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Ein handgepreßtes Leben in Berlin

Der Maler und Grafiker Wolfgang Jörg über die »Berliner Handpresse« und seine Freude am Drucken

Herr Jörg, wissen Sie, woraus folgendes Zitat stammt? »Wenig freundliches Lokal. Wirtin ist beim Verkauf aus Furcht vor amtlicher Untersuchung etwas ängstlich. ä. Bes.: Gewicht 43 g. Auf der Außenseite ist eine Fliege mit eingebraten. i. Bes.: Glatte, graue Schnittfläche, in der nur Zwiebeln mit Sicherheit zu erkennen sind. Starker Zwiebelgeruch. Stärken. ergibt Blaufärbung. Hist.: Reichlich quergetreifte Muskulatur, mäßiges Bindegewebe, wenig Fett, kutane Schleimhaut.«
     Wolfgang Jörg:
Natürlich weiß ich das. 1981 haben wir dieses kleine Büchlein mit dem Titel »Die Berliner Bulette« gemacht. Anlaß war das zwanzigjährige Jubiläum der Berliner Handpresse. Wenn Sie im Text weiterlesen, heißt es irgendwann: »Unter Berücksichtigung meiner Untersuchungen komme ich bezüglich der Begriffsbestimmung der Bezeichnung >Bulette< zu dem Ergebnis, daß die Bulette ein gebratener Fleischklops ist.« – Zu dieser messerscharfen Schlußfolgerung gelangte eine 1936 von der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin angenommene Dissertation. Sie dien-

