen eines kritischen Beitrags zu einem Urteil des Erfurter Militärgerichts wurde er zu einer Geldstrafe von 200,– RM oder 20 Tagen Gefängnis verurteilt.
     Der Erste Weltkrieg erreichte ihn 1916.
     Mit dem Gestellungsbefehl vom Juni rückte er noch im gleichen Monat als Armierungssoldat zu Stellungs- und Straßenbauarbeiten ein. Nach dem Ersten Weltkrieg schied er auf eigenen Antrag aus seinem Dienst am Amtsgericht aus. Er engagierte sich in der
Friedensgesellschaft in Hamburg und erhielt im Juni 1919 die Möglichkeit, als Sekretär der Friedensgesellschaft in Berlin-Charlottenburg zu wirken.
     Ossietzkys wohnten zuerst in der Leibnizstraße, wo auch ihre Tochter Rosalinde am 24. Dezember 1919 geboren wurde. Die Familie wechselte häufig ihr Quartier: Genthiner Str. 22, 1928 Umzug nach Friedenau, zuerst in die Laubacher Straße 20, ab 1931 in die Mainzer Straße 16 a, 1932 in die Wilhelmstraße 11 a. Schließlich wurde in der Bayrischen Straße 12 die erste selbst möblierte Wohnung eingerichtet.
     Die Arbeit als Sekretär befriedigte ihn auf Dauer wenig. Zwar hatte er für die Gesellschaft ein eigenes Mitteilungsblatt geschaffen, das er redigierte; auch schrieb er weiter Beiträge für die in Hamburg erscheinenden »Monistischen Monatshefte« und erhielt dort sogar eine eigene Rubrik »Von der deutschen Republik«, die er unter dem Pseudonym Thomas Murner führte. Doch zum 30. Juni 1920 schied er aus der Sekretärsstellung aus, um sich ganz dem Journalismus zu widmen. Welche hohe Meinung er vom Journalistenberuf hatte und wie er – vielleicht auch in Erinnerung an seinen eigenen Bildungsweg – über dessen Qualifikation dachte, beschrieb er 1925 in der Zeitschrift »Das Tage-Buch« folgendermaßen: »Der Journalismus ist der einzige loser und enger mit dem Geiste zusammenhängende Beruf auf Gottes Erde, der nicht in das Pro-
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   61   Deutsche Denker Carl von Ossietzky  Vorige SeiteNächste Seite
krustesbett des Examens zu spannen ist. Die Tüchtigkeit, die Eignung entscheidet. Man kann ein fürchterlich vielwissender Jurist sein und doch ein untauglicher Richter oder Advokat. Man kann als Doktor der Medizin durch alle Prüfungen gerutscht sein, mit Auszeichnung sogar, und wird später doch nur die Friedhöfe bevölkern. Der Journalist beginnt ohne die trügerischen Vorschußlorbeeren des Examens. Er muß sich bewähren oder ...«

Besserer Schreiber als Redner

Ossietzky wurde Mitarbeiter der »Berliner Volkszeitung«, einer der kleineren Berliner Tageszeitungen mit einer Auflage von 150 000, deren Chefredakteur Otto Nuschke war. Aus dem in dieser Zeitung 1919 erschienenen Aufruf »Nie wieder Krieg!« hatte sich 1920 ein Aktions-Ausschuß mit dieser Losung entwickelt, dem sich der Pazifist Ossietzky anschloß.
     In den darauffolgenden Jahren arbeitete er in den Redaktionen des »Montag Morgen« und der Wochenschrift »Tage-Buch«. 1924 versuchte er sich kurzzeitig als Politiker. Er beteiligte sich an der Gründung der Republikanischen Partei und kandidierte bei den Reichstagswahlen. Das deprimierende Abschneiden dieser Splitterpartei führte ihm, der auch kein guter Redner war, deutlich vor Augen, wo seine Stärken lagen: im engagierten zeitkritischen Journalismus.