te zur Erlangung der tierärztlichen Doktorwürde. Ihr Verfasser, ein gewisser Willy Bernsdorff, war – so zeigten unsere bibliographischen Nachforschungen – der einzige, der die Bedeutung der Bulette für Berlin erkannt hatte und sich ihrer in verdienstvoller Weise wissenschaftlich annahm.
     Das wollten wir entsprechend würdigen.
     Gibt es irgendeinen Zusammenhang zwischen der Berliner Bulette und der »Berliner Handpresse«?
     Wolfgang Jörg:
Ja und nein. Der gebratene Fleischklops mit seinem so anheimelnd klingenden Name Bulette ist doch ein typisches Berliner Ding. Und wir sind auch so ein typisches Berliner Ding. Doch im Ernst ... Diese Doktorarbeit von 1936, die wir durch die aktuellen »Maßgeblichen Richtlinien der Hackfleischverordnung vom 10. Mai 1976« ergänzten, erschien in der Handpresse, weil wir Spaß an solchen kuriosen Zeitdokumenten haben. Sie sind ein inhaltlicher Schwerpunkt unseres künstlerischen Programms.
     Ehe wir über inhaltliche Schwerpunkte reden, zunächst die Schularbeiten ... Seit nunmehr 37 Jahren gibt es das Unternehmen »Berliner Handpresse«. Für Eingeweihte ein Juwel, in der breiten Masse unbekannt. Wie und wann fing alles an?
     Wolfgang Jörg:
Am 9. Februar 1961 haben mein Kollege Erich Schönig und ich die »Berliner Handpresse« gegründet. Und zwar als künstlerische Arbeitsgemeinschaft. Wir
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kannten uns beide von der Hochschule her, entdeckten dort eine Gemeinsamkeit: unsere Freude am Drucken, unsere Liebe zur traditionellen Buchkunst.
Sind Sie Berliner?
Wolfgang Jörg:Nein, ich bin geborener Kölner, Jahrgang 1934. Lebe allerdings mittlerweile länger in Berlin als in Köln. Ich studierte von 1955 bis 1958 an der Kölner Werkkunstschule in der Klasse für freie Malerei bei Professor Vordemberge. 1958 kam ich nach Berlin und war bis 1963 Meisterschüler bei Professor Hartmann an der Berliner Hochschule für Bildende Künste. Auch Erich Schönig war Meisterschüler bei Hartmann. Dort lernten wir uns kennen. Leider starb Schönig 1989 in Berlin.
     Wenn ich die Jahreszahlen alle richtig ins Benehmen setze, gründeten Sie die »Berliner Handpresse« also noch als Student, als Meisterschüler ...
     Wolfgang Jörg:
Das ist richtig. Wir wollten einfach anfangen, Holzschnitte zu drucken. An der Hochschule kamen wir nicht oft genug an die Presse heran. Also kauften wir uns eine eigene altertümliche Kniehebelpresse und begannen mit Auftragsarbeiten. Zum Beispiel machten wir Abzüge Schmidt-Rottluffscher Holzschnitte. Natürlich war die Gründung der »Berliner Handpresse« ein riesiges Abenteuer. Schließlich standen wir ohne jede finanzielle Absicherung da. Es gab nicht wenige, die über so viel Optimismus und Naivität lachten.
Aber gegen Begeisterung ist nun mal kein Kraut gewachsen.
     Vielleicht hatten Sie ja auch eine Marktlücke entdeckt ...
     Wolfgang Jörg:
Schön wär's. Das war nicht mal ein Spalt. Aber wir waren jung, voller Elan und hatten uns eben in den Kopf gesetzt, literarisch wertvolle alte und neue Texte mit Originalgrafiken zu illustrieren und als bibliophile Drucke herauszugeben. Dabei ging es uns ja nicht darum, Buchtexte zu bebildern, wir wagten den Versuch, Geschichten mit eigenen grafischen Mitteln neu zu erzählen. Sozusagen mit dem Schneidemesser.
     Können Sie sich noch an Ihre ersten Bücher erinnern?
     Wolfgang Jörg:
Ja, denn sie waren für uns in vielerlei Hinsicht wichtig. Die ersten beiden Titel erschienen 1962. Sie hießen »An die Herrschaften im 5. Stock. Briefe von ***« und »Vom Umtausch ausgeschlossen. Briefe von ***«. Beide waren mit zehn bzw. elf Originalholzschnitten versehen. Und eher ein studentischer Jux. Aber sie führten uns vor Augen, wie teuer es ist, in Holz zu schneiden. Da mußten wir uns sofort einen billigeren Werkstoff suchen. Das war Linoleum. Der Linolschnitt ist bis auf den heutigen Tag die von uns bevorzugte Technik.
     Wird Linoleum nicht eher im Kunstunterricht an den Schulen verwendet?
Wolfgang Jörg: Ja. Aber wir konnten uns
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uns bereit. Die Menge an Bleilettern reichte anfangs nicht einmal aus, um einen vollen Bogen zu setzen. Nachdem er halb gesetzt und durch die Maschine gelaufen war, mußte der Satz wieder auseinandergenommen und für die zweite Verwendung abgelegt werden. Das erforderte ein Höchstmaß an genauer Arbeit, war aber bei aller Mißlichkeit eine gute typographische Schule für uns junge Maler. Denn wir hatten anfangs ja nur eine blasse Ahnung von der Druckkunst. Bis 1969 haben wir sogar unsere von Hand gesetzten, von Hand gedruckten und mit Originalgrafiken versehenen Titel noch selber gebunden. Das haben wir dann später sein lassen.
     1965 wurde aus dem Künstler-Duo ein Künstler-Trio, die Handpresse erhielt Verstärkung.
Wolfgang Jörg: Farblinolschnitt zu dem Buch von Helga Königsdorf

kein anderes leisten. Ohne Linoleum wäre die »Berliner Handpresse« schon längst Pleite gegangen. So aber machten wir aus der Not eine Tugend. Entdeckten, daß Linoleum ein völlig unterschätzter Werkstoff ist, der eine ungekünstelte, echte Bildsprache zuläßt. Aber die Diktatur der Armut hielt noch ganz andere Einschränkungen für

Wolfgang Jörg: Ja, Ingrid Jörg aus dem brandenburgischen Gransee stieß zu uns und druckte ihr erstes Kinderbuch. Von nun an war sie fester Bestandteil der »Berliner Handpresse«.
     Wenn man in das Werkverzeichnis der »Berliner Handpresse« schaut, fällt auf, daß Sie sich sehr oft der Literaten der zwanziger Jahre annahmen.
     Wolfgang Jörg:
Das ist ein Verdienst von Professor Dr. Walter Huder, dem Leiter des
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Archivs der Akademie der Künste in Westberlin, der uns 1969 seine reiche Sammlung zur Verfügung stellte. Uns auch in dieser Hinsicht zum eigenen Profil verhalf. Huder machte uns auf viele unveröffentlichte Texte aus den Nachlässen von Alfred Wolfenstein, Ferdinand Bruckner, Carl Einstein oder Ulrich Becher aufmerksam. Durch ihn entdeckten wir auch die antifaschistischen Flugblätter von Georg Kaiser ...
     Welche Flugblätter meinen Sie?
Wolfgang Jörg: Nun, der Dichter Georg Kaiser weigerte sich in der Zeit des Faschismus strikt, Deutschland zu verlassen. Obwohl er – so Goebbels – »ausgehungert werden« sollte. Er lebte am Rande Berlins, hatte Kontakt zu linken Arbeitern, diskutierte in den S-Bahn Zügen zwischen Erkner und Bahnhof Zoo und in den Arbeiterkneipen des Berliner Weddings. So lernte er die typische Redeweise des Proletariats kennen. Sie ging unverfälscht in seine Pamphlet-Gedichte ein. Goebbels hieß in ihnen »das Scheißhuhn«, Göring »das Batzenschwein«, Rosenberg war »der Mistbock« und Himmler »der Gashahn«. Kaiser hektographierte diese Gedichte und verteilte sie unter Einsatz seines Lebens. Als Kaiser im
Juni 1938 von der Gestapo verhaftet werden soll, warnte ihn ein Landjäger. Dieser tapfere Mann versteckte auch einen Teil der Gedichte. Einen anderen Teil deponierte Kaiser bei einem Freund in der Schweiz. Die »Berliner Handpresse« legte 1969 diese Gedichte – mit zwölf farbigen Linolschnitten von Erich Schönig und mir – erstmals vollständig vor. Unter dem Titel »Die Gasgesellschaft.«
     Die Werke dieser vom Faschismus verfolgten Dichter führen bis heute ein Schattendasein. Das Engagement für sie machte die »Berliner Handpresse« über Berlin hinaus bekannt. Ist es eigentlich schwer, gute Texte zu finden?

Wolfgang Jörg: Farblinolschnitt zu dem Buch von Frank-Wolf Matthies »Inventar der Irrtümer«