Um die Jahreswende von 1924/1925 lernte er Siegfried Jacobsohn (1881–1926) kennen, der seit 1905 die kulturpolitische Zeitschrift »Die Schaubühne« herausgegeben hatte, die sich ab 1918 als »Weltbühne« immer stärker politisch engagierte. Jacobsohn warb Ossietzky, den er sehr schätzte, für die Mitarbeit an der »Weltbühne«, deren Redaktion Ossietzky am 26. April 1926 beitrat.
     Damit begannen jene wenigen, aber bedeutsamen Jahre, in denen Carl von Ossietzky mit der »Weltbühne« – durch seine Leitung und seine eigenen Beiträge – eine Art moralische Instanz der demokratiebewußten Kräfte der Weimarer Zeit prägte. Als Jacobsohn am 3. Dezember 1926 starb, übernahm anfangs Kurt Tucholsky (1890–1935), dann jedoch ab Herbst 1927 Ossietzky den Posten des Herausgebers.
     Diese Arbeit füllte ihn derart aus, daß er beispielsweise eine weitere Mitarbeit im Vorstand der Deutschen Liga für Menschenrechte, dem er zwischen August 1926 und Mai 1927 angehörte, mit der Begründung ablehnte, daß ihm die »Weltbühne« dafür keine Zeit mehr lasse.
     »Die Weltbühne«, die seit April 1927 ihren Sitz in der Charlottenburger Kantstraße 152 hatte, war das Organ der kritischen linken Intellektuellen in der Weimarer Republik.
     In ihr wirkten viele prominente Autoren mit. Neben Ossietzky waren es vor allem Kurt Tucholsky und Kurt Hiller, die immer wieder mit scharfer Feder Fehlentwicklun-
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   62   Deutsche Denker Carl von Ossietzky  Vorige SeiteNächste Seite
gen der jungen Weimarer Demokratie, vor allem aber die latente rechte Gefahr attackierten. Mit einer Auflage von 12 000 bis 15 000 Exemplaren war »Die Weltbühne« kein Massenblatt, hatte jedoch wesentlichen Einfluß auf den öffentlichen Meinungsbildungsprozeß, insbesondere durch ihre Wirkung in weiten Kreisen der Intellektuellen.

Verurteilung im »Weltbühnen-Prozeß«

Ossietzky bekam in diesen Jahren mehrfach den Widerstand der reaktionären Kräfte zu spüren, da er sich wiederholt von seinen pazifistischen Positionen aus gegen den wiedererstarkenden deutschen Militarismus wandte. Schon 1926 hatte er sich als verantwortlicher Redakteur des »Montag Morgen« für ein satirisches Gedicht von Erich Weinert (1890–1953) zu verantworten; in diesem sogenannten »Bierkreuzerprozeß« erhielt Ossietzky eine Strafe von 500,– RM. Den Höhepunkt dieser immerwährenden Auseinandersetzung mit der Justiz bildete der »Weltbühnen-Prozeß« gegen Ossietzky im November 1931. Wegen eines Beitrages »Windiges aus der deutschen Luftfahrt«, der unter dem Pseudonym Heinz Jäger (Walter Kreiser) am 12. März 1929 erschienen war und in dem auf die geheime Aufrüstung in Deutschland hingewiesen wurde, verurteilte das Leipziger Reichsgericht Ossietzky als den verantwortlichen Redakteur wegen Landesverrats zu achtzehn Monaten Gefäng-