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Wolfgang Jörg: Ja, sehr schwer. Über die Hilfe von Walter Huder habe ich schon gesprochen. Auch der Germanist Klaus Sauer stellte uns seine literarischen Kenntnisse zur Verfügung. Dr. Uwe Otto, der leider 1995 verstarb, kam als weiterer Spurensucher in das Team. Er war sozusagen unser Literaturdetektiv, der in den Archiven nach alten Texten zur Berlinischen und preußischen Kulturgeschichte suchte. Seine Ausgrabungen waren im Grunde kritische Betrachtungen über das offizielle und private Berlin im auslaufenden 18. und im 19. Jahrhundert. Otto, von Haus aus Theaterwissenschaftler, wurde so fündig, daß ich eines Tages auf die Idee kam, mit den absurdesten dieser Schätze eine neue Reihe aufzubauen.
     Meinen Sie die 1977 begonnene Reihe »Satyren und Launen«?
     Wolfgang Jörg:
Nein, ich meine die »Reihe Werkdruck«, von der 1973 das erste Buch erschien. Und zwar die »Erlebnisse der verhafteten Kammergerichtsu. Regierungsräte auf der Festung Spandau im Jahre 1780« von Johann Ernst Neumann. Das zweite Buch dieser Reihe hatte den beinahe programmatischen Titel »Schattenriß von Berlin. 1788. Teil I. Kritische Betrachtungen über das offizielle Berlin, seine Einwohner und andere Berliner Sachen«. Er hätte auch als Motto über Uwe Ottos Arbeit stehen können. Denn all seine ausgegrabenen Texte erhielten durch die dazugehörenden
kritischen Erläuterungen eine entsprechende Bewertung, die sie über das bloße Vergnügen an einstigen Absurditäten und Kuriosa herausheben. Auch bei den »Satyren und Launen«, die Sie schon ansprachen, handelt es sich um Dokumente aus der Berliner Geschichte. Diese Reihe begann 1977.
     Die ersten Bücher, die Sie druckten, erschienen in einer Stückzahl von maximal 300 Exemplaren. Entsprechend hoch war der Preis. 225 Mark kostet das Buch vom »Capitain Daradiridatumtarides«, 188 Mark »Dieser merkwürdige Sommer«. Wer kauft solche Bücher, wer vertreibt sie?
     Wolfgang Jörg:
Gekauft werden sie von Liebhabern. Leider gibt es davon nicht genug. Den Vertrieb machen wir selbst. Es gab Versuche, ihn in die Hände von Verlagen zu legen. Doch die Zusammenarbeit mit Bruno Hessling, Berlin sowie Propyläen und Classen scheiterte. Die künstlerischen Absichten der »Berliner Handpresse« erwiesen sich als unvereinbar mit den kommerziellen der Verlage.
     War nicht die Entwicklung der »Reihe Werkdruck« und der »Satyren und Launen« der Versuch, mehr Käufer zu gewinnen? Ohne dabei das Profil zu verlieren?
     Wolfgang Jörg:
Das ist richtig. Wirtschaftliche Erwägungen standen im Vordergrund. Nach dem Motto »Das eine tun, ohne das andere zu lassen«, wollten wir mit den neuen Reihen die Einfachheit und Schnelligkeit moderner Verfahren – Fotosatz und
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Offset-Druck – nutzen, um zu billigeren und damit leichter verkäuflichen Büchern zu kommen. Die quadratische Reihe Werkdruck gibt sich bei einem Preis zwischen 28 und 38 Mark bescheiden: Halbleinen, Pappband. Nur die sorgfältig ausgesuchten, wenn auch schlichten, marmorierten Bezugspapiere sowie der faksimilierte, aufgeklebte Titel verraten den bibliophilen Geist, der hinter der Reihe steckt. Lag die Auflage des ersten Werkdrucks noch bei 900 Exemplaren, so wagten wir bei der nächsten schon 1 200 Exemplare. Nicht anders ist es bei den »Satyren und Launen«. Hier ist mittlerweile ein Raritätenkabinett zusammengekommen.
     Nennen Sie doch bitte einige Titel.
     Wolfgang Jörg:
Beispielsweise die »Acta des Königlichen Polizei-Präsidii zu Berlin, betreffend die Vermehrungen der Closets im Quergebäude Adalbert-Straße No. 74«. Oder: »Tropische Küche. Zebuhöcker, Elefantenfüße, Affenrücken, Junge Störche, Gulasch von Papageien, Antilopenkopf, Flußpferdfleisch u. a. Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche. Berlin 1911«. Sie sehen, es handelt sich in jedem Fall um historische Texte mit einem unmittelbaren Bezug zur Stadt Berlin. 16 Seiten. Ergänzt durch Original-Illustrationen. Eingebunden in zwei einfache Pappen. Und von jedem bezahlbar. 18 Mark kostet ein Buch.
     Wieviel Titel sind mittlerweile in der Reihe erschienen?
Wolfgang Jörg: Ich weiß es nicht genau. Vielleicht sechzig. Doch wir haben ja nicht nur historische Texte im Programm. Viele zeitgenössische Schriftsteller aus Ost – also schon vor der Wende – und West haben uns ihre Originaltexte zur Verfügung gestellt. Dazu gehörten Ernst Jandl, Sarah Kirsch, Peter Hacks, Günter Kunert, Fritz Rudolf Fries, Helga Königsdorf. Für viele DDR-Schriftsteller war unsere Werkstatt in der Prinzessinnenstraße 20 in Berlin-Kreuzberg eine bekannte Adresse in Westberlin.
     Ihre Werkstatt lag bis 1889 unmittelbar an der Mauer. Wie erlebten Sie die Wende?
     Wolfgang Jörg:
Das Jahr 1989 war ein sehr ereignisreiches. Wir, Ingrid Jörg und ich, mußten überlegen, wie es nach dem Tod von Erich Schönig weitergehen sollte. Veränderungen waren unabwendbar. Wir entschlossen uns, den Kreis der Handpressen-Künstler durch Gastillustratoren zu erweitern. Klaus Ensikat lieferte 1990 als erster Fremder seine grafischen Kunstwerke für die »Satyren und Launen« Nr. 39 ab.
     Und gehört seither zum Stamm der Handpresse. Wie auch Albrecht von Bodecker mit seinen skurrillen Figuren und Manfred Bofinger. Aber den haben Sie ja mit seinem großzügigen, kräftigen Strich auch in jeder Nummer Ihrer Zeitschrift.
     Das Gespräch führte Bernd Siegmund
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© Edition Luisenstadt, 1998
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