nis. Im deutlichen Unterschied zur sonst üblichen Praxis bei solchen Strafen gegen die Presse in der Weimarer Republik mußte Ossietzky einen erheblichen Teil der Strafe – vom 20. Mai bis zum 22. Dezember 1932 – im Gefängnis Tegel verbüßen.
     Noch während seiner Haft wurde er im Juli 1932 erneut angeklagt. Das Charlottenburger Schöffengericht machte ihn verantwortlich für jenen Artikel Tucholskys, in dem der Vorwurf erhoben wurde, Soldaten seien Mörder. Tucholsky selbst war zum Prozeß nicht erschienen; er hielt sich in Schweden auf. Dieser Prozeß endete mit einem Freispruch für Ossietzky.
     Als im Januar 1933 Adolf Hitler Reichskanzler wurde, gehörte Ossietzky zu denen, die von der Fehleinschätzung ausgingen, daß man die Nationalsozialisten mit offenem Visier auf dem Boden der Weimarer Demokratie bekämpfen könnte. Trotz dringender Mahnungen seiner Freunde schob er eine Flucht ins Ausland immer wieder hinaus. Selbst am Abend des Reichstagsbrandes kehrte er in seine Wohnung zurück. Am Morgen darauf, am 28. Februar 1933, wurde er verhaftet. Nach einigen Tagen wies man ihn am 6. April 1933 in das bei Küstrin gelegene Zuchthaus Sonnenburg ein, wo er bis Anfang Februar 1934 eingesperrt blieb. Da anfänglich die SA das Kommando in dem Zuchthaus übernommen hatte, herrschten für die antifaschistischen Häftlinge grausamste Haftbedingungen. Körperliche und
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   63   Deutsche Denker Carl von Ossietzky  Vorige SeiteNächste Seite
seelische Quälereien waren an der Tagesordnung. Als Ossietzky 1934 in das Konzentrationslager Esterwegen bei Papenburg an der holländischen Grenze verlegt wurde, berichtete ein Lagerältester, der später freikam, über den prominenten Gefangenen: »Nicht ein Mensch stand vor mir, sondern ein wandelnder Leichnam.«
     Noch 1933 gelang es einigen Freunden, die Tochter Rosalinde nach England zu bringen; seit 1936 lebte sie in Schweden. Maud von Ossietzky blieb in Deutschland.
     Im Kampf um die Freilassung Ossietzkys setzten sich viele seiner Freunde im Ausland dafür ein, ihn international mit dem Friedensnobelpreis zu ehren. So schrieb Albert Einstein (1879–1955) am 27. Dezember 1935 an das Nobelpreiskomitee: »Das Nobelkomitee hat einmalig eine Gelegenheit, durch die Verleihung des Preises eine geschichtliche Tat zu vollbringen, welche durch ihre Auswirkungen in hohem Maße geeignet ist, die Lösung des Friedensproblems zu fördern. Dies kann dadurch geschehen, daß ein Mann ausgezeichnet wird, der durch sein Tun und durch sein Leiden den Preis mehr verdient als irgendeine andere lebende Person – Carl von Ossietzky. Durch eine Verleihung des Friedenspreises an diesen Mann würde der Pazifismus in demjenigen Lande neue Nahrung finden, das durch die gegenwärtig dort herrschenden Umstände die schwerste Gefahr für den Weltfrieden bedeutet.«
Die intensiven Bemühungen des Auslands, auch des Roten Kreuzes, zeigten 1936 erste Erfolge. Im Mai wurde Ossietzky, er litt an einer offenen Tuberkulose, in einigen Berliner Kliniken untersucht und für haftunfähig erklärt. Mitte November erfolgten die Aufhebung des Schutzhaftbefehls und die Entlassung aus der geschlossenen Krankenabteilung. Das Westend-Krankenhaus und ab Dezember 1936 die Nordend-Klinik waren die letzten Stationen des todkranken Mannes.
     Im November 1936 erkannte man in Oslo Carl von Ossietzky den Friedensnobelpreis für das Jahr 1935 zu. Die NS-Führung versuchte fieberhaft, Ossietzky zu einer Ablehnung des Preises zu bewegen. Als das nicht gelang, verbot man ihm die Reise nach Oslo.
     Am 4. Mai 1938 starb Carl von Ossietzky. Sein Grab auf dem Städtischen Friedhof in Pankow wird als Ehrengrab gepflegt. Gedenktafeln erinnern in Charlottenburg, Pankow, Reinickendorf und in Tiergarten an ihn. In Pankow tragen eine Straße und ein Platz seinen Namen, in Tiergarten ein Park.

Im Umschmelzungsprozeß der Zeit

In seinen Erinnerungen »Leben gegen die Zeit« (1969) schrieb der Mitstreiter Kurt Hiller über Carl von Ossietzky: »Will man den Linksmann Ossietzky mit einem ihm typologisch verwandten und leidlich gleichaltrigen Publizisten der Rechten vergleichen, so bleibt allein, mag es auch paradox klin-

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   64   Deutsche Denker Carl von Ossietzky  Vorige SeiteNächste Seite
gen, Ernst Jünger übrig. Beides politisierende Schöngeister, beides Kampfnaturen, beides mitnichten Klischee-Schwätzer, nein >geistreich<, aber beide ohne denkerisch erarbeitete Grundlage, beide konzeptions-, beide philosophielos.«
     Bereits der Vergleich provoziert zum Nachdenken. Und auch mit den Einschätzungen muß man nicht einverstanden sein. Unbestritten ist aber wohl, daß wir es hier mit zwei intellektuellen Stichwortgebern ihrer Zeit zu tun haben, die von gegensätzlichen Standpunkten mit offenem Visier der Zeit und den in ihr agierenden Kräften schonungslos nicht »die Wahrheit«, sondern ihre Meinung sagten.
     Ossietzky besaß sehr wohl ein denkerisches Konzept, auf dem seine journalistischen Arbeiten ruhten. Als positive Ziele und Werte standen für ihn der Frieden und die Demokratie im Mittelpunkt. Doch sein Engagement bestand meist weniger in dem Dafürsein als in der Abwehr des Gegnerischen. Er attackierte die militärischen, politischen und geistigen Feinde des Friedens und der Demokratie an konkreten Gegenständen und Geschehnissen. Militarismus und Nationalismus waren Zielscheiben seiner Angriffe. Er war bemüht, die politischen Strategien seiner Zeit und die dahinter stehenden Kräfte sichtbar, durchschaubarer zu machen. Edith Jacobsohn schrieb nach dem Tode ihres Mannes voller Hochachtung über Ossietzky: »... ich gestehe, daß
mich Ossietzky das Abrakadabra der Politik lieben und verstehen gelehrt hat.«
     Wenn es in einem Nachruf aus dem Jahre 1938 heißt: »Sein Feld war die Glossierung, der ironische oder ermunternde Zuruf an die Handelnden oder an ihre Objekte«, dann mag das aus der Zeit heraus stimmen. Mit den Erfahrungen der Jahre nach 1939 muß man feststellen, daß Ossietzky in vielen seiner Artikel mehr getan hat. Er hat treffsichere Analysen von Positionen, Personen, Prozessen und Denkweisen geliefert, die bei aller polemischer Zuspitzung bis heute Gültigkeit haben.

Denkanstöße

Wir leben mitten in einer großen Evolution: es kehrt so etwas wie ein europäisches Bewußtsein wieder ... Das ist der Übergang in einen neuen Zustand, der noch nicht konkret geworden, noch nicht im Bereiche der Gestaltung lebt. Nur in der Sehnsucht, vielleicht eher im Unterbewußtsein.
(Wandlung der geistigen Atmosphäre, Juli 1918)

Der Erfolg von Büchern wird in Berlin gemacht, von ein paar Blättern und – sagen wir – einem Dutzend Kritikern ... Dadurch wird wohl einer Novität zum Durchbruch verholfen, günstigenfalls eine Mode gestartet, aber für das geistige Gesamtniveau ist gar nichts getan. Wo der kurze Aktions-

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   65   Deutsche Denker Carl von Ossietzky  Vorige SeiteNächste Seite
radius der literarischen Kritik aufhört, taumelt Kunst und Kitsch durcheinander, und kein Instinkt erkennt die Merkmale ...
(Ketzereien zum Büchertag. In: »Die Weltbühne« vom 19. 3. 1929)

Der Oppositionelle, der über die Grenze gegangen ist, spricht bald hohl ins Land herein. Der ausschließlich politische Publizist namentlich kann auf die Dauer nicht den Zusammenhang mit dem Ganzen entbehren, gegen das er kämpft, für das er kämpft, ohne in Exaltationen und Schiefheiten zu verfallen. Wenn man den verseuchten Geist eines Landes wirkungsvoll bekämpfen will, muß man dessen allgemeines Schicksal teilen.
     Ich hätte hinzufügen können, daß ich seit meiner Trennung von den organisierten Pazifisten mich ganz dem großen Umschmelzungsprozeß der Zeit anvertraut und mir eine besonders profilierte Stellung errungen habe. Daß mein Verstand sich noch immer zu der heute so verschmähten Demokratie bekennt, während mein Herz unwiderstehlich dem Zuge der proletarischen Massen folgt, nicht dem in Doktrinen eingekapselten Endziel, sondern dem lebendigen Fleisch und Blut der Arbeiterbewegung, ihren Menschen, ihren nach Gerechtigkeit brennenden Seelen. Das hätte ich sagen können – aber wozu?
(Rechenschaft. In: »Die Weltbühne« vom 10. 5. 1932)

Die Sozialdemokratie ist mit ihren opportunistischen Kniffen ebenso mit ihrem Latein zu Ende wie die KPD mit ihrem Treiben in die Weltrevolution. Primgeiger ist der Faschismus. Die revolutionäre Gärung in Deutschland rührt nicht von einer um Aufstieg kämpfenden Arbeiterschaft her, sondern von einem Bürgertum, das sich gegen sein Versinken krampfhaft zur Wehr setzt ...
     Es wird nicht leicht sein, die Sozialisten aller Richtungen auch nur diskutierend zusammenzubringen. Sie haben sich viel angetan, und ein Generalpardon ist notwendig. Bei allen Beteiligten ist Feindschaft traditionell geworden, gleichsam Ehrensache. Alles ist in umfangreichen, archivartig verschachtelten Gedächtnissen mit schrecklicher Genauigkeit aufbewahrt ...
     Es kommt nicht mehr darauf an, recht zu behalten, sondern sämtliche Teile der sozialistisch organisierten Arbeiterschaft vor der Vernichtung zu retten. Wollen wir antiquierte Schlachten weiterführen, wo der Bau, in dem wir leben, immer enger wird?
(Ein runder Tisch wartet. In: »Die Weltbühne« vom 3. 5. 1932)

Wir Anhänger des Friedens haben die Pflicht, immer wieder darauf hinzuweisen, daß der Krieg nichts Heroisches bedeutet, sondern daß er nur Schrecken und Verzweiflung über die Menschheit bringt. Gerade weil wir wissen, daß die machtpolitische

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Situation für uns im Augenblick nicht günstig ist, grade deshalb müssen wir eine lapidare Sprache führen. Aber diese lapidare Sprache geht von Laotse über die Bibel und Kant durch die ganze Literatur. Alle haben den Krieg als Mord und das Soldatenhandwerk als Mörderhandwerk gekennzeichnet. Das Wort Mörder wid hier nicht in einem juristischen, sondern in einem sittlichen Sinn gebraucht ...
     Wir sind keine Fanatiker und keine Bilderstürmer, aber wir halten es für nötig, daß eine deutliche Sprache geführt wird. Wenn die Anhänger des Kriegs gegen uns aufmarschieren, dann heißt es auch Verräter, Feigling, und der Pazifist gilt als zuchthauswürdig. Wir aber, die wir in einem ständigen Angriff gegen den Krieg stehen, müssen uns der Terminologie bedienen, die seit zweitausend Jahren vorliegt.
(Aus der Rede vor dem Charlottenburger Schöffengericht im Juli 1932)

Deutschland nimmt die Diktatur als selbstverständlich hin, demokratische Prinzipien zählen nicht mehr, und jede Partei hat sich vom Nationalismus infizieren lassen. Im Grunde könnte die Nazipartei heute mit gutem Gewissen vom Schauplatz abtreten, sie hat in kurzer Zeit mehr getan, als ihre Auftraggeber von ihr erwarten durften.
     Sie hat keine faschistische Regierungsform geschaffen, wohl aber Deutschland den Faschismus ins Blut geimpft, sie hat, was

sie Befreiung nennt, nicht durchgesetzt, wohl aber die Stimmung bereitet, in der eine neue Katastrophe möglich wird.
(Der Flaschenteufel. In: »Die Weltbühne« vom 10. 1. 1933)

Die Rechtsparteien sind unsern Freunden von links in manchem unterlegen. Aber den kalten, harten Machtwillen, das Fingerspitzengefühl für die wirklich entscheidende Position, das haben sie ihnen voraus. Die Republik hat diese Bataille verloren, nicht weil sie sich des »Novemberverrats« und anderer Schandtaten schuldig gemacht hat, sondern weil es ihr an dem notwendigen Lebenswillen fehlte, über den die Rechte in hohem Maße verfügt. Das Volk hat eine gute Witterung dafür, und deshalb ging es zu den Extremen rechts und links.
(Kavaliere und Rundköpfe. In: »Die Weltbühne« vom 7. 2. 1933)

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